Wir drehen uns rückwärts im Kreis. Zumindest in der Popmusik. Das wissen wir ja schon längere Zeit. Nehmen wir zum Beispiel David Bowie. Das von Jonathan Barnbrook gestaltete bzw. überschriebene »Heroes«-Cover von »The Next Day« (2013) hat uns diese Botschaft geradezu auf die Nase gebunden. Dementsprechend präsentierte »The Next Day« nicht bloß eine Rückkehr zu seinen Berliner Tagen und dem damaligen Produzenten Tony Visconti, sondern auch eine musikalische Zeitreise zu Bowie anno 1977. Zugleich verriet das Video zu »The stars are out tonight« einmal mehr, dass Bowie auch im hohen Alter dem Traum von ewiger Jugend, dem Kult ewig sich wandelnder Makellosigkeit nacheiferte. Ein Traum, der erst auf dem jüngsten und leider endgültig letztem Album »Blackstar« einem neuen Traum Platz gemacht hat, dem Traum von »Lazarus«. Von Narben, die niemand sieht, singt er da. Von einem Drama, das ihm keiner nehmen kann, obwohl ihn doch alle kennen. Und als Conclusio: »Oh, I’ll be free, ain’t that just like me.« Das wünschen wir ihm gerne, dass er nun frei ist … obwohl er das in gewisser Weise ja immer schon war.
Es ist schönes, ein gediegenes Album geworden, ein gereifter Bowie in Höchstform. Auch die PR-Maschinerie hat wieder clever funktioniert. Angekündigt wurde eine Loslösung vom Rock, ein fast freejazziges Album, aber tatsächlich findet sich das nur in Ansätzen, hingetupft bloß – und es ist nichts, womit der Mann nicht früher schon kokettiert hat. Man denke etwa an die atonalen Einsprengsel, in die sich das Klavier auf »Aladdin Sane« (1973) verirrt. »Blackstar« ist ungeachtet dessen ein würdiger Abgang geworden, vermutlich von ihm auch so geplant. Die Vinyl-Version jedenfalls lässt in ihrem düsteren Design, den schwarz glänzenden Buchstaben auf mattschwarzem Hintergrund wenig Zweifel, das man hier eine Art Grabstein in Händen hält. Von einem »Vermächtnisalbum« ist darum oft die Rede – um dann doch immer wieder nur von den Hits zu sprechen, die schon 20, 30, 40 Jahre zurück liegen.
Schon einmal zurückgekehrt
Darf man daran erinnern, dass vor vier, fünf Jahren kaum jemand nach Bowie krähte, da es in den Jahren zurück doch ziemlich still um ihn geworden war? Dann kam »The Next Day«, das mit einem Ûber-PR-Gag veröffentlich wurde, nämlich mit gar keiner PR. Die erste Single wurde praktisch unangekündigt online gestellt und danach lief der Rest wie geschmiert. Unglaublich eigentlich! Wie viele Bands würden sich das wünschen! Nur die Songs veröffentlichen – und der Rest läuft wie von selber. Gut, auch Bowie musste erst zehn Jahre fast völlig verstummen, um das Schulterzucken nach »Heathen« (2002) und »Reality« (2003) nach dem Motto »Der schon wieder!« in andächtige Ehrerbietung zu verwandeln. Aber auch das nicht ganz. Artig motzte der deutsche »Rolling Stone« damals über die betuliche High-Security-Prozedur, die an die ersten, presse-exklusiven Hörproben geknüpft waren. Zwischen den Zeilen hörte man gar leichte Kritik an der branchenüblichen Schönfärberei im Mainstreampop, inklusive Inseratengeschäfte und Sonderkonditionen für wohlwollend berichtende Journalisten. Aber Bowie stellte in der Zwischenzeit sein komplettes Album als Gratis-Stream zur Verfügung und strafte das Gemecker des »Rolling Stone« ziemlich eindrucksvoll Lügen. Wieder einmal durfte man den Hut vor dem Mann ziehen.
