In »Metropolis« war die Stimmung bei den Lohnarbeiter*innen noch erkennbar mies, aber ist es seitdem wirklich besser geworden? © YouTube
In »Metropolis« war die Stimmung bei den Lohnarbeiter*innen noch erkennbar mies, aber ist es seitdem wirklich besser geworden? © YouTube

Finanzieller Missbrauch – Teil 2

Zwar fragt skug geflissentlich, ob nicht weniger die Zinsen das Problem sind als vielmehr das Kapital, das den Profit unbezahlter Arbeit akkumulieren darf, gleichwohl freuen wir uns enorm über den humanistischen Furor, den unser Medienpartner »Hinter den Schlagzeilen« an den Tag legt.

Es ist der blinde Fleck, die große Lebenslüge unserer Wirtschaftsordnung: Ohne hinterfragt, teilweise sogar ohne bemerkt zu werden, wirkt der Zins als großer Umverteiler und entzieht den Staaten, Gemeinschaften und Privathaushalten ständig wachsende Anteile ihres erwirtschafteten Reichtums. Um das, was der Zins übriglässt, streiten sich dann die Parteien und Interessengruppen. Die Duldung des zerstörerischen Zinsmechanismus durch eine schlafende Mehrheit der Bevölkerung kommt einer devoten »Abhängigkeitserklärung« gegenüber den Gewinner*innen ausbeuterischer Strukturen gleich. Es wird Zeit, dass wir den »Dieb« nicht nur erkennen, sondern ihm auch das Handwerk legen.

Die größte Lebenslüge
Nicht berücksichtigt sind dabei natürlich auch versteckte Zinsen, die in so gut wie allen Waren und Dienstleistungen, die wir in Anspruch nehmen, enthalten sind. Es ist, wie Professor Margrit Kennedy ausführt, der »Zinsanteil, den die Produzenten der gekauften Güter und Dienstleistungen der Bank zahlen müssen, um Maschinen und Geräte anzuschaffen. Bei den Müllgebühren zum Beispiel liegt dieser Zinsanteil bei etwa 12 Prozent, beim Trinkwasserpreis bei 38 Prozent und bei der Miete im sozialen Wohnungsbau erreicht der Zinsanteil sogar 77 Prozent. Im Durchschnitt zahlen wir etwa 40 Prozent Zinsen oder Kapitalkosten in allen Preisen und Dienstleistungen, die wir zum täglichen Leben benötigen.« Zu diesen ca. 40 % »versteckten Zinsen« muss man natürlich die über die Steuer abgeführten Zinsen sowie – im Fall privater Verschuldung – persönliche Verbindlichkeiten aus Darlehen, Überziehungskrediten usw. addieren.

Aus diesen Überlegungen wird deutlich, dass der Zins der blinde Fleck, die große Lebenslüge unserer Wirtschaftsordnung ist: Ohne hinterfragt, teilweise sogar ohne bemerkt zu werden, wirkt der Zins als großer Umverteiler und entzieht den Staaten, Gemeinschaften und Privathaushalten ständig wachsende Anteile ihres erwirtschafteten Reichtums. Um das, was der Zins übriglässt, streiten sich dann die Parteien und Interessengruppen. Neoliberale Parteien neigen dazu, die Masse der Gering- und Normalverdiener*innen bluten zu lassen, Linke wollen dagegen, dass die besserverdienenden Leistungsträger*innen stärker zur Kasse gebeten werden. Es ist, als ob sich ein sizilianischer Restaurantbesitzer mit dem Kellner streitet, wer einen größeren Anteil am Schutzgeld für die Mafia bestreiten muss – anstatt dass man anfängt, die Existenzberechtigung der Mafia grundsätzlich in Frage zu stellen.

