Anthony Braxton und Roland Dahinden © Marek Bouda
Anthony Braxton und Roland Dahinden © Marek Bouda

Große Kunst in Prag

Experimental-Titan Anthony Braxton gehört zu den einflussreichsten Musikern an der Schnittstelle von Jazz und Neuer Musik. Am 1. August 2023 wird seine Oper »Trillium X« in Prag aufgeführt – zum ersten und einzigen Mal.

Rückblickend war die künstlerische Moderne stets aufgespannt zwischen den Ansprüchen, für neue Lebensformen eine neue Kunst zu (er-)finden oder das Leben in den Rang der Kunst zu erheben. Expressionismus, Zwölftonmusik und die Beatles tendieren zu Ersterem. Die Welt hat sich verändert, sie brauche neue Ausdrucksformen. Ready-Mades, Sound Art und Bob Dylan neigen zu Zweiterem. Scheinbar Simples, Alltägliches ist komplexer, außerordentlicher als bisher gedacht. Kunst könne dies erfahrbar machen.

Vom Working Class Kid zur »trans-idiomatischen« Instanz 

Der 1945 in eine US-amerikanische Arbeiterfamilie geborene Anthony Braxton scheint dem ersten Anspruch zugeneigt. Seit den 1960ern ist er unermüdlich auf der Suche nach neuen musikalischen Formen – als Komponist, Improvisator und Musiktheoretiker. In Chicago stieß der Saxophonist zur Association for the Advancement of Creative Musicians. Die AACM propagierte die Verbindung von Free Jazz mit Kompositionstechniken der Neuen Musik, wie Polytonalität, Serialität und Chromatik. Dies brachte Braxton dazu, die Ideen von Stockhausen, Xenakis und Cage in sein Schaffen zu integrieren. Er selbst bezeichnet sich seither als »trans-idiomatischer« Musiker, in dessen Werk die Grenzen von Komposition und Improvisation fließend sind. 

»Ich bin kein Jazz-Musiker. Ich bin auch kein klassischer Musiker. Meine Musik ist wie mein Leben: zwischen diesen Bereichen«, meinte Braxton zum Rolling-Stone-Magazin. Diese hybride Herangehensweise, kombiniert mit musikalischem Geschick, war eine explosive Mischung. Braxton spielte bald mit Chick Corea, Wadada Leo Smith und Sam Rivers. Er inspirierte Innovatoren wie Evan Parker und Joe McPhee und war Lehrer einer der heute bekanntesten Jazz-Gitarrist*innen, Mary Halvorson. Dabei hörte Braxton nie auf, neue musikalische Formen zu entwerfen. Sein mittlerweile fast unübersehbares Oeuvre inkludiert eigene Notationssysteme und Kompositionen für 100 Posaunen.

Anthony Braxton Pressefoto

Affirmation der Tradition

Rezeptionsgeschichtlich bemerkenswert ist, dass Braxtons Erfolg stets von einem Unbehagen in der Musikpresse begleitet war. Weiße Journalist*innen machten aus ihm einen reinen Jazz-Musiker. BIPoC warfen ihm vor, sich an die Nabelschau weißer Eliten anzupassen. »In den ersten 20 oder 30 Jahren«, rekapituliert er seine Karriere, »wurde alles, was ich tat, daran bemessen, ob es Schwarz war – authentisch Schwarz, war, glaube ich, der Ausdruck.« Historisch war Jazz zwar der Versuch von BIPoC, ein Feld zu schaffen, indem sie ihre Erfahrungen mit eigenen musikalischen Formen darstellen konnten. 

Doch das sei jetzt anders, diagnostizierte Braxton 2001. »Was Jazz genannt wird, ist ein reduktives Angebot, das die restrukturierenden Spektra von Musik entfernt.« Von einer weißen Mehrheitskultur überformt, wird das Label »Jazz« schnell zum Nagel, der BIPOC-Ausdrucksformen fixiert, kategorisiert und neutralisiert. Wer sich von Zuschreibungen lösen will, muss für Braxton deshalb gewillt sein, Genres zu überschreiten. Damit einher geht der Versuch, den etablierten Eliten »ihre« klassischen Formen zu entreißen. »Mein Werk war nie eine Ablehnung der Tradition, vielmehr ist es ihre Affirmation.«

