All Fotos © Magdalena Blaszczuk
All Fotos © Magdalena Blaszczuk

Jenseits der Grenzen und Klischees

DJ Marcelle/Another Nice Mess beharrt des guten Klangs und der Tiefgründigkeit wegen auf Vinyl, kredenzt neben spektakulären DJ-Sets eklektische Internetradiosendungen sowie ihr drittes Album auf Klangbad, dessen Titel wiederum eine Würdigung von Dubschallplatten enthält.

Im Dezember 2008 kam die aus Maastricht stammende und in Amsterdam lebende DJ Marcelle/Another Nice Mess das erste Mal nach Österreich. Marcelle van Hoof, so ihr bürgerlicher Name, feierte ihre Österreich-Premiere damals im Salon skug im fluc am Praterstern. Von einem skug-Mitarbeiter, der gerade auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken war, wurde sie zu einer Schneekugelmanufaktur im 17. Bezirk geführt. DJ Marcelle/Another Nice Mess war begeistert: »Normalerweise bringen mich die Leute in Plattenläden oder verrauchte Clubs, aber sowas habe ich noch nie gesehen! Wunderbar!«

Am nächsten Abend konnte sie dann im Wiener rhiz ihre Geschmacksvielfalt demonstrieren und brachte das entrückte Publikum sogar dazu, Polonaise durch das gesamte Lokal zu tanzen. Inzwischen hat sich einiges getan: DJ Marcelle/Another Nice Mess beehrt mittlerweile regelmäßig das rhiz in Wien und die Stadtwerkstadt in Linz mit ihren stets unberechenbaren Auftritten. Außerdem ist sie regelmäßig zu Gast in der FM4-Sendung »Im Sumpf«. Der Appendix in ihrem Künstlernamen kommt von der Radioshow »Another Nice Mess«, die sie seit über zwanzig Jahren macht. Mittlerweile ist sie auf niederländischen, britischen, deutschen und österreichischen (Radio Fro) Sendern zu hören. Inspiration war ihr der legendäre britische Radio-Moderator und DJ John Peel. So wie er gestaltet sie ihre Radio-Show von zu hause aus, wo sie direkt auf ihr gewaltiges Schallplattenarchiv zugreifen kann.

Anfang Oktober 2012 veröffentlicht sie ihre dritte Doppel-LP auf dem deutschen Klangbad-Label: »Meets Further Soulmates At Faust Studio Deejay Laboratory«. skug hat sie dazu befragt.

skug: Wie verlief deine Sozialisation bezüglich Musik und Kultur?
DJ Marcelle:
Schon als Kind war ich sehr an Musik interessiert. Es gab immer neue Schallplatten zu Hause, die mein Vater und mein älterer Bruder kauften. Ich war damals ein Fan von Glam-Rock
(Mud, The Sweet, Slade usw.). Ein traumatisches Erlebnis trieb mich dann noch mehr in Richtung Musik: Als ich elf war starb mein Vater, drei Jahre später, 1977, meine Mutter. Ich war und bin auch an vielen anderen Kunstarten interessiert (Filme, Literatur, Moderne Kunst), aber Musik ging bei mir tiefer, vor allem nachdem ich keine Eltern mehr hatte. Ich fühlte mich als Teenager sehr einsam und fand Trost in Punkmusik. Wenn ich »What Do I Get?« von den Buzzcocks heutzutage höre oder selber spiele muss ich noch immer weinen. Punkplatten fand ich unglaublich spannend, diesen Lebensstil und die politisch »alternativen« Gedanken. Musikalisch waren die für mich eine große Erleichterung nach dem unglaublich langweiligen Bombast an Prog-Rock, Genesis, Yes, Stadionbands wie Rolling Stones usw. oder sehr schlechter Disco- Musik. Was ich an Punk aber vor allem mochte, war nicht in erster Linie die Musik (obwohl ich ein großer Fan von u. a. Buzzcocks, The Saints, The Adverts, Ramones war). Ich liebte diese abenteuerliche Energie, diese Frechheit. Aber Punk wurde sehr schnell dogmatisch, zu einem reinen Klischee und war ab 1979 für mich nicht mehr ernst zu nehmen. Darum waren für mich viele Post-Punkbands viel interessanter: The Fall, Wire, PIL (musikalisch viel spannender als die Sex Pistols!), Pop Group, ESG, Delta 5, Raincoats, Slits, Throbbing Gristle, Cabaret Voltaire, Gang Of 4, Mekons, weil die viel mehr experimentierten und anscheinend keine Grenzen kannten. Diese Bands wurden von Dub, Funk, Disco, Avantgarde, Free Jazz usw. beeinflusst und integrierten das in ihre Musik. Kreativität und Schöpfungsdrang waren wichtiger als ein bestimmter Stil oder technisches Können.

