Joann Sfar ist Multitalent und Arbeitstier zugleich. »Er zeichnet schneller als sein Schatten«, schwärmt seine Kollegin Marjane Satrapi, bekannt als Autorin des ebenfalls großartigen »Persepolis«. Und weiter: »Er entwickelt Geschichten mit einer Leichtigkeit als würde er ein Glas Wasser trinken.« Die Zahl der kleineren und größeren Comicserien, die er innerhalb weniger Jahre geschaffen oder zumindest mitverantwortet hat, ist beträchtlich. Von der mittlerweile mehr als 30-bändigen Abenteuerserie »Donjon« gemeinsam mit Lewis Trondheim und anderen Zeichnern, über das anarchische Schauerepos »Professor Bell« bis hin zu den gewitzten Auseinandersetzungen mit seinen jüdischen Wurzeln, vor allem in der Serie »Die Katze des Rabbiners« – und eben »Klezmer«, deren vierter Teil vergangenen Dezember erschienen ist – übrigens zeitgleich mit seiner Künstlerbiographie »Chagall in Russland«.
»Klezmer« ist ein Aquarellcomic, was, wie Sfar bemängelt, eine viel zu selten eingesetzte Technik im Bereich der Comics ist. Das Schemenhafte, Verwaschene der Aquarelltechnik passt perfekt zu Joann Sfars grundsätzlich skizzenhaftem Stil, der wenig Wert auf Perfektion legt. Ein Panel darf auch Zeichenfehler enthalten, darf mehr hingekritzelt als gezeichnet sein, wenn es der künstlerische Prozess verlangt. Auch die Farbgebung spielt eine wesentliche Rolle, von Sfar in erster Linie als Stimmungsbogen eingesetzt. Tatsächlich ist es essentiell, dass die Hauptfiguren durch spartanische Striche nur angedeutet werden, dass sie allenfalls auf eine Ikonenhaftigkeit reduziert werden.
Schon wieder eine Katze
Vom Ikonenhaften zum Stereotypen ist es oft nur ein Katzensprung. Dass Sfar in »Klezmer« mit jüdischen Stereotypen arbeitet, um durch die Ûberzeichnung und den überhöhten Kontext diese Stereotypen zu durchbrechen, merkt auch Jonas Engelmann in seinem Buch »Gerahmter Diskurs« an: »Sfar[macht] dem Leser diese Stereotypen bewusst, lässt sie zum Mittelpunkt der Geschichte und den Umgang der Protagonisten mit diesen Stereotypen zu einer Frage des Verhältnisses von Minderheiten zur Mehrheitsgesellschaft werden. Die Protagonisten in Klezmer sind alles, was man in ihnen sehen will: Kommunisten, Diebe, Musiker, Zionisten, Dämonen, Blutsauger, Kabbalisten, Helden, Opfer, Wanderer. Diese sind sich ihrer Zuschreibungen bewusst und spielen mit ihnen.«
In Einklang mit der skizzenhaften Ûberzeichnung steht der hastige, taumelartige Drive der Erzählung, der aus Klezmer ein überbordendes Märchen, ein Abenteuer macht, das genau das versprüht, worum es bei der Klezmer-Musik geht: um ein Lebensgefühl. Aber gerade das darf als Stereotyp hinterfragt werden. Kaum eine Klezmer-Musik, bei der nicht von »kraftvoller Hingabe« und »wilder Lebenskraft« die Rede ist, bei der nicht die unbändige Lust, das traditionelle und vielschichtige Liedgut neu zu interpretieren, als kreatives Schaffensprinzip beschworen wird, wodurch die Tradition gewissermaßen transzendiert oder zumindest neu verfugt wird.
In stillschweigendem Einklang mit diesem Idyll unbändiger Lebenskraft verklärt Sfar nach Strich und Faden. Klezmer spielt im Russland zu Zarenzeit. Im Zentrum steht der junge und rotzfreche Jaacov, der wegen eines Diebstahls aus seiner Jeschiva geworfen wird. Auf seiner Wanderschaft trifft er auf den streng gläubigen Juden Vincenzo. Gemeinsam retten sie dem Roma Tchokola das Leben, der von Bauern an einem Baum aufgeknüpft wurde, und landen in Odessa. Dort spielt man gemeinsam mit der bildhübsche Chava (»die schöne Jüdin«, noch so ein Klischee) für die Geburtstagsfeier der alten Jüdin Scylla, gerät in die Machenschaften von Waffenschmugglern, erfährt die erste Liebe – oder lernt gemeinsam zu musizieren.