Parasit oder Genie?
Wenn man die Betroffenheit über seinen unerwarteten Tod abstreift, fällt einem dann wieder ein, dass es gar nicht so leicht ist, ein paar Worte über Bowie zu schreiben, ohne nicht doch ein wenig zu meckern. Was im Ûbrigen ziemlich egal ist, denn an seinem Ruhm und dem dazugehörigen Mythos ist ohnehin nicht zu kratzen. Beides hat er sich auch verdient. Es reicht, sich »Hunky Dory« (1971) oder »Ziggy Stardust« (1972) in Erinnerung rufen. Zwei Konzeptalben, gefüllt mit Songs für die Ewigkeit. Trotzdem darf man nörgeln, dass Bowie danach immer wieder den Eindruck erweckte, als würde er sich kaum anstrengen, als würde er nur allzu genau wissen, dass es reicht pro Album ein, zwei gute Nummer abzuliefern. Schon bleibt man im Gespräch bzw. in der Hitparade. Das ist ihm auch perfekt gelungen. Eine »Best of Bowie« rechtfertigt allemal den Ruf vom cleversten Kopf in der Popgeschichte, vom Popchamäleon. Aber sieht man hinter die Singlehaut so mancher Bowieplatte, kann es auch recht warmluftig werden. Ûber die Jahrzehnte hinweg hat er oft genug äußerst dünne Songs produziert, sich in denselben Attitüden, denselben Phrasen, denselben behäbigen Melodien verirrt.
In ihrem Essay »Musik=Müll« beschreiben Didi Neidhart und Hans Platzgumer die Bedingungen, unter denen Popmusik immer mehr zu einer austauschbaren, funktionalen Ware geworden ist, von der innovationsarmen Endlosreproduktion eines Erfolgsrezepts bis hin zur digitalen Vervielfachung des Musikschrotts zu Spott(ify)preisen. Musik ist Müll geworden, »Ware mit Ablaufdatum, mit geplanter Obsoleszenz, alles kurzsichtig und billig«. An diesen Tendenzen hat letztlich auch ein Bowie mitgearbeitet, auch hier gilt: Bowie=Müll. Nur war Bowie stets mehr als nur ein Hitlieferant. Er war eine selbst erschaffene Kunstfigur, die sich immer neu zu orientieren suchte.
In der Kunst gab es die Selbststilisierung immer schon in Ansätzen, von Caravaggio bis Paul Gauguin oder Max Beckmann. Spätestens mit Andi Warhol und der in Richtung Medien+/-Pop aufgebrochenen Kunst ist es gang und gäbe, dass sich Künstler als komplette Kunstfiguren erfinden – und sei es als Kitschpapst wie in den 1980ern Jeff Koons. Trotzdem war immer auch die Notwendigkeit da, dem eigenen Anspruch, der eigenen artifiziellen Re-Präsenz treu zu bleiben. Sich so sehr zu wandeln wie Bowie, das ist allerdings kaum jemand so gelungen – im Guten wie im Schlechten. Der affektierte Glamrock-Bowie auf »Young Americans« (1975) etwa. Was für ein klebriger Umfaller, was für ein Bastard zwischen Discosoul und 1980-er Synthiepop! Und zugleich: was für eine Vorwegnahme!