Dir ist dieses Gefühl von Freiheit und Widerständigkeit wichtig?
Dieses Gefühl von totaler Freiheit, von »alles geht und wir wollen dem Publikum voraus sein«, habe ich noch immer in mir, und mit diesem Gefühl lege ich auch auf. Ich möchte immer einen Schritt weiter sein als mein Publikum. Musik ist für mich viel mehr als nur Unterhaltung und Spaß. Es ist eine politische Lebenshaltung: Lass dich überraschen, stehe nicht still, sei unabhängig, versuche offen zu sein. Ich war auch unglaublich begeistert von den ersten Jungle-, Drum’n’Bass-, Techno-, Dubstep-Platten usw. Es ist aber schade, dass oft das Versprechen sowie der Sinn und Zweck dieser neuen Musikstile nicht zur Gänze erfüllt werden konnten. Vieles wurde und wird zu komfortabel. Ein Musikabend wird dann auf eine Art Ritual reduziert, eine Messe, wo alle Beteiligten (Musiker,DJs, Publikum) sich an ihre selbstauferlegten Regeln halten. Wenn ich z. B. bei einer Techno- oder Dubstep-Party bin, fällt mir regelmäßig auf, wie ähnlich sich viele Leute im Publikum bewegen und tanzen. Es ist fast militärisch! Ich bin gegen diese Gleichschaltung, versuche einen Individualismus zu prägen, der zum Denken herausfordert, aber doch immer spielerisch und tanzbar bleibt. Ich verbinde musikalische Welten miteinander. Es gibt kein »Tanzrezept« für meine Musik. Ich sehe bei meinem Publikum Fröhlichkeit und Ausgelassenheit, aber auch Verwirrung. Man kann bei mir nie erahnen, in welche Richtung sich das Set entwickelt.

Du hast ja früher viel journalistisch geschrieben. Wie wichtig sind die Texte in den Songs, die du auflegst?
Ja, ich habe als Journalistin gearbeitet, und ich schreibe noch immer gerne. Texte sind nur wichtig, wenn sie meine Fantasie stimulieren. Mark E. Smith von The Fall ist ein großer Favorit von mir, weil der sehr kryptisch formuliert – intelligent und mit Humor und Widersprüchen! Ich sehe die menschliche Stimme als ein Instrument, das nicht wichtiger ist als andere Instrumente. Ich mag es also nicht so, wenn Stimmen sehr laut in oder über Musik gemischt sind. Viele Tanzplatten sind rein instrumental, ich komponiere dann ab und zu selber »Texte« und Gesang dazu, wenn ich z. B. das Vogelgezwitscher als Gesang benutze oder fanatische religiöse Aussagen, wie auf meiner neuen Platte.

Ist das ständige Reisen für dich künstlerisch belebend oder meist einfach nur anstrengend?
Ich liebe das viele Reisen. Ich lese dabei sehr gerne, kontempliere und genieße die Aussicht, wenn ich im Zug reise. Ich schätze die Inspiration von anderen Städten, Landschaften, Menschen. Es haben sich viele Freundschaften an vielen Orten in Europa entwickelt, die für mich weiter gehen als nur das geteilte Interesse an Musik. Nur das Schleppen der Schallplatten ist ab und zu anstrengend. Heimweh habe ich fast nie, nur meine Geliebte vermisse ich immer. Man fühlt sich daheim, dort wo man verstanden wird.

