»In der Realität ist kein Neustart möglich, in U jedoch schon«, verkündet eine Stimme, während wir durch den schwerkraftlosen Äther der Cyber-Parallelwelt »U« schweben. Neben diesem Versprechen erklärt uns die Stimme auch, wie man ein Teil dieser Welt wird: Aus einem Scan der biometrischen Daten des jeweiligen Users entsteht ein digitaler Avatar; die Technik heißt »Body-Sharing-Technologie«. Während dieser Worte sehen wir die Sängerin Belle, wie sie, umgeben von Massen schwebender Wesen in allen Farben und Formen, auf einem Wal reitet und einen Popsong singt. Bereits dieser optisch bombastische Einstieg in »Belle« (2021) verschaltet das eskapistische Versprechen von einem Neustart mit der allzu bekannten Reklamelogik eines Tech-Konzerns, der um User wirbt. Passend dazu verschmelzen im Plattformnamen »U«, der wie das englische »You« ausgesprochen wird, die Worte »Du« und »User«.
»Die Schöne und das Biest« im Cyberspace
Hinter dem Superstar auf dem Wal steckt die 17-jährige Schülerin Suzu, die in der echten Welt, schwer traumatisiert vom Unfalltod ihrer Mutter, nicht mehr singen kann. Nachdem Schulfreundin Hiro sie auf die Plattform »U« aufmerksam macht, findet Suzu bereits nach dem ersten Einklinken ihre Stimme wieder und singt drauflos. Das bleibt nicht unbemerkt, sondern wird von den bunten Avataren geteilt und kommentiert. Durch die entstehende Dynamik wird Belle schnell und unverhofft zum Superstar in »U«.
Bei einem großen Konzert kracht plötzlich ein Drache herein, der von einer Gruppe selbsternannter Ordnungsorgane, die aussehen wie Superheros und sich »Justices« nennen, verfolgt wird. Der Drache vermöbelt seine Verfolger ziemlich schnell und verschwindet. Belle/Suzu erkennt, dass hinter dem »Beast«, gegen das schnell eine Hassdynamik in Form von anschwellenden Sprechblasen entsteht, eine komplexe Geschichte stecken muss; sie sieht ihre eigene Nicht-Identität mit Belle in einer anderen Gestalt. Begleitet von bizarren kleinen Wesen, die sich als AIs (künstliche Intelligenzen) ausgeben, und einem sanften Avatar, der ihr erster Fan war, begibt sich Belle auf die Suche nach dem Drachen. Als sie schließlich das ruinöse Schloss in den Randbezirken der psychedelischen Geometrie von »U« findet, wird die Märchen- und Popkultur-Folklore von »Die Schöne und das Biest« unübersehbar. Allerdings aktualisiert Hosodas Film diesen Stoff unerwartet, wendungsreich und entgegen einer stereotypen Auflösung.
Optisch besticht »Belle« nicht nur durch die strahlende, 3D-gerenderte Welt von »U«, sondern auch durch den Kontrast dazu: Die japanische Kleinstadt, in der sich die liebevolle Coming-of-Age-Story um Suzu und ihre Freunde und Freundinnen abspielt, ist in umwerfenden, farbensatten und lichtdurchfluteten Bildern festgehalten. Die eher konventionelle Anime-Zeichenkunst dieser Episoden entfaltet ihren träumerisch-fantastischen Charme besonders plastisch vor dem Hintergrund der digitalen Glätte von »U«. Zuweilen erinnert das an die besten Produkte des berühmten Studio Ghibli, wo Hosoda in den frühen 2000er-Jahren beinahe die Regiearbeit für »Das wandelnde Schloss« (2004) übernommen hätte, dann aber wegen kreativer Differenzen doch davon absah.
