Harry Howard betrat die Bühne der Musikgeschichte im Jahr 1982, als er als Bassist bei den letzten Birthday Party-Konzerten einsprang. Stammbassist Tracy Pew saß da gerade im Knast wegen Trunkenheit am Steuer. In Rowland S. Howards folgenden Bands war Harry dann fixes Bandmitglied: zuerst bei Crime & The City Solution, danach bei These Immortal Souls und Shotgun Wedding, dem Kurzzeitprojekt mit Lydia Lunch. Harry Howard spielte in all diesen Bands aber als Bassist, der kaum an den Kompositionen mitwirkte, eher eine Nebenrolle. In der Filmdokumentation »Autoluminescent« (Regie: Richard Lowenstein/Lynn-Maree Milburn; 2011) beklagt er sich – genauso wie These Immortal Souls-Keyboarderin Genevieve McGuckin – über die mangelnden Bandleaderqualitäten von Rowland S. Howard, dem seinen Mitspielern gegenüber kaum je ein Wort des Lobes über die Lippen gekommen war. Im Gegensatz dazu verzichtete Harry Howard weitgehend auf exzessiven Drogenkonsum, schaffte es, ›clean‹ zu bleiben, und ging zurück nach Melbourne. Die beiden Brüder lebten sich auseinander.
In der Melbourner Band Pink Stainless Tail wechselte Harry Howard dann zur Gitarre. Dort offenbarte sich die stilistische Neuorientierung hin zum Sixties Garage Rock bzw. dessen Neuinterpretation in den Jahren des Post Punk, wie sie Bands wie Television, The Fall, die Blue Orchids und andere gepflegt haben.
Erst 2012, drei Jahre nach dem Tod des Bruders, erschien Harrys erstes eigenes Album »The Near Death Experience« auf dem Melbourner Garagen Rock-Label Spooky Records. Darauf zeigt sich sein wahres musikalisches Gesicht: Der Gesang schwankt zwischen einem lausbubenhaft-kehligen Timbre, der dem seines Bruders nicht unähnlich ist, und dem näselnden Sarkasmus eines Mark E. Smith. Die Stücke sind zurückhaltend produziert – minimalistische Songskelette, praktisch ohne Overdubs. Dadurch bewahren sich die Songs einen unprätentiösen Charme und eine zeitlose Eleganz, wie sie auch so manches Go Betweens-Album auszeichnen.
Ende Oktober 2013 folgte das zweite Album »Pretty« mit identischem Line-up, das – Widerspruch zum Albumtitel – nochmals eine Spur räudiger und sarkastischer klingt als das erste, dabei aber auch nicht mit guten Melodien geizt. Seine Backing-Band The Near Death Experience (The NDE) ist prominent besetzt: Die Rhythmusgruppe bildet das Ehepaar Clare Moore/Dave Graney, beide Gründungsmit- glieder der Moodists und seither umtriebige Fixsterne in der australischen Independent-Musikszene. Moores Schlagzeugstil ist ein minimalistischer und präzise auf dem Punkt gespielter Beat Marke Mo Tucker. Bassist Dave Graney kennt man hingegen eher als mit mehreren australischen Musikpreisen dekorierten Blues- und Country-Sänger: eine Art skurrilere, humorvollere Variante von Nick Cave, dem der Welterfolg zwar verwehrt geblieben war, für die Eroberung von Down Under hat es indes allemal gereicht. Zusammen lassen die beiden den Geist der Moodists aufleben – Trash-Rock-Pioniere der mittleren achtziger Jahre und Zeitgenossen von Birthday Party. Geprägt wird der Sound der NDE aber nicht zuletzt von der scharfkantigen Farfisa-Orgel von Edwina Preston, heute Howards Lebensgefährtin, mit der er auch ein paar schöne Duette singt.
–
skug: Warum heißt Ihre Band The Near Death Experience? Ich habe gelesen, dass Sie selbst schon einmal eine Nahtoderfahrung gehabt haben.
Harry Howard: Der Bandname hat eine etwas andere Bedeutung für mich, mehr im Sinne von ›sich dem Licht zuzubewegen‹. Meine eigene Nahtoderfahrung war konkreter: die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit und schließlich auch mit dem Tod meines Bruders.