Was hast du für ästhetische Ansprüche, du legst live ja nur mit Vinyl auf ??
marcelle_1.jpgÄsthetik ist sehr wichtig für mich. Alle Hüllen von meinen Platten sind ähnlich gestaltet. Sie haben nur eine andere Farbe und ein anderes Foto aus der sogenannten »female DJ laboratory«-Serie. Das Platten-Cover, das Label, die D.I.Y.-Haltung, das alles ist mir sehr wichtig. Wenn ich live auftrete, habe ich immer farbiges Dekor dabei, mit Tischdecken, Plastik-Blümchen und andere Sachen, die ich vielleicht auf einem Flohmarkt am Nachmittag gekauft habe. So fand ich in Lissabon eine sehr tolle DJ-Ente (mit Kopfhörern!), die leider später bei einem Auftritt in Wien gestohlen wurde. Dass ich live nur Vinyl verwende, gehört auch zu dieser Ästhetik. Der Klang ist einfach besser. Handarbeit ist mir wichtig. Ich finde, dass das, was man nicht anfassen kann, man auch nicht richtig verstehen oder lieben kann! Ich will mich auch körperlich verausgaben, und deshalb bin ich ziemlich erschöpft am Ende von einem Auftritt. Ich wechsle dauernd Schallplatten, laufe hin und her, tanze mit, suche fast hysterisch in meiner Plattentasche. Nach meinem Auftritt sind die meisten Vinylscheiben noch nicht oder in der falschen Hülle! Wenn man nur so rum steht mit einem Rechner ist das doch total langweilig, oder? Ich habe noch nie zweimal den gleichen Set gespielt. Ab und zu kann ich eine bestimmte Platte nicht finden, und dann entscheide ich mich auf der Stelle für eine andere Mischung und damit für das Risiko, dass es schiefgehen kann. Aber ich denke, ich bin am besten, wenn diese Spannung da ist. Ein Abend soll diese Unsicherheit haben. Intensität, Notwendigkeit und Tiefgründigkeit sind für mich essentiell. Das Publikum kann sich auch gestört fühlen, wenn mein Set sich plötzlich in eine andere Richtung als die erhoffte oder erwartete entwickelt. Aber wenn man solche Momente durchhält, nicht wegläuft, dann wird man zehn Minuten später wieder »belohnt«. Ab und zu fragen Leute, die mich nicht kennen, welche Musik es an diesem Abend gibt. Ich sage dann: »Die Musik heute heißt ??offene Ohren??«.

Es wird ja gerade auch von einem Berliner Filmemacher an einer Filmdokumentation über dein Leben gearbeitet. Wie weit ist der Stand der Dinge, wann wird er veröffentlicht?
Es gibt einen Kurzdokumentarfilm zu meiner aktuellen Platte, gemacht von Ben Mergelsberg, einem sehr talentierten jungen Filmemacher. Der Plan ist darüber hinaus, dass bei der nächsten Platte ein langer Dokumentarfilm veröffentlicht wird. Was abseits von Musik inspiriert dich noch? Ich trenne Musik nicht von anderen Sachen in meinem Leben. Alles gehört zusammen, zu meiner Persönlichkeit. Ich mag Filme, lese viel, bin an Politik, Geschichte, Philosophie, Psychologie interessiert. Ich bin sehr beeinflusst von Kunstströmungen wie Dada und Fluxus und dem Humor von Monty Python. Sie zeigten durch ?bertreibung und Umdrehung, wie absurd das Leben ist, wie lächerlich oft Autoritäten sind, wie komisch unsere alltäglichen Gespräche eigentlich sind. Ich liebe auch Flohmärkte, nicht weil ich unbedingt etwas kaufen will, aber weil man da auch nicht vorhersehen kann, was man so sieht und entdeckt. Diese Atmosphäre liebe ich total. Auch die Philosophie, dass Sachen nicht einfach weggeschmissen werden, sondern neue Verwendung finden, unterstütze ich gerne. Eigentlich kaufe ich meistens doch etwas auf Flohmärkten (Klamotten, Plastik-Design, Ringe, Bücher, Platten usw.).

