»Total State Machine« kommt daher, als würde es sich um einen Biennale-Katalog handeln. Ein echter Wälzer. Zusammen mit den beiden britischen Soziologen Peter Webb und Alexei Monroe haben Test Dept ein Werk geschaffen, das die von 1981 bis 1998 aktive Industrial- und Performance-Gruppe in der Mitte moderner britischer Musik- und Performance-Avantgarde positioniert. Test Dept vertraten dabei stets ausgeprägte sozialpolitische Standpunkte.
Im Sommer 2014 wurde anlässlich der Bergarbeiterstreiks und der Veröffentlichung der LP »Shoulder to Shoulder« vor dreißig Jahren auf der monumentalen Kulisse der Dunston Staiths am Fluß Tyne in Nordostengland die Performance »DS30« realisiert. Sie führte die Stränge der mittlerweile in unter- schiedlichsten Kontexten auftretenden, ehemaligen Bandmitglieder wieder zusammen.
skug bringt Ausschnitte aus »Total State Machine« mit O-Tönen der Bandmitglieder und von Weg- begleitern. Es ist die erste Veröffentlichung des letztes Jahr von Peter Webb gegründeten Verlags PC Press. Die Auswahl der Zitate und deren Ûbersetzung stammen von Heinrich Deisl.
»DS30« Performance, Dunston Staights, 2014 © Colin Davison/AV Festival
Test Dept
»Die Band war auch eine Reaktion auf die Popmusik, Mode und Jugendkulturen vor uns. Es gab noch immer diese redundante Idee eines ›romantischen‹ Popstars, der auf Drogen war und jung starb. Dieses ikonische Rock-Image des Gitarre-spielenden, pseudokaputten Typen lehnten wir komplett ab. Es ging darum, sich und seine Vorhaben in den Griff zu bekommen und eine politische Haltung einzunehmen. Hier war für uns der russische Konstruktivismus relevant: Dinge aus der echten Welt zu nehmen und daraus etwas zu machen.«
Brett Turnbull (Filmisch-visuelles Design von Test Dept 1982-88)
»Es war als würde man einer Band von jungen Punks eine Atombombe in die Hand geben.«
Graham Cunnington
»Um mit Test Dept zusammenzuspielen, musste man sich mit ihrer Weltanschauung auseinander- setzen. Ihre Aktionen standen ihren aussagekräftigen Worten in nichts nach. Ihre Musik war ein Ur- schrei, ein direkter Aufruf zum Aufruhr. Von vielleicht allen fingen sie den Zeitgeist am besten ein, sie waren ein Haufen kampfesmüder Josuas, die die Mauern des neuen Babylon niedertrommelten.«
Stephen Mallinder (Cabaret Voltaire)
Beckton/London, frühe 1980er-Jahre © Richard H. Smith
Frühe Auftritte
»›November Reprisal Performance‹, Titan Arch, London, 1983: Der Club ist vollgepackt mit Leuten, Marc Almond steht an der Kassa. Als das Konzert beginnt, werden durch Megafone Propagandaaus- schnitte gespielt, Radio Free America auf der einen Seite, Radio Moskau auf der anderen. Plötzlich platzt eine Polizeiabordnung in den Club. Mit ihren eigenen Megafonen rufen sie Befehle. Das Publikum glaubt, das sei Teil der Aufführung, aber es wird ernst und die Veranstaltung als potentieller Aufstand behandelt. Wir verbringen die Nacht in der Southwark Polizeistation damit, Lieder zu singen.«
Angus Farquhar, Tagebucheintrag
Bergarbeiterstreik 1984
»So wie Majakowski, Vertov und andere revolutionäre Künstler mit ›Agit-Zügen‹ durch die Sowjet- union gefahren waren, um neue Kunst und kulturelle Praktiken zu den Massen auf dem Land zu bringen, begaben wir uns mit unserem ›Battle Bus‹ auf die Straße. Wir trafen uns mit Kumpel-Gemein- schaften und versuchten, die Leute vor Ort darin zu bestärken, ihre eigene kreative Stimme im Kampf um die Erhaltung ihrer Kultur und Lebensgrundlagen zu erheben. Aus diesen Verbindungen resultierte die Gründung des South Wales Striking Miners Choir, ein für uns herausfordernder neuer Zusammen- schluss zwischen traditionellen und avantgardistischen Formen.«
Paul Jamrozy
Wien 1985