Oder der unterkühlte, reduzierte Ambient-Bowie auf »Low« (1977), eines seiner künstlerisch wirklich restlos geglückten Alben. Oder der stylisch auffrisierte Postpunk-Bowie auf »Lodger« (1979), noch ein gutes Album aus den späten Siebzigern. Immer wieder erfand Bowie ein artifizielles Alter Ego, das ihm den Kunstgriff erlaubte, die Musik seiner Zeit schamlos zu plagiieren, sich einzunisten in Trends, die andere vorgelebt haben. Sein Verdienst dabei war allerdings, dass er das tat, als die Spatzen den neuesten Trend gerade erst brühwarm von den Dächern pfiffen (und der dann mitunter auch gar nicht kam). Um wieder einmal den vom britischen Musikjournalisten Simon Reynolds geprägten Begriff der »Retromania« zu bemühen: ein Bowie hat das immer schon getan, er hat immer schon recycelt und sich parasitär von der Popmusik anderer ernährt. Das ist nicht so schlimm gemeint, wie es klingt. Das Parasitäre und der Pop gehören zusammen, denn gemeint ist damit weniger eine Ausbeutung, sondern die Wechselbeziehung von Differenz und Wiederholung (sehr frei interpretiert nach Gilles Deleuze). Pop beruht auf der Wiedererkennung von Gewohntem. Eine vollkommen neue (Pop)Musik wäre nicht breitenwirksam und darum zwangsläufig Avantgarde. Der springende Punkt daran ist bloß: Wenn die Popmusik nicht mehr die Kunst, die Subkulturen, den Underground beklaut, sondern sich selbst, wohin geht sie dann?
Der alte Mann und die Mär vom nächsten Tag
Bemerkenswerterweise klappte die große Klauerei bei Bowie bis in die 1990er. Auf »Tin Machine« (1989) reagierte er auf das Rockrevival im Zeichen von Grunge, auf »Outside« (1995) präsentierte er sich als elektrogroovender Cyberschelm. Danach, von »Hours« (1999) über »Heathen« (2002) bis »Reality« (2002), glückte ihm allerdings keine innovative Selbststilisierung mehr. Und auch das war nur zu bezeichnend, denn die große Recyclingshow hatte damals ja längst begonnen. Wen oder was hätte Bowie auf »The Next Day« noch bestehlen sollen? Der Titel des Albums kam ja nicht von ungefähr. Bowie suchte 2013 nach dem nächsten Tag in der Popmusik – und beklaute sich auf dem Weg dorthin einfach selbst. Nur dass es bei Bowie eben nie ein »sich selbst« gab. Was nach der Dialektik von Differenz und Widerspruch ja auch gar kein Problem ist, nicht für einen Bowie zumindest. Und außerdem, was hätte er denn für Alternativen gehabt? Im aktuellen Mainstreampop war und ist nichts mehr abzukupfern, weil partizipative Nonsensekonzepte mittlerweile offenbar mehr Identifikationspotential offerieren als musikalische Stilzugehörigkeit, und weil es vor allem keine Trends mehr gibt, zumindest keine großflächigen, aber unter der weichgespülten Oberfläche des Pop finden sich natürlich unzählige regionale, abgeschottete Mikrotrends, ein nahezu unüberschaubares Gewusel. Und irgendeiner dieser Mikrotrends steigt von Zeit zu Zeit auf, wird eine Milliarde Mal angeklickt und ist dann wieder Schnee von gestern.
Nicht von ungefähr hat sich Bowie auf »The Next Day« selbst zitiert – und auf »Blackstar« die endgültige Loslösung vom Pop angekündigt – die aber, wie schon gesagt, so nicht stattgefunden hat. Es war nur der Ansatz einer letzten Neuerfindung, die im Ûbrigen ein stilistischer Rückgriff gewesen wäre, aber darum geht es hier nicht. Es ist der nimmermüde Geist, der hier zählt, der Mann, der im Angesicht des Todes sich noch immer neu erfinden will. Und das ist es, was Bowie so spannend, in künstlerischer Hinsicht so interessant macht. Nicht die Hits, sondern das Werk insgesamt. In diesem Sinne ist es vermutlich der Gedenkdienst, nicht zu irgendeiner »Best of« zu greifen, sondern sich eines seiner unbekannteren Alben, ganz egal aus welchen Jahrzehnt vorzuknöpfen, und einfach auf Spurensuche zu gehen. Nach einem Chamäleon.
Dieser Text ist eine überarbeitete Version eines in skug #94, 4-6/2013 erschienen Artikels über David Bowie.