Kannst du kurz dein musikalisches Side-Projekt, gemeinsam mit einem Impro-Musiker, erklären?
Holger Mertin aus Köln hat mich mal live gesehen und wollte unbedingt Musik mit mir machen. Wenn wir nun zusammenspielen, dann ist das reine Improvisation. Er ist nicht einfach ein Percussionist, der mit einem DJ mittrommelt, nein, wir sind gleichberechtigt. Wir nennen uns Fodderstompf, nach dem Public Image-Klassiker von ihrer ersten LP aus 1978. Ich finde es toll, dass sich regelmäßig Leute aus ganz anderen musikalischen Welten bei mir melden. Ich habe z. B. schon mit zeitgenössischen Tänzern, einem Trompeter von Jimi Tenor und einem weiblichen HipHop-MC zusammengearbeitet. Und mein Plattenlabel Klangbad gehört ja Hans-Joachim Irmler von der Band Faust. Er steht normalerweise nicht so auf DJs, aber er hat gemeint, dass er mich mehr als eine Musikerin sieht. Eigentlich hat er gesagt, dass er mich vor allem als Schwimmerin wahrnimmt, weil ich immer meinen Bikini dabei habe und gerne überall ins Wasser gehe! (lacht).

Mit welchen Musikern würdest du noch gerne zusammenarbeiten?
Ich finde Elektro Guzzi ganz toll, wir mögen uns nicht nur musikalisch, sondern auch persönlich sehr. Es wäre schön und eine Herausforderung, wenn ich mal live mit ihnen Musik machen könnte! Auf meiner neue Platte habe ich ein Elektro Guzzi- Stück gepitcht und zusammengemischt mit Affen, einer Ambient-Platte, einem Tonträger worauf man nur die Zerstörung von Tellern und Gläser und so hört. Und dazu dann noch einen afrikanischen Sänger!

Wie hast du John Peel kennengelernt? Kannst du kurz über eure Gemeinsamkeiten und größten Unterschiede als Radio-DJs sprechen?
Ich hörte mir Ende der siebziger Jahre immer seine Sendungen an und war ein sehr großer Fan, nicht nur von seiner musikalischen Auswahl, sondern auch von seiner lustigen Art zu moderieren. Ich habe ihn Anfang der achtziger Jahre in den Niederlanden dann persönlich kennengelernt, als er auf dem Pinkpop Festival aufgelegt hat. Ich hatte ihn einfach in seinem Hotel angerufen und danach entstand eine wunderbare Freundschaft. Ich habe dann die Jahre danach viel Zeit mit ihm und seiner Frau verbracht. Gemeinsam ist uns beiden die unerschöpfliche Neugier nach neuer Musik aller Stilrichtungen. Ich höre mir noch immer jede Woche viele neue, unbekannte Schallplatten an. Auch teilten wir einen ironischen Blick auf das Verhalten von sich zu ernst nehmenden Musikern und DJs. Ein großer Unterschied ist natürlich, dass er sozusagen eine Musikinstitution war, die das Leben von tausenden Leute auf der ganzen Welt verändert hat, weil er immer als Erster neue, unbekannte Musik von jungen Musikern spielte. Vom Geschmack her würde ich sagen, dass er mehr auf traditionellen »(Indie)Rock« stand als ich. Ich stehe im Unterschied zu ihm mehr auf Avantgardemusik.

Wo liegen für dich generell die wichtigsten Unterschiede zwischen einem Radio-DJ und einem Club-DJ?
Generall fühlen sich die meisten DJs als »Dienstleister «. Sie wollen dem Publikum geben, was es hören will, was es erwartet. Ich bin keine reine Dienstleisterin, ich mache meine eigene »Kunst« auf der Bühne. Wenn du das Publikum einscheiden lässt, was zu passieren hat, dann entwickelst du dich als Künstlerin nicht weiter. In meinen Radiosendungen lege ich neueste Schallplatten auf und moderiere dazu, gebe Informationen, teile mein Wissen. Ich habe mittlerweile eine Sammlung von vermutlich 15.000 Schallplatten. Es ist eine Art von historischer und gegenwärtiger Underground- Musikbibliothek, und daraus lässt sich natürlich auch viel in meiner Radiosendung verwenden. Die Zuhörer können sich auch etwas wünschen oder fragen, und dann spiele ich die Platte, wenn ich sie finden kann. Live in Clubs mag ich Wünsche überhaupt nicht, das mache ich fast nie. Da fühle ich mich tatsächlich wie eine Musikerin, die einfach ihr »Ding« macht: Die Schallplatten und Plattenspieler sind meine Instrumente. Und ohne Fantasie und auch Humor, Selbstbestimmung und Selbstironie geht da nichts!

