Christoph Schlingensief war ein Gesamtkünstler, wie er im Buche steht. 1960 in Oberhausen als einziges Kind seiner beiden Eltern geboren, wurden schon die beiden Grundthemen für sein späteres Werden und Werken gesetzt. Bei keinem anderen ist die polarisierende Hassliebe zu seiner deutschen Herkunft so ambivalent und doch so eindeutig wie bei Schlingensief. Genauso die distanziert-bizarre Beziehung zu seinen Eltern, die ihn zumindest genauso antrieb und bewegte wie seine Nationalität. Zumindest treten diese beiden Aspekte in Bettina Böhlers 2020 erschienenem Streifen »Schlingensief – in das Schweigen hineinschreien« am bezeichnendsten hervor. Der Film, der eigentlich schon im Oktober 2020 bei der Viennale seine Österreich-Premiere feierte und im November die österreichischen Kinos erobern sollte, gibt damit nicht nur einen großartigen Überblick über ein Schaffen, das sich in Sparten nur schwer zuordnen ließe. Vielmehr ist er ein liebevolles Denkmal für einen Künstler, der das Leben wie kein anderer zelebrierte und 2010 nur 49-jährig viel zu früh durch eine Lungenkrebserkrankung aus ebendiesem gerissen wurde.
»Was ist die Lust am Leben?«
Folgt man in dieser Frage Schlingensiefs Erklärungen, dann ist die Lust am Leben »[…] natürlich, dass ich nicht dem entspreche, was ich sein muss.« Sondern: »Wer kann mir die Spannung geben, zu sagen, das kannst du nicht sein, und dann kann ich sagen, doch, ich kann das aber sein, ich kann es probieren!« Dieses aus einem der zahlreichen im Film verwendeten Interviews stammende Zitat enthält im Succus das, was sich durch alle Aktionen, Filme und Theaterwerke Schlingensiefs wie ein roter Faden zu ziehen scheint: Sein unermüdlicher Kampf, etwas zu erzeugen, das noch nicht ist, nicht sein kann und vor allem (gesellschaftlich-normativ) nicht sein soll. Der Grund, warum viele seiner sehr explizit Deutschland in die Mangel nehmenden Filme wie »Das deutsche Kettensägenmassaker« (1990) oder »Terror 2000 – Intensivstation Deutschland« (1992) somit medial als Provokation und Polarisierung abgestempelt wurden, wirft ein gutes Bild zurück auf die Gesellschaft, die Schlingensief ja zu spiegeln versuchte. So sei Hitler seit 1945 leider nicht genug abgenutzt worden, wie er selbst beschrieb, was auch erklärt, wieso die von ihm oft benützten Führer-Sujets dann doch noch als faschistoid verdreht und missverstanden wurden.
Besonders absurd wurde es hier, als Schlingensief 2000 mit seiner Aktion »Ausländer raus! Schlingensiefs Container« im Rahmen der Wiener Festwochen die gerade frisch eingeschlagene fremdenfeindliche Richtung des österreichischen Parlaments im Big-Brother-Style zur Rechenschaft zog. Die über mehrere Tage laufende Aktion, die unter dem weiteren Übertitel »Bitte liebt Österreich« lief, wurde nämlich gerade von deutscher Seite überbordend gelobt, während ähnliche Aktionen im eigenen Land als faschistische Provokationen rezipiert worden waren, was ein ziemlich absurder Fehlschluss ist. Die Schlingensief’sche Form der Auseinandersetzung mit der Realität seiner Zeit zeugt somit von einer haarscharfen Intuition, die Gesellschaft immer dort zu treffen, wo es weh tut.
»Die Realität ist die Inszenierung«
»Es ist total interessant, wie sehr ’ne abstrakte Situation die Leute so unglaublich auf die Palme bringt, im Gegensatz zur Realität, und warum sie nicht zulassen können, dass sie sich eben dem aussetzen, dass sie sagen: Hier wird jetzt mal eben nicht kontrolliert, ich lasse das einfach mal als Zustand auf mich wirken, so wie wenn man in ’ne Badewanne steigt und sich auch nicht fragt, ob da jetzt als erstes in den Füßen Entspannung eintritt und dann oben, und man dann nochmal über den Wasserhahn spricht und sowas, sondern dass man einsteigt und es einfach mal geschehen lässt.« Es ist ein Faszinosum bei Christoph Schlingensief, wie genau er die Mechanismen seiner Inszenierungen durchleuchtete, wo sie – sei es jetzt im Film oder im Theater– dann doch oft wie ein überbordend lauter und makabrer Zirkus wirken können. In letzter Instanz war Schlingensief wohl vor allem der beste Kenner seiner Mitmenschen und der Mechanismen, die sie Nietzscheanisch gesprochen erst so »menschlich, allzu menschlich« machten.
Es ist deshalb umso bewegender und eindrucksvoller, dass Bettina Böhler ihren Protagonisten in ihrer geschickten Montage aus unendlich scheinendem Archivmaterial selbst seine Ideen und Geschichten erzählen lässt. Und das, ohne dabei in irgendeiner Weise erklärend-inszenierend zu sein. Wie in dem letzten Zitat beschrieben, kann man sich in Böhlers Film wie in eine Badewanne legen und die Vielschichtigkeit der Arbeit dieses Ausnahmekünstlers einfach auf sich wirken lassen. Und zwar ohne dabei zu versuchen, sich an etwas zu klammern. Man wird dennoch merken, dass es einen bis zum Ende der zweistündigen Dokumentation immer wieder in der Hand kitzelt und man sich das eine oder andere Zitat des druckreif redenden Schlingensief am liebsten sofort in seine Aphorismensammlung schreiben möchte. Das allerdings würde Schlingensief selbst natürlich dementieren, wo er doch mit all seiner Kunst stets dafür einstand, Gedanken zu schaffen und keine Meinungen.
Das bunte und vor allem in höchstem Grade humoristische Porträt des Filme- und Theatermachers läuft am 2. Juli 2021 in den österreichischen Kinos an.