Das gemeinsame Musizieren, die Klezmer-Tradtion generell, das ist bei Sfar keine Idylle, schon gar keine heilige Kuh. Der junge Jaccov selbst ist anfangs Dilettant, er beherrscht kaum ein paar Akkorde. Er klimpert mit umso mehr Begeisterung falsch mit – aber auch das gehört zur überdrehten Romantik, zum Lebensgefühl. Jenes entzieht sich ohnehin jeder nüchternen Beschreibung, geschweige denn, dass ein Studium am Konservatorium hier nützen würde. Ständig schnappen Jaccov und seine Gefährten Melodien auf, adaptieren sie, wandeln sie in eine »Bühnenshow« um, damit sie am Ende das kriegen, was sie eigentlich wollen: Erfolg, Reichtum, ewigen Ruhm – und wenn all das nicht geht, wenigstens Essen und ein Bett für eine Nacht. Aus dem profanen Wunsch nach Ruhm entsteht ein spiritueller Nachlass? Warum nicht!
Klezmermythos reloaded
Sfar ist weit davon entfernt, die Klezmer-Tradition mit Samthandschuhen anzufassen. Im Gegenteil, es menschelt auf profanste Weise, denn sein Blickwinkel ist eher humanistisch als jüdisch-traditionell. Und damit nebenbei weniger verklärend als bei so manchem Literaten. Man denke etwa an die kitschigen Familienbilder in den »Korrekturen« von Jonathan Franzen oder in »Alles ist erleuchtet« von Jonathan Safran Foer.
Dieser Aspekt ist einer der wenigen, der in Jonas Engelmanns Buch »Gerahmter Diskurs« unter den Tisch fällt. Aber der Fokus des Sfar-Artikels liegt dort auf der Analyse der jüdischen Stereotypen und Sfars kecken Umgang damit. Engelmann analysiert zugleich die Leerstellen, das Nicht-Anwesende. Das ist im Fall von »Klezmer« die Abwesenheit der Shoah. Engelmann: »Nicht die Identifizierung im Comic ist lustig, sondern die Dekonstruktion der Identifizierung.« Dort wo die Identifizierung versagt, wo sie leer oder weiß bleibt, verweist sie auf die Realität, »die sich in der Struktur der Gesellschaft eingenistet hat«, sie verweist auf »die nicht erzählte Vernichtung des osteuropäischen Judentums«. Diese dekonstruktivistische Interpretation ist ein zentrales Motiv in Engelmanns Analyse, aber es ist nicht der Kern dessen, was in »Klezmer« geschieht.
Sfar rekonstruiert nicht eine zerbrochene Idylle, um an den Scherbenrändern das Unausgesprochene anzudeuten, er bringt vielmehr einen Mythus (erneut) zum Laufen. Das ist das Grandiose an »Klezmer«, diese schelmische Anmaßung, mit der Sfar handelsübliche Verklärungen der Klezmer-Musik regelrecht überschreibt, um einen noch schöneren, wilderen, romantischeren Mythos einzusetzen. Dass ihm das für das Klezmer-Genre gelingt, ist bemerkenswert genug, aber dass er damit auch zeigt, wie vital, überbordend, anarchistisch und subjektiv Comic-Kunst sein kann – das ist das Meisterstück daran.
Plädoyer gegen die Erwartungen bürgerlicher Kultur
Jedoch soll das nicht als Kritik an Engelmann verstanden werden, der Fokus liegt dort woanders, vor allem beschränkt sich »Gerahmter Diskurs« nicht nur auf Sfar. Engelmann »zeigt anhand der Werke von Art Spiegelman, Marjane Satrapi, Charles Burns, Julie Doucet, Joann Sfar, David B. und anderen, wie aktuelle Independent-Comics über das Zusammenspiel von Inhalt und Ästhetik eine Gesellschaftsanalyse und -kritik zum Ausdruck bringen und sich mit Themen wie Rassismus, Krankheit und Religion auseinandersetzen.« Alleine die Auswahl zeigt, dass Engelmann sich die Crème de la Crème innovativer Comic-Kunst vorgenommen hat. Und dass auch noch ein »Plädoyer für die Loslösung des Comics von den Erwartungen bürgerlicher Kultur« inkludiert ist, beweist, dass Engelmann sein Analyseherz am rechten Fleck hat. Nämlich dort, wo die originäre Qualität von Comics ruht – und nicht dort, wo Comics zu bebilderter Literatur zurechtgestutzt werden.
Joann Sfar: »Klezmer 4: Trapezsprünge«
120 Seiten, vierfarbig, Softcover, EUR 19,95
Berlin, Dezember 2012
www.avant-verlag.de
Jonas Engelmann: »Gerahmter Diskurs. Gesellschaftsbilder im Independent-Comic«
450 Seiten, mit farbigen Abbildungen, EUR 24,90
Mainz, Mai 2013
www.ventil-verlag.de