Wie wählst du die Platten aus die Du verwendest?
Ich höre mir unglaublich viel Musik an, am liebsten in Plattenläden; es ist mir wichtig die zu unterstützen. Es stört mich, wenn Leute aus meiner Generation sagen, dass früher alles besser war. Unsinn! Wenn man neugierig ist und offen für Unbekanntes, findet man immer total aufregende Musik. In den neunziger Jahren hörte ich zum ersten Mal Platten von dem HipHop-Label Wordsound oder die Platten von Moonshake und Laika und war total begeistert. Oder Venetian Snares, der 2005 auf der Doppel-LP »Rossz Csillag Alatt Született« klassische Musik und Breakcore zusammengefügthat. Das war einzigartig! Labels wie Warp, Dekorder und Planet Mu sind oft inspirierend. Relativ neue Labels wie Hessle Audio und Hemlock bringen heutzutage die elektronische Tanzmusik wieder weiter. Black Dice ist eine meiner Favourite Bands. Die Künstler auf meinen eigenen Platten kenne ich großteils persönlich oder sie stehen mir wegen ihrer Arbeitsweise nahe. Darum immer die Bezeichnung Soulmates im Titel meiner Platten.

Woher kommt das starke Interesse an afrikanischer Musik?
Ich liebe einfach die Rhythmen von vielen afrikanischen Platten, die zwingen mich einfach zur Bewegung! Es gibt oft auch andere, spannende Instrumente und die Verwendung davon ist für mich oft eine musikalische Bereicherung. Afrikanische Platten können sehr roh und sehr tanzbar zugleich sein! Das mag ich. Man muss aber aufpassen: Wenn ein afrikanischer Tonträger in einem europäischen oder amerikanischen Studio aufgenommen wurde, dann sind zu oft diese fürchterlichen Synthesizer dabei, dann wird’s plötzlich glatt. Dub hat mich am stärksten beeinflusst, das Experimentieren mit Klängen, Tönen, Geschwindigkeit, Geräuschen und sehr lautem Bass! Das Mischpult als Instrument! Auch hat Dub sehr viel Raum im Klang und eine Art von Reduziertheit, die mir gefällt. Die Titel von meinen eigenen Platten sind Hommagen an die zahlreichen Dub-Schallplatten, die ich vor allem in den späten Siebzigern und Achtzigern gekauft habe, so zum Beispiel »Rockers Meets King Tubby In A Fire House«.

Du verwendest ja auch viele experimentelle, geräuschhafte Passagen, die gespielte Tanzmusik als eine Art urbanen Soundtrack erscheinen lassen. Wie könnte Tanzmusik ohne bzw. jenseits von Beats funktionieren? Oder müssen die fürs Tanzen dabeisein?
djm.jpgIm rhiz in Wien habe ich einmal, da das Publikum am Ende meines Sets so begeistert, durcheinander und »verrückt« war, als Zugabe nur Platten mit Froschklängen, Vogelgezwitscher, Dampflokomotiven und Delfingesang aufgelegt, und die Lokalgäste haben auch dazu getanzt! Wenn man sich frei fühlt, geht viel! Es ist meine »Mission«, diese Annahmen, worauf man tanzen kann und worauf nicht, zu durchbrechen. Seit zwei Jahren lege ich mit drei Plattenspielern auf, weil mir das noch mehr Freiheit verschafft. Ich komponiere sozusagen mit Schallplatten. Auf einem Teller liegt der Beat, den ich fast immer pitche, und auf einem anderen Plattenspieler läuft dann z. B. eine afrikanische Stimme und auf dem dritten Turntable eine Platte mit Dampflokgeräusch. Wenn sich das alles mischt, entsteht aus verschiedenen Welten etwas Neues. Ich verführe Leute, die z. B. nur auf Techno stehen, mit afrikanischer Musik, wenn ich während einem Technostück zuerst nur eine afrikanische Stimme und dann später einen afrikanischen Beat reinlasse. Sie tanzen dann weiter auf ganz andere Musik. Und legen dabei ihre Vorurteile ab. Das zu erleben ist toll! Mir ist der Kontext unglaublich wichtig. Ich bin überzeugt davon, dass jeder einzelne Musikstil besser klingt, wenn man ihn gegen den Track eines anderen Stils spielt. Wenn das gut läuft, entsteht eine Art von Euphorie, ein Gefühl von Ausgelassenheit im Club: Freiheit, keine Schubladen! Wenn man das fühlt, geht Tanzen nur zu Klängen auch!