Zwischenmenschliches im Zentrum
Apropos Studio Ghibli: Hosoda gilt manchen bereits als ein ideeller Nachfolger von Hayao Miyazaki, dessen wunderbare Filme (»Chihiros Reise ins Zauberland«, »Prinzessin Mononoke«) vermutlich für ganze Generationen von Menschen außerhalb von Japan die Türöffner zur Anime-Kultur waren und sind. Tatsächlich übt Hosoda eine ähnliche Strahlkraft aus, die weit über die Grenzen des Inselstaats weist. Das zeigt nicht erst die fast durchwegs euphorische Kritik von »Belle« (bei der Premiere in Cannes gab es gar mehrminütige Standing Ovations), sondern etwa auch die Oscar-Nominierung seines Vorgängerfilms »Mirai« (2018).
Hinzu kommt eine weitere Parallele zu Miyazaki: Trotz unterschiedlicher Themen und Motive achtet auch Hosoda bei seinen Erzählungen auf eine Art humanistische Uneindeutigkeit – die simplen Tableaus von Gut vs. Böse, werden in beinahe allen Filmen produktiv unterlaufen, ohne dass dabei auf wuchtige, mitreißende Plots verzichtet würde. Dementsprechend komplex ist die Figurenzeichnung. In »Mirai« wird der vierjährige Protagonist – der nach der Geburt seiner Schwester damit fertig werden muss, nicht mehr das Zentrum der Welt zu sein – mitunter so tyrannisch und unerträglich gezeigt, wie Kleinkinder nunmal sein können. Und in dem Kinohit »Summer Wars« (2009), wo eine matriarchal organisierte Großfamilie gegen den potenziell apokalyptischen Hackangriff einer künstlichen Intelligenz antreten muss, verzichtet Hosoda darauf, das Spannungsfeld zwischen alterndem Gemeinschaftsmodell und individualistischen Konsumnormen, mit eindeutigen Wertungen aufzulösen.
Der Fokus auf Jugendliche und Kinder tritt bereits in Hosodas erstem Langfilm »Das Mädchen, das durch die Zeit sprang« (2006) hervor, der übrigens auch die erste von mehreren Zusammenarbeiten mit der Drehbuchautorin Okudera Satoko war. Dieses Faible für Kinder- und Jugendfilme, bei gleichzeitigem Bedacht darauf, stets auch einen Film für Erwachsene zu machen, könnte als weitere Parallele zu Miyazaki angeführt werden.
Solidarität statt Stardom
»Belle« verhandelt die Frage nach dem Verhältnis von Avatar und realer Person vor dem Hintergrund von Trauma, Einsamkeit und Erwachsenwerden. Dabei werden hochaktuelle Themen – Shitstorms, Hypes, Online-Starkult sowie Online-Trollerei – so organisch in den Plot eingeflochten, dass sie nicht aufgesetzt wirken. Besonders sympathisch ist der ironische Umgang mit dem Superhelden-Genre. So erscheint der mackerhafte Oberhero Justin als Karikatur des so beliebten Vigilante-Typs à la Marvel. Dass solcher Heroismus stets an der Schwelle zu autoritärem Ordnungsfanatismus wandelt, dechiffriert »Belle« federleicht. Und dass eben dieser Fanatismus, der die Welt nur manichäisch in Gut vs. Böse einteilen kann, auch schnell das Kapital auf seiner Seite hat, sehen wir immer wieder an den Sponsoren-Logos, die hinter dem Hero aufblitzen, während er auf dem Wellenkamm des Shitstorms seinen Gegner verfolgt.
In Belle/Suzu keimt dem entgegen eine Idee von Solidarität heran, die auf der Anerkennung der Verletzlichkeit des Anderen beruht. So lässt sie in einer Szene die Maske fallen und singt als Suzu, bis der dauerkommentierenden Masse im wahrsten Sinne des Wortes die leuchtenden Herzen aufgehen. Pathetisch? Und wie! Wer auch nur ein wenig Bereitschaft für große Theatralik in den Kinosaal mitbringt, kann sich auf locker hängende Tränchen gefasst machen. Und wer diese Bereitschaft nicht hat, ist bei einem Anime-Blockbuster vielleicht ohnehin nicht ganz richtig. »Belle« ist allemal ein wohltuender Farben- und Gefühlsrausch sowohl für (ältere) Kinder, als auch für Erwachsene.