»Opus Pistorum« ist eine 350 Seiten lange Schweinerei von Henry Miller. Das Buch erzählt Sex. Es geht um Geschlechtsverkehr. Und zwar explizit pornografisch. Ein krasses und auf Dauer auch ziemlich ödes Buch. Verfasst wurde es im Paris der 1920er. Das Album »Rausch« ist Helene Fischers »Opus Piscatoris«. Es erzählt von Sex in den 2020er-Jahren. Allerdings liegen die sprachlichen Dinge im Schlagerkosmos von Helene Fischer anders als bei Henry Miller. Miller schreibt sein Ich-Erzähler-Hetero-Potenz-Gegockel in einer Art pornografischem Realismus. Die Helene-Fischer-Tracks dagegen beschreiben Sex immer in einem Overkill aus doppeldeutigen Anspielungen und schillernden Metaphern. Beispielsweise in ihrem Hit »Vamos a Marte«:
Wir schau’n uns an, ein bisschen zu lang
Und irgendwann wird aus dei’m Blick ein »Vamos a bailar, bebé«
Was du meinst, kann ich in deinen Augen seh’n, Augen seh’n
Da knistert es. Er sagt, gehen wir tanzen (»Vamos a bailar«). Er meint aber ganz offensichtlich etwas anderes. Und was das ist, das kann das lyrische Ich Helene Fischers in seinen Augen sehen. Und dann geht es so weiter:
Und wir tanzen erst ganz langsam, dann kommst du mir nah
Fühlt sich an wie tausend Grad
Zwischen uns nur Millimeter, ich hab’ keine Wahl
Ich folge dei’m Signal, oh
Langsam tanzen, ganz nah kommen, tausend Grad, zwischen uns nur Millimeter und dann folgt sie sei’m »Signal«. Man will ja nicht der immer alles als sexuell doppeldeutig missinterpretierende Charlie aus der ZDF »Sketch History« sein, es könnte ja auch einfach ums Tanzen gehen. Aber dann passiert Folgendes:
Vamos a Marte, wir sprechen eine Sprache
Du spürst, was ich sagе
Du liest meinen Körpеr, keine Wörter
Könn’n beschreiben, was ich mit dir fühl’
Der Körper als Text, der in einer Sprache ohne Worte gelesen wird. Keine Worte können beschreiben, was sie mit ihm fühlt. Henry Miller wäre sicher anderer Ansicht, aber eventuell liegt das Grandiose Helene Fischers ja gerade in dieser Esoterisierung von Sex: Eine Sprache ohne Worte. Dann wird es ziemlich explizit, was Fischer und ihr Duettpartner Luis Fonsi beschreiben:
Der Mond ist unsere Sonne (Ojalá que este ritmo no pare = Ich hoffe dieser Rhythmus hört nicht auf)
Ich verlier’ die Kontrolle (Que la luna nunca se apague = Möge der Mond immer leuchten)
Mhh, yeah-yeah (Esto que sentimo’ no se acabe = Das, was ich fühle, endet nicht)
Ich spür’ deinen Atem, ich kann nicht mehr warten, Vamos a Marte
Nacht, Rhythmus, Kontrollverlust, Stöhnen (»Mhh, yeah-yeah«), Atem spüren, nicht mehr warten, Duett Mann/Frau. Mehr Sex geht kaum. Der Mars (»Marte«) steht dann wohl für den Höhepunkt. Und egal, wer die Texte verfasst hat, sie funktionieren fast auf jedem Track von Helene Fischers »Rausch« so. Etwa in »Wenn alles durchdreht«:
Ich spür’, wie all meine Sinne zu einem Punkt geh’n
Wie der Taumel um mich beginnt stillzusteh’n
Oder in »Null auf Hundert«:
Und ich weiß, dass du das Gleiche fühlst wie ich
Wenn die Euphorie durch dеine Adern schießt
Wеil der Augenblick jetzt alles für uns ist
Jeder Pulsschlag, null auf hundert
Und auf einmal steht die Welt kurz still
Und der Himmel bricht auf
Komm, wir dreh’n richtig auf
In »Liebe ist ein Tanz« erklärt Fischer ihre Metapher schon im Liedtitel. Und endlich benutzt sie auch die traditionelle Kernmetapher des deutschen Schlagers für sexuelle Erregung: das »Feuer«.