Die Duldung des zerstörerischen Zinsmechanismus durch eine schlafende Mehrheit der Bevölkerung kommt einer devoten »Abhängigkeitserklärung« gegenüber den Gewinner*innen ausbeuterischer Strukturen gleich. Über 90 % der Bürger*innen würden von einer Abschaffung des Zinses mehr profitieren als sie dabei verlieren. Wenn Sie also zufällig Albrecht (Name der ALDI-Gründer) oder von Thurn und Taxis heißen, dann hätte ich Verständnis dafür, dass sie die herrschende Zins-gestützte Wirtschaftsordnung prima finden. Falls Sie aber zu den ca. 90 % der »wenig« Verdienenden gehören, dann macht es keinen Sinn, brav eine der vier neoliberal orientierten Parteien zu wählen und den Zinsprofiteur*innen somit einen Freibrief für immer dramatischere Umverteilung des Reichtums von unten nach oben auszustellen.

Meine Energie gehört mir!
Ich hatte eine Zeit lang in meiner Wohnung ein von Vegetarier*innen vertriebenes Poster hängen. Es zeigte ein fröhlich in die Kamera blickendes Schwein, und der Slogan lautete: »Mein Fleisch gehört mir«. Der Schlachtruf der Menschen in unserem Staat und überall auf der Welt müsste eigentlich heißen: »Meine Energie gehört mir«. Produktive Arbeit ist Einsatz von Zeit und Energie zum Zweck der Wertschöpfung. Das Vollkornbrot, das ich esse, die künstlerische Darbietung meines Lieblingssängers, der Stuhl, auf dem ich beim Tippen auf meiner Computertastatur sitze, stellen für mich materielle und ideelle Werte dar. Man sollte meinen, es sei das Selbstverständlichste der Welt, dass den produktiv Tätigen der gesamte Gegenwert ihrer Arbeitsleistung zukommt. Doch die Arbeitsleistung von Werktätigen ist in der Regel »mehr wert« als ihr Lohnzettel es vermuten lässt. Daher spricht Marx auch von »Mehrwert« und meint damit den Gewinn der Unternehmer*innen, den diese ihren Arbeiter*innen und Angestellten vorenthalten.

Weit dramatischer ist allerdings, wie wir gesehen haben, das Ausmaß, in dem Arbeitserträge durch den Umverteilungsmechanismus des Zinses abgeschöpft werden. Neben der Umverteilung via Steuern und der Umverteilung mittels versteckter Zinsen gibt es nämlich als drittes noch die Umverteilung durch vorenthaltene Lohnanteile, die Unternehmer*innen, statt sie den Arbeitnehmer*innen auszuzahlen, den Aktieninhaber*innen oder »Shareholdern« zukommen lassen. Wir bekommen also als Lohn- oder Gehaltsempfänger*innen zu viel zu wenig Geld für unsere Arbeit, von dem wir überdies viel zu hohe Steuern bezahlen und viel zu teure Produkte kaufen müssen. Der Zins – stellt man ihn sich einmal als eine Person vor – gleicht jenem »alten Kaiser«, von dem Konstantin Wecker gesungen hat: »Du hast ihnen viel zu viel von ihrem Leben genommen.«

Der Zins nimmt uns täglich viel zu viel von unserem Leben, stiehlt uns andauernd Dinge und Privilegien, die zu unserem Glück beitragen könnten (soweit diese mit Geld zu tun haben). Er nimmt uns einen Teil unserer Bewegungsfreiheit, unserer Unabhängigkeit, unseres Wohlstands und unserer Gesundheit (denn bessere Nahrung und Gesundheitsversorgung kosten Geld, auch ausreichende Freizeit und Stressausgleich muss man sich leisten können.)

Kaiser Zins entthronen!
»Kaiser Zins« ist der größte Ausbeuter, der schlimmste Energieräuber unserer Zeit. Der Schlachtruf, mit dem wir seine Burg erstürmen könnten, lautet: »Meine Energie gehört mir. Wir haben es schlichtweg satt, dass man uns einen Teil unseres Lebens stiehlt. Wir verstecken unseren Wunsch nach einem besseren Leben nicht länger hinter dem Argument, nur an der Steigerung der Binnennachfrage interessiert zu sein. Wir sind ebenso wenig Konsumvieh, wie wir Arbeitstiere sind, die blökend darauf warten, dass man ihnen das Fell über die Ohren zieht. Wir fordern, den Zins zu entmachten, einfach, weil er schädlich ist und weil wir es so wünschen – wir das Volk, der Ausgangspunkt und Endzweck aller staatlichen Machtausübung«.