Du bist ja mittlerweile fast sowas wie ein »Austrian Resident«-DJ. Du hast nicht nur in Wien Residencies. Wie kam es dazu? Woher glaubst du, kommt das starke Interesse an Deiner Musikauswahl hier in Ûsterreich?
Das Schöne in Ûsterreich ist, dass ich nicht nur wegen meines Tanzsets geschätzt werde, sondern auch zu experimentelleren Veranstaltungen wie dem Music Unlimited Festival in Wels oder dem Donaufestival in Krems eingeladen wurde, wo ich dieses Jahr in einer Galerie abstrakte Musik aufgelegt habe. Am Ende hat man da dann doch wieder getanzt! Ich habe weiters das Glück, dass einige Ûsterreicher an mich glauben, wie etwa Fritz Ostermayer von der FM4-Radiosendung »Im Sumpf«, wo ich des Ûfteren zu Gast war. Ebenso schätzt die Stadtwerkstatt in Linz mein Werk. Und auch in Deutschland bin ich an einigen Orten Resident. Das ist ein schönes Gefühl, wenn mein ganz eigener Stil so geschätzt wird.

dj marcelle/another nice album release from Wrangelfilm on Vimeo.

Gerade ist deine dritte Vinylscheibe auf dem Klangbad-Label erschienen. Wie unterscheidet sich diese Platte von jener aus 2010?
Die Herangehensweisen und Arbeitsweisen sind ähnlich: vier Vinylseiten, also vier Mixe von ungefähr zwanzig Minuten. Ich würde sagen, dass diese neue Platte noch detaillierter ist als die zwei anderen. Ich verwende noch mehr Platten (ungefähr 60), dauernd laufen drei oder sogar vier simultan. Ganz aktuelle elektronische Tanzplatten, Left-field Techno, Dubstep, experimenteller dubby HipHop aus Wien (Original- Low-Fi), Dancehall, Breakcore, Gitarrenmusik aus der Sahel-Zone, Dub, Musik aus Surinam (eine frühere Kolonie der Niederlande), neue äthiopische Tanzmusik und andere schwerer zu kategorisierende Musik geht da zusammen mit u. a.chinesischen Instrumenten, einer Yogaübung, zerstörende Klänge von Maler Karel Appel, Affen, Noise, Glocken aus der DDR und der am wenigsten talentierten Opernsängerin der Welt! Ich denke, dass man jedes Mal, wenn man die Mixe spielt, neue Details entdeckt. Es ist eine Platte zum Tanzen und zum Analysieren, zum Ausgelassensein und zum Reflektieren.

Interessant finde ich die Titelgebungen der unterschiedlichen Mixe. Ist das ironisch gemeint, dass sich die einzelnen Mixe – meiner Empfindung nach – in ihrer grundsätzlichen Herangehensweise deiner speziellen Genre-Mixtur und in ihrer doch eher aufwühlenden (im positiven Sinne, also anregenden, aufweckenden etc.) Grundstimmung nicht wesentlich unterscheiden, aber doch aufgrund ihrer Titel »Entertaining«, »Contemplative«, »Optimistic« und »Refreshing« anderes vermuten lassen?
Humor und Ernst laufen bei mir durcheinander. Die Mixe haben schon alle ein übergeordnetes Thema, aber das hört man nicht so total deutlich. Fantasie ist wichtig! Es sind vier kleine Geschichten, mit einem Anfang und einem Ende. Da zeigt sich auch mein journalistischer Hintergrund. »The Refreshing Mix« z. B. hat als Thema eine Yogaübung, die der Zuhörer durch den Mix erfährt. Da fühlt man sich (hoffentlich) ganz erfrischt am Ende! Auf einer anderen Seite habe ich meinen Hamster reingemischt, weil er erstaunlicherweise sehr gut den Klang von einem Huhn imitieren kann! Dieser Mix mit dem Hamstergastauftritt heißt dann »The Entertaining Mix«.