Opus Magnum »Trillium«

 Dies bringt uns zu Braxtons Opus Magnum: dem Opernzyklus »Trillium X«. In Arbeit seit Mitte der 1990er und bestehend aus 36 geplanten Teilen lässt das Projekt Wagners »Ring« geradezu bescheiden wirken. Doch warum diese – scheinbar – megalomanischen Ausmaße? Anthony Braxton hat sich vorgenommen, die Gesamtheit menschlicher Erfahrungen abzubilden. In der für ihn typischen terminologischen Ausdrucksweise schreibt er: »Ich male mir eine Welt von ›Umständen‹ aus, in denen die menschliche Erfahrung in all ihrer Größe gefeiert werden kann. ›Trilliums‹ Stoff wird versuchen, die Natur von ›Körperlichkeit‹ und ›Dynamiken des Augenblicks‹ zu verstärken. Denn die Disziplin des Theaters kann Erlebnisse so klären, dass wir uns selbst und unser Potenzial besser verstehen. Daher werde ich versuchen, die größte Reihe von Umständen und Fokussen in ›Trillium‹ einzuführen – von alltäglichen bis hin zu transzendenten Erfahrungen.«

Man muss sich diese Worte auf der Zunge zergehen lassen. Der »Trillium«-Zyklus versucht nichts weniger, als das Projekt einer »großen Kunst« wiederzubeleben – d. i. einer philosophischen Kunst, die erfahrbar macht, was es heißt, ein Mensch zu sein. Damit will es die Ansprüche der künstlerischen Moderne versöhnen. Scheinbar Simples, Alltägliches ist Teil neuer Lebensformen. Es braucht komplexe, außergewöhnliche Mittel, sie in ihrer Gesamtheit darstellen zu können. Kein Zufall sind daher die Wagner’schen Ausmaße des Zyklus’. Wie Wagner versucht Braxton die Limitationen von Musik durch dramatische Elemente zu überwinden. Wie Wagner geht er von metaphysischen Überlegungen zu Materialität aus. Wie Wagner zielt er darauf ab, menschliche Potenziale auszuloten. (Was Linke gerne verdrängen: Der frühe Wagner war nicht nur glühender Antisemit, sondern auch Kommunist. Er stand im Austausch mit Bakunin und hatte denselben Lehrer wie Marx. Sein »Musikdrama« war zunächst der Versuch, eine revolutionäre Gesellschaft zu antizipieren. Dass Braxton an diese Tradition anknüpft, ist nicht so weit hergeholt, wie man denkt.) Die Oper gehört nicht verstaubten Konservativen. In Händen eines Arbeitersohns aus Chicago mutiert sie zur Kunstform der Verdammten dieser Erde.

Roland Dahinden und Hildegard Kleeb © Gary Soskin

Weltpremiere in Prag am 1. August 2023

Doch kann Anthony Braxton seine immensen Ansprüche erfüllen? Am 1. August 2023, nächsten Dienstag, kann man sich selbst ein Bild machen. Das Prague Music Performance Orchestra wird den vorletzten Teil des Zyklus, »Trillium X«, in der tschechischen Hauptstadt zum ersten und einzigen Mal aufführen. Was bei der Weltpremiere in der Multifunctional Hall DOX+ auf uns zukommt, ist ein Beckett’sches Rätsel. Laut Pressetext behandelt die Oper »Themen der Metaphysik, der Mystik und des menschlichen Bewusstseins« und »betrifft globale Katastrophen, nukleare Bedrohungen und die Koexistenz von Menschen und Robotern«. Dabei wurde »Trillium X« minutiös komponiert. (Prague Music Performance gibt an, Braxton habe die letzten fünf Jahre daran gearbeitet. Dessen Label kündigte jedoch bereits 2011 an, dass er an »Trillium X« sitze.) Das 46-köpfige Orchester und zwölf Vokalist*innen versprechen ein klangliches Erlebnis. Angeleitet werden sie von zwei Musiker*innen, die seit Jahren mit Braxton zusammenarbeiten, Dirigent Roland Dahinden und Pianistin Hildegard Kleeb. Mit Braxtons Biographen Timo Hoyer ist es den Veranstalter*innen zudem gelungen, jemanden zur Einführung an Bord zu holen, der das Werk angemessen kontextualisieren kann. All dies deutet auf einen hochspannenden Abend hin.

Wer es nächste Woche nicht nach Prag schaffen sollte, kann auf eine CD hoffen. In Darmstadt wird das PMP Orchestra »Trillium X« für New Braxton House einspielen. Fest steht: Der Opernzyklus ist eine Goldgrube für jene, die sich für anspruchsvolle Musik interessieren – d. i. Kunst, die die höchsten Ansprüche an sich selbst richtet. Ich hoffe auf ein Erlebnis, das mir helfen wird, menschliche Potenziale und mich selbst besser zu verstehen.

»Trillium X« Banner

Tickets:

https://www.dox.cz/en/whats-on/anthony-braxton-trillium-x

Links:

https://www.pmpif.org/en/udalost/world-premiere-3LwCae

https://tricentricfoundation.org/ 

https://newbraxtonhouse.bandcamp.com/

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