Natürlich ist der Zins in Wahrheit keine Person, hinter ihm stehen Menschen, die von diesem System profitieren. Neben den großen »Akteuren*innen « wie Banken und Aktiengesellschaften können durchaus auch Kleinanleger*innen bis zu einem gewissen Grade zu den Profiteur*innen gehören – ohne böse Absicht, einfach, weil sie die Vorteile eines strukturellen Unrechts zu genießen versuchen. Eines jedoch ist klar: Der Zins widerspricht auf das Gröbste jenem »pursuit of happiness«, den sich die amerikanische Unabhängigkeitserklärung auf die Fahnen geschrieben hat. Eben jene Unabhängigkeitserklärung besagt nicht nur, dass Freiheit, Leben und das Streben nach Glückseligkeit der »Endzweck« aller Regierungen seien, sie sagt auch ausdrücklich, »dass zu jeder Zeit, wenn irgendeine Regierungsform zerstörend auf diese Endzwecke einwirkt, das Volk das Recht hat, jene zu ändern oder abzuschaffen, eine neue Regierung einzusetzen und diese auf solche Grundsätze zu gründen.«

Der Zins widerspricht auch dem Grundsatz, dass der Mensch nie nur Mittel zum Zweck sein darf. Im kapitalistischen System sind die Arbeitenden Mittel zum Zweck der Gewinnmaximierung, der Ausschüttung immer höherer Renditen und der Steigerung ohnehin schon astronomisch hoher Vermögen. Eine solche Instrumentalisierung der Mehrzahl der Menschen zum alleinigen Nutzen Weniger ist nichts anderes als Missbrauch. Wir müssen dahin kommen, das Zinssystem als finanziellen Missbrauch zu brandmarken, der dem sexuellen und emotionalen Missbrauch als verachtenswerte menschliche Verirrung an die Seite gestellt wird.

Ich habe den Begriff »Missbrauch« durchaus mit Bedacht und nicht leichtfertig gewählt. »Wikipedia« definiert Missbrauch beispielsweise so: »das ›Benutzen‹ von Menschen, die damit zum Objekt degradiert werden, über das jemand ohne Einverständnis verfügen kann. Damit wird die Menschenwürde dieser Personen verletzt.« Diese Definition trifft auf die Haltung, Manipulation und institutionalisierte Ausbeutung von »Menschenherden« zum Zweck der Profitmaximierung zweifellos zu. Denkt man an sexuellen oder emotionalen Missbrauch, so ist sein Kennzeichen, dass die Täter*innen ihren Bedürfnissen ohne jede Rücksicht auf die oft verheerenden negativen Folgen für die Opfer nachgehen, die deren Seelen oft zeitlebens überschatten.

Man mag nun einwenden, dass etwas so alltägliches wie Zinsforderungen mit einem solch schweren Vergehen wie Missbrauch nicht vergleichbar sind. Trotzdem ist es auch für das Verhalten der Zinsprofiteur*innen typisch, dass sie sich nicht darum kümmern, wie es ihren Opfern damit geht. Und es gibt verschieden schwere Formen der Ausbeutung durch Zins und Zinseszins. Die schwerwiegendsten führen zum Tod. »Jubilé 2000«, eine Organisation, die den Schuldenerlass für die Länder der Dritten Welt fordert, hat ausgerechnet, dass im Jahr 2004 alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren wegen der Verschuldung seines Landes stirbt. Der Grund ist (sehr verkürzt dargestellt), dass die Regierungen der Staaten der Dritten Welt für den Schuldendienst oft ein Vielfaches dessen aufwenden, was sie für die Bereitstellung grundlegender sozialer Leistung für die Ärmsten zur Verfügung haben.