Liebe ist ein Tanz, komm, tanz’ mit mir
Liebe ist ein Tanz, ich will dich bei mir spüren
Liebe ist ein Tanz, komm, tanz’ mit mir
Liebe ist ein Tanz, sich in Beat ganz verlier’n
Geh’ ich vor, gehst du zurück
Doch so nah mit jеdem Schritt
Dieses Fеuer hält uns wach
Tanz mit mir die ganze Nacht
Und worum geht es wohl in Titeln wie »Hand in Hand«, »Rausch«, »Blitz«, »Wir werden eins«, »Glückwärts«, »Alles von mir« oder »Jetzt oder nie«? Aber bei aller sexuellen Anspielung sind die Lyrics stets auf biedere Weise darum bemüht, dass man sie auch ganz harmlos deuten könnte. »Ach, die tanzen doch nur« oder »die freuen sich halt«. Der letzte Tick zur Eindeutigkeit fehlt immer.
Zwischen Schelmenstück und Ernsthaftigkeit
Fischer steht in der Tradition des Deutschen Schlagers, in dem die Sexmetapher und die sexuelle Anspielung schon immer eine große Rolle gespielt haben. Das beginnt schon in den 1920ern und 1930ern. Etwa mit solchen Hits wie das von Gustav Gründgens im Film »Tanz auf dem Vulkan« gesungene »Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da«:
Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da
Die Nacht ist da, daß was gescheh’.
Ein Schiff ist nicht nur für den Hafen da,
Es muß hinaus, hinaus auf hohe See!
Berauscht euch, Freunde, trinkt und liebt und lacht
Und lebt den schönsten Augenblick,
Die Nacht, die man in einem Rausch verbracht,
Bedeutet Seligkeit und Glück!
Da ist schon alles da, was man bei Helene Fischer auch findet. Die Nacht, es muss etwas geschehen; eine krude Metapher für Geschlechtsorgane: »Schiff« und »Hafen«; eine Anspielung auf den Orgasmus als »schönsten Augenblick« und auf Sex als »Rausch«. Man beachte: »Rausch« wie der Titel von Fischers »Opus Piscatorum«.
Anders als bei Fischer ist das Schelmenhafte, das diesem Lied anhaftet. Es nimmt sich selber nicht ernst. Das ist typisch für den Schlager in dieser Zeit. Neben dem Schelmenschlager, entwickelt sich auch ein an den Chanson angelehnter ernsthafter Schlager (z. B. »Mein Freund der Baum« von Alexandra). Nach 1968 lassen sich grob drei Richtungen ausmachen:
- der Schelmenschlager, wie er von Rudi Carel, Ilja Richter und vielen anderen weitergeführt wurde (kabarettartige Musik),
- die kitsch-romantische Ernsthaftigkeit, wie etwa bei Roy Black, Freddy Breck oder Adamo,
- die ernste Ernsthaftigkeit, vertreten durch Juliane Werding oder Peter Maffay.
Ab den 1970ern tauchen neue, junge Schlagerstars auf, die Rock-, Folk- und Popmusik assimilieren. Dazu gehören Peter Maffay, Christian Anders oder Chris Roberts. Diesen Schlagersängern gelingt es, ein neues, jüngeres Publikum für den Schlager zu gewinnen. Vor allem Peter Maffay führt die romantische und die ernste Ernsthaftigkeit zusammen. Etwa in seinen Hits »Du« und vor allem natürlich in »Und es war Sommer«, in dem es natürlich um Sex geht.
Heino dagegen ist die konservative Reaktion auf den jungen Schlager. Er hält das Volkstümliche hoch und wird zu einem Mitbegründer der volkstümlichen Schlagermusik. Aber auch bei ihm geht es um Sex. Etwa wenn er in »Blau, blau, blau blüht der Enzian« genau da aufhört zu berichten, wo es interessant wird.
In der ersten Hütte, da haben wir zusammengesessen,
in der zweiten Hütte, da haben wir zusammen gegessen,
in der dritten Hütte hab’ ich sie geküsst,
keiner weiß, was dann geschehen ist.
Ein weiteres berühmtes Beispiel zwischen Schelmenstück und volkstümlichem Schlager ist Tony Marshalls Lied vom »Oberförster«:
Ich aber jage gern mit meinem großen Schießgewehr
Doch was so mancher Mann auch zum Vergnügen tut
Ich möchte nur das Eine, das tät’ mir so gut
Ach lass mich doch in deinem Wald der Oberförster sein
Der Oberförster sein
Der Oberförster sein
Dann kommt kein Wilddieb und kein fremder Jäger mehr hinein
Ach lass mich doch in deinem Wald der Oberförster sein
Der Wald als Vagina-Metapher, das »große Schießgewehr« als Penis-Metpher. Und »Ach lass mich doch …« als lüsterne Bitte um Kopulation.
