Eva Hesses Skulpturen sind sehr eigentümlich und wirken auf einer Ebene, die man sich schlecht erklären kann. So wurde eine frühe Version des Stahl-Kubus »Accession« (1968) zerstört, weil Leute hineinkletterten! Sie arbeitete sich vor, von kritzeligen Zeichnungen über Reliefs zu großen, oft hängenden Objekten im Raum. Der afrikanische Künstler Georges Adeagbo erklärte einmal, dass in Europa das Haptische tabuisiert sei, so würden zum Beispiel alle Holzskulpturen für den Export der echten Menschenhaare, der Zähne und des Stoffes beraubt. In Europa müsse die verkaufte Kunst clean und komplett tot sein. Eva Hesse hingegen arbeitete mit Materialien, die zerfallen. Die Künstlerin ging ihren schwierigen, äußerst kurzen Lebensweg, der vom Kindertransport auf der Flucht vor den Nazis unglücklicherweise zu einem mörderischen Gehirntumor führte, doch ihre Werke sind trotz Lebenszeitmangels nach wie vor äußerst spannend.
Im Wiener MUMOK ist in der Ausstellung »Forms Larger and Bolder: Eva Hesse Zeichnungen« das Spezielle an Hesses Arbeiten leider schwer nachfühlbar. Vor allem, weil es kaum Licht gibt. Die Werke, die im superschönen Katalog »Oberlin« hell leuchten, sind in ein fahles, indirektes, neonweißes Glimmen getaucht – die Farben gehen unter. Aus Angst vor dem Verblassen? Aber es ist doch möglich, die Zeichnungen unter speziellem Glas zu zeigen? Nicht einmal die aufgelegten Kataloge kann man lesen. Eine Lichtkünstlerin im Dunkeln zu zeigen, das ist heftig. Rachels Whitereads leuchtende Skulpturen hatten im Belvedere 21 das gleiche Problem, doch dort schien wenigstens etwas Tageslicht herein.
Kindereinfluss
Der »Stern«-Autor Michael Jürgs betont in seinem Buch »Eine berührbare Frau. Das atemlose Leben der Künstlerin Eva Hesse« (Bertelsmann Verlag, 2007), das auf vielen Interviews beruht, ununterbrochen, dass Hesses Vergangenheit als verfolgtes jüdisches Kind nichts mit ihrer Arbeit als Künstlerin zu tun hätte und dass sie immer wieder auf ihre Traumata reduziert würde. So sprang ihre Mutter von einem Hochhaus in New York – kurz zuvor hatte sie erfahren, dass ihre Eltern Erna und Marcus Moritz im KZ Auschwitz ermordet worden waren. Eva Hesse war damals zehn Jahre alt. Michael Jürgs betont, dass Hesse eine fröhliche und kreative Künstlerin war, die ihrer Neugier folgte. Auch der Künstler Mel Bochner erinnert sich vor allem an »das Heitere, das Licht, das sie ausstrahlte«. Trotzdem finden sich immer wieder Bezüge zu ihrer speziellen Vergangenheit. Sie selbst schrieb, dass ihre Kunst ohne ihre Biografie nicht zu begreifen sei.
Ihr Ehemann, der Bildhauer Tom Doyle, wurde von einem deutschen Fabrikanten nach Kettwig an der Ruhr bei Essen eingeladen. Eva Hesse begleitete ihn und fand in der aufgelassenen Weberei der Textilfabrik Scheidt Unmengen an Schnur. Sie arbeitete mit deutschen Kindern an »crazy, wild forms», malte deren Zeichnungen nach und befreite sozusagen das Kind in sich. Sie bezeichnete ihre Zeichnungen als »adult’s children drawing«. In ihr Tagebuch schrieb sie: »If crazy forms, do them outright. I’ll show myself another form.« Sie nannte das Nachzeichnen der Kinderzeichnungen »playacting«. Dadurch kam sie auf ihre Sehnsucht nach einem Möglichkeitsraum – »the desire for the space of possibility«, einer Eroberung des (Sicherheits-)Raumes.
Luftwurzeln
»Alle Kinder, die zwischen Dezember 1938 und Ende August 1939 Deutschland verließen, trugen eine Kordel um den Hals. An der hing, manchmal in ein Kuvert gesteckt, in dem Namen und Adresse verzeichnet waren, eine Nummer«, schreibt Jürgs. Der britische Kinderpsychiater Donald Winnicott, der im Zweiten Weltkrieg mit Kindern arbeitete, erklärt, dass es genau Zweijährige wie die alleingelassene Eva Hesse sind, die die notwendige Ablöse von der Mutter hin auf Gegenstände durchführen sollten. Winnicott erklärt das Phänomen am Beispiel des allseits beliebten Teddybären, der »Ich und Nicht-Ich« gleichzeitig wäre, ein Übergang. Kinder, bei denen diese Entwicklung unterbrochen wird, können sie später nachholen. Das nennt Winnicott »Nachreifen«. Der Aufenthalt in Deutschland war für Eva Hesse sehr wichtig, sie besuchte z. B. Schulfreundinnen ihrer Mutter. Tom Doyle meinte: »Die Schnur brachte sie richtig in Fahrt.» Jemand ist eingeschnürt, sagt man, bei Hesse scheinen die Schnüre aber eher Freiheit zu bedeuten.
»Die Arbeiten ragten aus dem Boden, hingen von der Decke, kamen aus den Wänden«, lacht Eva Hesse in einem Film im MUMOK. Die Arbeiten lösen sich von der Schwerkraft, betonen sie. Ein Faden klettert z. B. aus einem Bild als starrer Umgebung heraus, dadurch wird das Bild lebendig. Wenn man sich nun ihre Skulptur »Right After« (1969) für das Jüdische Museum New York ansieht, mit ihren hängenden Schnüren, fühlt man sich auch an die von einigen jüdischen Künstler*innen als Metapher verwendeten »Luftwurzeln« erinnert. Wie Gespenster, wie Seelen, wie herabstürzende Vögel ohne Bezug zum Boden hängen die Kordeln an unsichtbaren Fäden im Raum. Das »sah nach Nichts aus«, meinte Eva Hesse dazu, »genau das wollte ich erreichen«. Sie hielt die Spannung zwischen Verletzlichkeit und Stärke aus.
Kurz vor ihrem Tod 1970 redete Eva Hesse nur noch deutsch, und zwar gegen die Nonnen an, die sie wegen Bettnässens geschlagen hatten, als sie ganz allein mit drei Jahren wegen Diphterie auf der Krankenstation lag. Nicht einmal ihre Schwester durfte zu ihr. Heute steht am Hamburger Bahnhof Altona, von dem aus Hesses Großeltern deportiert wurden, die Skulptur »Black Form. Dedicated to the Missing Jews« von Sol LeWitt, ihrem Freund. Ein schwarzer Solitär, fünf Meter hoch.