Ich finde alle vier Mixe spiegeln gut diese urbane, interkulturelle Aufgewühltheit, diese geschäftige Unruhe, die doch viele Menschen in Großstädten zeigen, sehr gut wider. Außerdem hört man eine gewisse punkige »roughness« heraus …
Ich liebe Großstädte. Und ja, ich würde sagen, meine Mischung zeigt diese geschäftige Unruhe, diese Mixtur unterschiedlichster Kulturen. Ich lebe einfach so, höre überall die unterschiedlichsten Klänge! Ich bin ein sehr sensibler Mensch, fühle dauernd starke Emotionswechsel in mir: froh, glücklich, einsam, verwirrt, träumerisch, verliebt, böse usw. Das spiegelt sich auch in meinem Mix, er ist eine Reise durch die Welt, nicht nur musikalisch, aber auch durch die Welt meiner Emotionen und Stimmungen. Darum kann und soll es auch nicht zu glatt sein. Ich versuche – für mich oft langweilige – DJ-Klischees zu vermeiden. Die DJ-Welt ist vor allem eine Männerwelt, und leider sind die oft zu viel auf Technik und eindimensionales Mixen fixiert: kalt, distanziert, cool, machohaft. Ich habe meinen ganz eigenen Stil entwickelt, wo es nicht nur um fließende, ineinandergemischte Beats geht, sondern wo Stilwechsel und ?berraschungen genau so wichtig sind, wenn nicht sogar wichtiger. Das Leben ist überhaupt nicht perfekt, meine Kunst reflektiert das. Es hört sich ab und zu vielleicht lustig an, was ich mache, aber dahinter stehen komplizierte Mixprozesse! Die Suche nach Freiheit und ?berraschung ist nicht immer einfach, macht mir aber doch unglaublich viel Spaß!

Diskografie
»DJ Marcelle/Another Nice Mess Meets Her Soulmates At Faust Studio Deejay Laboratory«
(2008, Doppelvinyl, Klangbad).
»DJ Marcelle/Another Nice Mess Meets More Soulmates At Faust Studio Deejay Laboratory«
(2010, Doppel Vinyl, Klangbad)
»DJ Marcelle/Another Nice Mess Meets Further Soulmates At Faust Studio Deejay Laboratory«
(2012, Doppelvinyl, Klangbad) 

Radiosendungen
Jeden Dienstag live von 20-22 Uhr auf DFM in Amsterdam: www.dfm.nu
(Wiederholung Donnerstagnacht, Radio Fro Linz: www.fro.at von 0-2 Uhr)

Jeden Monat drei Stunden auf dem Londoner Dandelion Radio: www.dandelionradio.com

Jeden ersten Mittwoch im Monat Sendung auf FSK Hamburg (auf Deutsch) von 23-1 Uhr.
(Wiederholung: zweiter Samstag/Monat, Radio Fro 20-22 Uhr)

DJ Marcelle/Another Nice Mess on Tour
18.01.2013: Kunstmuseum Basel / Venue Elaine, Museum für Gegenwartskunst @ Basel, CH
19.01.2013: Rhiz @ Vienna, AT
25.01.2013: Stadtwerkstatt @ Linz, AT
26.01.2013: Nekapri Innart @ Bratislava, SK
01.02.2013: Helsinki @ Zürich, CH
02.02.2013: Palace @ St. Gallen, CH

Home / Musik / Artikel

Text
Michael Franz Woels

Veröffentlichung
04.12.2012

Schlagwörter



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