Roland Kaisers »Manchmal möchte ich schon mit dir …« führt bereits in Richtung moderner Schlager:
Manchmal möchte ich schon mit dir
Eine Nacht das Wort »Begehren« buchstabieren
Was sich anhört wie der Wunsch, Scrabble zu spielen, ist eine ziemlich anspielungsreiche Metapher für Sex. Und natürlich die gerade noch rechtzeitig gestoppte Anspielung »Manchmal möchte ich schon mit dir …«. Ja was denn wohl? Begehren ausbuchstabieren!
Andy Borg kommt in »Ich will nicht wissen, wie du heißt« sogar ganz unverhohlen und ohne Metaphernumschweif zu Sache:
Ich will nicht wissen, wie du heißt.
Wie man dich nennt, ist mir egal.
Ich will nur wissen, du bleibst heute hier.
Sag’ es mir noch einmal.
Ich will nicht wissen, wer du bist,
Woher du kommst, wohin du gehst.
Ich habe nur den einen Wunsch an dich:
Daß du mich verstehst.
Wenn Borg noch deutlicher würde, dann wäre er schon ganz dicht an der Gangsta-Rap-Parodie »Show me your genitals« des Komikers Jon Lajoie: »Women are stupid and I don’t respect them / That’s right I just have sex with them / Show me your genitals, your genitals«.
Kernmetaphern im zeitgenössischen Schlager
Es ist Peter Maffay, der Mitte der 1980er den Urknall des zeitgenössischen Sexschlagers bringt: »Sonne in der Nacht«.
Sonne in der Nacht
Träume sind erwacht
Feuer im Vulkan
Wir beide, Arm in Arm
Tau auf heißem Sand
Nie gesehenes Land
Sonne in der Nacht
Was hast du gemacht
Nur für den Augenblick
Sollte es sein
Mehr habe ich nicht von dir gewollt
Jetzt liegst du neben mir
Mein Herz in der Hand
Und aus dem Augenblick wird ein Leben lang
Sonne in der Nacht
Blicke berühren sich
Ohne ein Wort
Und der Verstand verliert den Verstand
Körper ergeben sich
Nur dem Gefühl
Kälte und Einsamkeit sind verbannt
Sonne in der Nacht
Maffay setzt die Kernmetaphern. Die sind zwar auch schon in »Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da« vorhanden, aber nicht so ernst wie bei Maffay.
- Sonne/Nacht: Sonne als Sexpartner / Nacht als Zeit, zu der man Sex hat
- Feuer/Vulkan: feurige Leidenschaft
Und natürlich die grundlegenden Anspielungen:
- Du liegst neben mir: Im Bett
- Blicke berühren sich: Und nicht nur die Blicke
- Der Verstand verliert den Verstand: Sich der Erotik hingeben
- Körper ergeben sich dem Gefühl: Sex haben
Nur in einem Punkt unterscheidet Maffay sich erheblich von Helene Fischer. Das lyrische Ich Maffays sucht einen One-Night-Stand (»Nur für den Augenblick sollte es sein«), findet sich dann aber in einer festen Bindung wieder (»Und aus dem Augenblick wird ein Leben lang«).
Bei Fischers Texten geht es eher um serielle Monogamie. Aber der Code für Sex ist gesetzt und findet sich in unzähligen Schlagern wieder. Vergleicht man also »Sonne in der Nacht« mit »Vamos a Marte«, fallen viele Parallelen auf:
Peter Maffay | Helene Fischer |
Sonne in der Nacht | Der Mond ist unsere Sonne |
Feuer im Vulkan | Fühlt sich an wie tausend Grad |
Wir beide, Arm in Arm | Zwischen uns nur Millimeter, ich hab’ keine Wahl |
Nie gesehenes Land | Vamos a Marte |
Blicke berühren sich Ohne ein Wort
|
Du liest meinen Körpеr, keine Wörter Könn’n beschreiben, was ich mit dir fühl’ Wir sprechen eine Sprache ohne Worte Was du meinst, kann ich in deinen Augen seh’n |
Und der Verstand verliert den Verstand Körper ergeben sich Nur dem Gefühl |
Ich verlier’ die Kontrolle |
Man kann diesen Vergleich mit mehr als der Hälfte der Tracks auf Helene Fischers »Rausch« durchführen. »Sonne in der Nacht« ist das Metaphernreservoir. Das ist keine bewusste Entscheidung der Songautor*innen. Es ist zeitgenössischer Schlagerjargon und Schlagerthematik. Die ernsthafte Betonung der Lust geht vermutlich auf Peter Maffay zurück. Aber den Tonfall haben Sängerinnen wie Andrea Berg, Vanessa Mai oder Beatrice Egli gesetzt.
