Beim Lesen von Lorres Aussage hat man automatisch seine Stimme im Ohr, dieses unverwechselbare melancholisch-zynische Timbre, das auch Kurt Kren in seinem Film »tausendjahrekino« (1995) zur Wirkung brachte. Nur wenige haben ihre Stimme derart als Markenzeichen etabliert – vielleicht nur noch Oskar Werner, Vincent Price oder Ernst Jandl. Lorres Leben und Werden ist eine Geschichte der Migration und Transgression, der Brüche und Risse, der Exilierung und der Identitäts(de)formationen. Zahlreiche Rollen Lorres legen allegorische Lesarten nahe: das Außenseitertum in »M« (1931), das Emigrantenschicksal und die Schattenexistenz in »The Face Behind the Mask« (1941), der Handel mit Identitäten in »Casablanca« (1943) etc. Und immer wieder: der Blick in den Spiegel und das Entsetzen vor dem eigenen Ich, diesem Anderen. Selbst der Name Lorre birgt ein Moment der Nicht-Identität, ist angeblich ein Anagramm, gebildet aus »Rolle«.
Der 2004 im Zsolnay Verlag erschienene Sammelband, herausgegeben von Elisabeth Streit, Brigitte Mayr und Michael Omasta, bietet eine äußerst lesenswerte, profund recherchierte Hommage zum 100. Geburtstag dieser »Jahrhundertexistenz«. Fernab von huldigenden Plattitüden und Fanwissen sucht das Buch dem Phänomen Lorre aus vielfältiger (analytischer, essayistischer, film- und theaterhistorischer) Perspektive nachzuspüren und dieses nicht festzuschreiben, sondern in seinem Facettenreichtum zum Schillern zu bringen: mit seltenen Fotografien, mit historischen Stellungnahmen und Kritiken sowie mit einer Vielzahl von Originalbeiträgen. Brigitte Mayr, Peter Nau und Monika Meister beschäftigen sich mit Lorres »theatralischen Sendungen« in den 20er Jahren und seiner langjährigen (Arbeits-)Beziehung zu Bertolt Brecht; Daniela Sannwald, Enno Patalas u.a. werfen Schlaglichter auf Lorres Stationen und Filme im Exil (ab 1933); Georg Seeßlen zeigt, wie Lorre in seinen späten Filmen, vor allem in den düster-romantischen Poe-Lektüren Roger Cormans, »verschiedene Zustände der Trägheit, des Verzagens, der Resignation und der Müdigkeit« verkörpert hat; Christoph Huber spürt jenen Spuren nach, die Lorre in der Populärkultur hinterließ, und Elisabeth Streit lässt in ihrer Zitat-Collage Lorre mit sich selbst in Dialog treten. Hinzu kommen Zooms auf Lorres wichtigste Filme. Während sich Robert Schindel in seinem Beitrag »Kleiner Mann am Rande der Zeit« Gedanken zu Fritz Langs »M – Eine Stadt sucht einen Mörder« (1931) macht – der Typus, den Lorre in der Rolle des Kindermörders Beckert etablierte, wurde zeitlebens zum unliebsamen Begleiter, da er die Besetzungspolitik Hollywoods nachhaltig prägte -, haben die Beiträge von Ilse Aichinger und Christoph Fuchs Lorres einzige Regiearbeit »Der Verlorene« (1951) zum Gegenstand.
Einen Höhepunkt des Buches bildet sicherlich die ebenso nuancierte wie einfühlsame Annäherung Elfriede Jelineks an Lorre, den »Joker«: »Bei Peter Lorre kommt es mir vor, als würde er jeden Moment hinauf in sein Gesicht fassen, um zu überprüfen, ob alles noch an seinem Platz ist.« Lorres Erscheinen, so Jelinek, ist immer auch ein »Nichterscheinen«, ein Entgleiten und Danebenstehen. Diesem Sein zwischen Werden und Verschwinden hat »Peter Lorre. Ein Fremder im Paradies« eine Vielzahl von lebhaften Konturen verliehen, ohne ihm eine Totenmaske aufzusetzen.
Michael Omasta, Brigitte Mayr, Elisabeth Streit (Hg.): Peter Lorre. Ein Fremder im Paradies
Wien: Zsolnay Verlag 2004, 250 Seiten, EUR 20,50