Besonders krass z. B. in Kamerun, wo in den 1990er-Jahren für Sozialleistungen durchschnittlich 4 % des Bruttoinlandsprodukts ausgegeben wurden, für Schuldendienst dagegen sage und schreibe 36 %. Deshalb wird Jean Ziegler, der UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, nicht müde, bei Interviews und in seinen Büchern zu betonen: »Wer an Hunger stirbt, stirbt als Opfer eines Mordes. Und der Mörder trägt einen Namen: Verschuldung.« (Jean Ziegler: »Das Imperium der Schande«, C. Bertelsmann-Verlag.)

Der gekochte Frosch
Mord oder Missbrauch? Die schlimmste Form von Missbrauch besteht doch darin, dass man einen Menschen buchstäblich zu Tode benutzt. Bei uns in Westeuropa sind die Verhältnisse im Augenblick noch weniger dramatisch. Unser durchschnittlicher Lebensstandard sinkt nur langsam, während gleichzeitig die kostenlosen Leistungen des Staates für seine Bürger*innen zurückgefahren werden. Wir gleichen jenem Frosch, der nicht merkt, dass er gekocht werden soll, da sich die Temperatur schrittweise und fast unmerklich erhöht. Hätte der Frosch vorausschauend gehandelt, hätte er vielleicht noch die Kraft besessen, aus dem Topf zu springen. Bei uns in Europa herrscht – gerade mit Blick auf die Situation in der Dritten Welt – eine gewisse Scheu, sich zu beschweren. Solange man uns das Hemd lässt, trauen wir uns nicht, darüber zu klagen, dass man uns den Rock stiehlt.

Vielleicht fühlen wir uns in unserem Willen zum Handeln auch ein wenig durch die Tatsache gelähmt, dass wir als Konsument*innen im Westen massiv von der Ausbeutung der Dritten Welt profitieren. Vereinfacht gesprochen, werden die Rohstoffpreise, z. B. für Kaffee, Tee, Zucker und Reis, in den Erzeugerländern bis zum Gehtnichtmehr (und noch darüber hinaus) gedrückt, die Arbeiter*innen in lebensbedrohlicher Weise ausgebeutet, damit Sie und ich bei ALDI billig einkaufen können.

Aber ein vernünftiges und faires Einkaufsverhalten, Schuldenerlass und das Aushebeln des Zinssystems schließen einander nicht aus – sie sind vielmehr Teile eines Pakets notwendiger Maßnahmen zur Verhinderung finanziellen Missbrauchs. Stünden dem Staatshaushalt und dem Privathaushalt (also uns allen) schlagartig mehr Mittel zur Verfügung, könnten diese Mittel auch für eine erheblich höhere Entwicklungshilfe verwendet werden (Schuldenerlass für die Länder der Dritten Welt und die Vermeidung weiterer Schulden immer vorausgesetzt).

Pursuit of profit
Die Zeiten sind hart, der »pursuit of profit« hat den »pursuit of happiness« nicht nur in den Vereinigten Staaten längst als »unveräußerbares Recht« abgelöst. Dieses Recht ist nichts anderes als das Recht weniger finanziell und politisch Mächtiger, den finanziellen Missbrauch ungebremst fortzuführen. Auch »des Glückes Unterpfand« – millionenfach in den Fußballstadien beschworen – hat sich bis zur Unkenntlichkeit verändert.

Erinnern Sie sich noch an unsere drei höchsten Werte: Einigkeit und Recht und Freiheit? Aus der »Einigkeit« ist eine unerträgliche Gleichschaltung der meisten Presseorgane im Sinne der neoliberalen Meinungsdominanz geworden. Das »Recht« mutierte zum Recht auf leistungslose Einkommen aus verzinsten Geldanlagen. Und die »Freiheit«, nun ja, daraus ist eine schrankenlose Marktanarchie geworden, die dem Stärkeren alle Rechte und dem Schwächeren immer weniger Schutz bietet. Was folgt aus dem allen? »Höchste Zeit, aufzustehen!«

Dieser Beitrag erschien zuerst auf »Hinter den Schlagzeilen«.

Hier geht’s zu Teil 1.

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