Vor Ihrer eigenen Band haben Sie in mehreren Gruppen mitgespielt, in denen Sie nicht wirklich Einfluss auf das Songwriting hatten. Ist es Zufall, dass Sie erst nach Rowlands Tod Ihr eigenes Projekt gestartet haben, oder war es eine Reaktion auf diesen Verlust?
Vor Crime & The City Solution war ich schon in ein paar Garage-Bands involviert, die aber nie wirklich aus der Garage herauskamen. Ich spielte auch dort bereits zum Teil Gitarre, sang und komponierte Songs. Mein jetziges Projekt The Near Death Experience habe ich schon lange vor Rowlands Krankheit begonnen. Tatsächlich hat es sich verzögert, weil ich selbst schwer erkrankt bin. Als ich mich einigermaßen erholt hatte, hat es dann Rowland erwischt.
Wie ging die Metamorphose vom Bassisten zum Sänger/Songwriter vonstatten?
Ich habe immer wieder versucht zu komponieren. Ich glaube, die Wandlung kam, als ich mich ein paar Jahre lang mit meinem 4-Track-Recorder aufgenommen habe – ich arbeite langsam -, bis dann ein Stamm von Songs beisammen war.
Hatten Sie beim Start Ihrer Solokarriere ein Konzept im Kopf oder hat sich das eher intuitiv ergeben?
Die Songs, die ich für The NDE geschrieben habe, schienen selbst bereits eine Vorstellung davon zu haben, wie sie klingen wollten. Ich ließ es einfach passieren, wollte mich nicht selbst zu sehr auf meine früheren Erfahrungen beschränken und mehr meine eigene Persönlichkeit einbringen. Interessanterweise bekamen sie dann diesen Frühachtziger-Post-Punk-Charakter. Ich wollte, dass meine Sachen zugleich ernst, komisch, intensiv und cool klingen.
The Near Death Experience © Stefan Foster
Können Sie beschreiben, wie Ihre Texte zustande kommen?
Manche Songs kommen einfach aus dem Nichts und ich muss selbst erst ihre Bedeutung heraus- finden. Manchmal schreibe ich eine Zeile, frage mich, was sie bedeuten könnte, und probiere Dinge aus, bis sich etwas Songartiges daraus ergibt. Ich versuche diese Vorgänge so intuitiv wie möglich zu gestalten. Liebe und Hass in Beziehungen sind oft Grundthemen der Songs, oder besser Hass innerhalb der Grenzen der Liebe. Ich mag es nicht, wenn meine Texte zu ernst klingen. Es erscheint mir irgendwie unrealistisch und aufgeblasen, denn in jeder noch so schlimmen Situation steckt immer auch eine Prise Humor.
Können Sie von Ihren Platten und Auftritten leben oder haben Sie einen ›normalen‹ Job und leisten sich die Musik als Hobby?
Professionell, haha, schön wär’s! Nein, ich muss nebenher arbeiten, aber es ist für mich sowohl eine Leidenschaft als auch ein Hobby.
Einige Ihrer früheren Bandkollegen starben relativ jung, wobei der exzessive Drogen- konsum über viele Jahre hinweg wohl eine Rolle gespielt hat. Sie scheinen sich da eher zurückgehalten zu haben. War das eine bewusste Entscheidung?
Obwohl ich in meinen Teenagerjahren durchaus Lust auf bewusstseinserweiternde Erfahrungen hatte, fühlte ich mich nie wirklich zu Drogen hingezogen. Ich habe es aber schon durch den gelegentlichen Gebrauch geschafft, meine Gesundheit ziemlich zu ruinieren. Alles in allem war stoned zu sein aber nicht mein bevorzugter Geisteszustand.
Verfolgen Sie die aktuelle Musikszene in Melbourne? Wie ist sie im Vergleich zur Post Punk-Zeit der achtziger Jahre?
Im Ernst: ich bin erstaunt über die Musikszene in Melbourne. Insgesamt gibt es heute sicher genauso viele gute Bands wie in den achtziger Jahren. Ich habe viele der damaligen Bands gar nicht gemocht. Aber die Jugend kann grausam sein, nicht?
Harry Howard And The Near Death Experience: »Pretty« Spooky Rec./Undertow