Barry White © Nationaal Archief
Barry White © Nationaal Archief

Disco-String-Theorie

Eine kleine Hommage an Disco als »Himmel voller Geigen«, inklusive einer gewagten Theorie über orchestrale »Disco-Streicher« anlässlich von 50 Jahren Disco (aka »From Disco To Discourse«).

Der Begriff »Disco-String-Theorie« ist so eine Art intuitiv zusammengebasteltes Schachtelwort. Entstanden im Rahmen einer Zusammenstellung von Disco-Nummern für die »testcard« Nummer 26 (2019) mit dem Themenschwerpunkt »Utopien«. Konkret ging es dabei um Barry White and The Love Unlimited Orchestra und deren legendäres »Love’s Theme«, als Single Ende 1973 erschienen und ein Jahr später auch auf »Rhapsody in White«, dem Debüt von Love Unlimited, zu finden. Dazu hieß es verschachtelt: »Ein eleganter Himmel voller Geigen als discofizierte Aufforderung ›Follow The Yellow Brick Road‹ (Outta The Ghetto). Quasi das Mothership der Disco-String-Theorie.«

»Over The Rainbow«

Wobei mit der »Yellow Brick Road« jene gelbe Backsteinstraße gemeint ist, über die Judy Garland im »Wizard of Oz« weit »Over The Rainbow« tanzt. Spätestens seit den Stonewall Riots von 1969 (die ihrerseits wieder dazu führten, dass in New York queerfeindliche Gesetze fielen, was wiederum für die Entstehung von Disco nicht ganz unwichtig war) steht »Over The Rainbow« auch für all jene, die mit der Regenbogenfahne für ihre Rechte kämpfen. Von daher war Disco (vor allem in den USA) auch schon immer ein Ort (bzw. ein Safe Space) queerer Utopien (2022 haben u. a. Acts wie Beyoncé, Honey Dijon, Lizzo immer wieder daran angeschlossen und erinnert).

Was nun die »Disco-String-Theorie« betrifft, so haben in ihr die Geigen vor allem die Funktion, die Straße (bzw. das Ghetto) zumindest für kurze Zeit (für einen Song, eine Nacht, ein Wochenende) zu verlassen. Ob das nun der Himmel oder sonst ein »Higher Ground« ist, sei hier einmal dahingestellt. Jedenfalls geht es hier auch um Optionen bzw. Utopien, die, wenn schon keinen Himmel auf Erden, dann zumindest etwas anderes (besseres) als die Straße (oder Bling Bling) in Aussicht stellen.

»Outta The Ghetto«

Politisch formuliert bedeutet dies aber auch, dass es ein »Outta The Ghetto« nicht nur am Dancefloor, sondern auch in der Realität geben muss. Mit anderen Worten: Die »Disco-String-Theorie« steht in der Tradition der »Politics Of Dancing«, fokussiert sich dabei aber auf einen Aspekt, der gemeinhin auch generell in der Popmusik eher mit Kitsch, Pathos, Schmalz und Süßlichkeit assoziiert wird.

Schon beim Motown-Soul der 1960er spalteten sich bekanntlich die Geister gerade, wenn es um das Thema Geigen ging: Während die eine Seite (inklusive weißer Soul-Puritaner*innen) dies als quasi Verrat an einer als »schwarz« gelesenen und dabei »Blackness« immer auch als »Verschwitztheit« im Sinne einer Authentizität qua Cotton Picking rassistisch romantisierenden Musik verstand, so sah die andere Seite darin die Transformation von Rhythm’n’Blues als Soul hin zu Pop als eine Utopie, die Grenzen von race, gender und class zumindest als Idee hinter sich lassen konnte.

Zwischen Schmalz und Eleganz

Womit aber auch eine gesellschaftliche Transformation gemeint war: Sichtbarkeit im öffentlichen Raum und in TV-Shows. Nicht zufälligerweise tauchen genau solche Streicherarrangements dann Anfang der 1970er in den stilprägenden Blaxploitation-Soundtracks von Curtis Mayfield (»Superfly«) und Isaac Hayes (»Shaft«) wieder auf. Deren melodramatische Funkyness musste quasi früher oder später in der Disco landen. Hinzu kommt aber auch noch der Aspekt »Eleganz«, der nur zu oft als »Schmalz« (oder Kitsch) missverstanden wurde. Rockistische Ohren haben es bekanntlich lieber »schweißtreibend« und schon Ende der 1950er blieben bei posthum mit Streichern versetzten Buddy-Holly-Songs die entsprechenden Shitstorms nicht aus.

Nicht umsonst stehen Geigen im Pop schon immer im Verdacht, jeglichen Authentizitätsfetisch wortwörtlich mit einem Streich zerstören zu können, machen dabei jedoch gleichzeitig jeden Buddy-Holly-Lovesong zu einem Douglas Sirk-Teenage-Drama. Im Glam-Rock hat das vor allem Marc Bolan mit T.Rex intuitiv verstanden und exemplarisch auf den Punkt gebracht.

Von den »Strings« zu den »Synths«

Zur eigentlichen »Disco-String-Theorie« gehören neben Barry White, dessen Debüt »I’ve Got So Much To Give« im März 1973 gleichsam Disco eröffnete, aber auch noch u. a. die Philly-Abteilung um MFSB (»T.S.O.P. – The Sound of Philadelphia«), natürlich Chic sowie das SalSoul Orchestra, welches neben vielen Eigenproduktionen auch auf fast allen klassischen Maxis des legendären New Yorker Disco-Labels SalSoul zu hören sind. Daneben gibt es auch jede Menge obskurer, gleichermaßen Genie und Wahnsinn auf den Dancefloor transformierender Disco-Symphonien zwischen Wagner, Rachmaninov, Operette und Science-Fiction-Soundtracks.

Das Ende dieser ersten Welle der »Disco-Strings« kam dann mit den ersten Synthesizern. Zwar teuer in der Anschaffung, aber auf Zeit gesehen wesentlich billiger als so ein mitunter 40-köpfiges Disco-Orchester (noch dazu, wenn die Strings von der New Yorker Philharmonics kamen), übernahmen immer öfters synthetisch generierte Streicher die entsprechenden Parts. Exemplarisch hierfür wohl die Arbeiten von Patrick Cowley and Sylvester Ende der 1970er, die dann auch zu Stilen und Genres wie High-Energy, House und Techno führen sollten. Zudem erweiterten die Synthstrings den utopischen Raum vom Himmel hin zum Weltall, wo sich Giorgio Moroder und Donna Summer mit Cowley und Sylvester trafen. Aber das ist dann schon wieder eine ganz andere Geschichte.

Dieser Text ist der Remix eines Beitrags für die von Klaus Walter gestaltete Sendung »Kommt ’ne Geige in die Disco … K(l)eine Witze über Streicher«, die am 27. September 2022 im Rahmen der Reihe »WDR 3 open: Ex & Pop« ihre Erstausstrahlung hatte. Bis 28. September 2023 hier nachzuhören.

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