Moderne und selbstbestimmte Sexualität
Es ist faszinierend, dass ausgerechnet das biederste Genre populärer Musik einen offenen Code für die Beschreibung von Sex gefunden hat. Einen biederen Code, der durch seine Doppeldeutigkeit immer ein Ausweichen ins Harmlose bietet. Nicht das Schlagerpublikum ist der missinterpretierende Charlie, nein, Schlagertexter*innen sind der alles sexuell doppeldeutig formulierende Charlie.
Im Gegensetz zum alten Schlager formuliert Helene Fischer ein sehr modernes und selbstbestimmtes Bild von Sexualität. Freie Subjekte entscheiden sich für einen Moment des sinnlichen Rausches, den sie gemeinsam ausleben möchten, der aber nicht zwangsläufig zu einer festen Bindung führen muss. Das sexuelle Begehren wird klar formuliert. Nicht als unterwürfiges Angebot, sondern als eine freie Wahl. Und das ist eine Gemeinsamkeit von »Opus Pistorum« und »Opus Piscatoris«.
Darüber hinaus stellt Fischer Sex nicht schlüpfrig dar, sondern als Schönheit des Begehrens und seiner Erfüllung. Der Verzicht auf pornographischen Realismus zugunsten schlageresker Metaphern bricht das Begehren wie ein Prisma das Licht in ein helles, regenbogenfarbenes Farbenspiel. Das ist kitschig wie ein rosarotes Einhorn. Aber auch eine Emanzipationsbotschaft: Dein Begehren gehört dir!
Interessant ist, dass es mit Christian Steiffen inzwischen den Henry Miller unter den Schlagerstars gibt, dessen Stil, über Sex zu singen, man durchaus mit Miller vergleichen könnte:
Von Liebe will ich nichts mehr wissen
Und auch nichts von romantischen Küssen
Ich will nur immer mehr
Sexualverkehr
Ich hab’ keine Zeit, auf Charakter einzugehen
Charakterficken fand ich noch nie schön
Es ist vielleicht nicht fair
Doch ich will nur Sexualverkehr
Nicht gerade Cardi B und Megan Thee Stallion. Eher ein Apres-Ski-Nischenprodukt. Nichts für einen Edelstar wie Helene Fischer.
Fischer ist ein prototypischer Star des Streamingzeitalters. Die ausgebildete Musicaldarstellerin kann eigentlich alles, was man im Showbiz braucht. Tanzen, Singen und Schauspielern. Ihre Liveshows sind gigantische Spektakel, in denen die Sängerin ihre Hits und das Beste aus den Achtzigern und Neunzigern glaubwürdig performt. Zwischendurch stemmt sie auch noch einen Humpen Bier.
Aber während man bei Charakterstars wie Herbert Grönemeyer, Westernhagen oder Heinz Rudolf Kunze immer schärfere Konturen sieht, je mehr man über sie weiß, werden Fischers Konturen immer flimmeriger und unschärfer, je näher man ihr kommt. Nichts als Flexibilität. Björn und Benny brauchen keine ABBAtare. Helene ist schon einer. She’s not there. Sie ist immer nur unser Baby tonight, whatever we want from her. Und dann ist sie wieder weg.
Sie verkörpert den Richard Sennett beschriebenen »flexiblen Menschen«. Der bringt viele Kompetenzen mit und passt sich mit diesen immer perfekt in ein laufendes Projekt ein. Und nach dem Projekt, ist vor dem nächsten. Und so funktioniert auch der von ihr besungene Sex. Jetzt ist jetzt. Später ist später. Früher ist egal. Mit dieser Einstellung rückt sie dann auch wieder näher an den Ich-Erzähler von »Opus Pistorum« heran.