»Nach der einmonatigen Tour durch Osteuropa in Wien anzukommen, ist eine ernüchternde Erfahrung. Das Ausmaß des Wohlstands ist erdrückend. Wir werden als Avantgarde-Rock-Band wahrgenommen, als eine gewisse Kommodität. Musik ist hier eher eine Weltflucht als ein Dialog mit der Wirklichkeit. Wir spielen im U4, einem kleinen Club. Die Reaktionen sind überraschend gut, der Sound ist sehr intensiv.«
Angus Farquhar, Tagebucheintrag
»Gododdin« (1989)
»Ende der 1980er waren wir speziell in Süd-Wales mit den verheerenden Auswirkungen der De- Industrialisierung konfrontiert. Von den künstlerisch tätigen Personen setzten sich meiner Meinung nach Test Dept am intensivsten damit auseinander. Eine der Tropen Test Depts bestand in der Appropriation des Imaginären, um es in sein Gegenteil zu ändern. Männer mit nackten Oberkörpern, Stahltrommeln und Feuer sorgten bei der »Gododdin«-Performance in Hamburg für heftige, politisch konnotierte Kritik.«
Mike Pearson (Brith Gof Direktor)
»Man wurde von der Lautstärke förmlich umgeworfen, dem Publikum widerfuhren industrielle Rhyth- men, flammende Reden und kraftvolle metallische Schläge. Dia-Bilder und 16mm-Filme wurden auf die Wände der Gebäude projiziert. Die unerbittliche Stahlperkussion, die Dudelsäcke, elektronische Loops und der Gesang erzeugten gegen Ende eine schier unerträgliche Wirkung. Die archaische Kraft der Musik unterstrich die politische Botschaft.«
Hay Schoolmeesters (Test Dept Tourmanager, Mitbegründer der Amsterdamer Kulturplattform NL Centrum)
Test Dept/Brith Gof: »Gododdin«, 1989, Performance-Still/LP-Backcover
»Pax Britannica« (1990)
»Geschichte war immer schon eine absichtsvoll geschaffene Ideologie, um Individuen kontrollieren zu können, Gesellschaften zu motivieren oder Klassen zu inspirieren. Nichts wurde so korrumpiert wie Konzepte von Geschichte. Sie nutzte bislang den Wenigen; vielleicht sollte sie aber der Vielheit dienen.«
Test Dept/Peter Webb
Digitale Kultur
»Die Songtexte und die stimmlichen Ausführungen wurden immer rhythmusbasierter, was eine natürliche Entwicklung und weniger eine bewusst herbeigeführte stilistische Änderung anzeigte. In dieser Zeit änderte sich – mitinitiiert durch den Zweiten Golfkrieg – der politische Fokus der Gruppe von nationalen zu internationalen Perspektiven.«
Test Dept
Test Dept: »New Yorld Order«, 1991
Criminal Justice Act
»Mit dem Criminal Justice Act, der unter anderem ›repetitive beats‹ sanktionierte, vollzog das Establishment eine Stigmatisierung der Rave-Szenen. Diese Verordnung wurde in den Jahren nach 1994 zu einem der Hauptthemen von Test Dept, woraus mehrere größere Performances in London und Aktionen im ganzen Land resultierten.«
Test Dept
»Im Gegensatz zu den direkten Konfrontationen der 1980er schien für viele Menschen die einzige Möglichkeit politischer Agitation nun in einer nicht gewalttätigen sowie nicht aggressiven Art zu bestehen und aus sich selbst heraus zu sagen: ›Wir müssen euren Weg nicht akzeptieren.‹ Die Autoritäten waren von dem wachsenden Bewusstsein und den sich entwickelnden selbständigen Netzwerken beunruhigt. Deswegen gingen sie auch gegen die ›Traveller‹-Szene vor. Mit dem ›Repetitive Beats‹-Syndrom kam ein tribalistischer Ansatz in die Clubkultur.«
Russ MacDonald (The Frequency Nomad)
»DS30« (2014)
»Es scheint, als befänden wir uns dreißig Jahre nach 1984 in einer recht ähnlichen Situation. Macht- hungrige Politiker haben die volle Kontrolle, Kriege und menschliche Tragödien wohin man blickt, ein immer größer werdendes soziales Ungleichgewicht. Man könnte glauben, der Kalte Krieg ist zurück- gekehrt.«
Paul Jamrozy
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Test Dept/Graham Cunnington, Angus Farquhar, Paul Jamrozy: »Total State Machine«. Hg. von Alexei Monroe/Peter Webb. Bristol: PC Press 2015. 390 Seiten, ca. 50 EUR.
Ebenfalls Mitte des Jahres sind bei PC Press die Re-Release von »Shoulder to Shoulder« und die 12″ »Tested Product« erschienen.