Ad hoc fallen einem zwei große und bedeutende Verweigerungsplatten der Musikgeschichte ein: »Spirit Of Eden« von Talk Talk und »Tilt« von Scott Walker. Erstere katapultierte die damalige Popband Talk Talk ins kommerzielle Abseits, zweitere Herrn Walker ins Jenseits von jeglichen Popmusik-Erwartungshaltungsrahmen. Talk Talk waren danach bald Geschichte, Scott Walker spricht seither, zumeist unterbrochen von jahrelangem Schweigen, mittels erratischer Musik aus seiner kryptischen, selbst konstruierten Welt. Live auf einer Bühne hat man ihn außerdem schon seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt.
Komplex komponierte Song-Kleinode
Jetzt also auch Julia Holter. Dass diese Frau kann, schließlich hat sie ein abgeschlossenes Kompositionsstudium vorzuweisen, weiß man. Können hätte sie also auch schon auf »Have you in my Wilderness« können, nur zu tun hat sie sich offenbar nicht getraut. So kleidete sie zu dieser Zeit ihren erhöhten Popmusikanspruch in komplexe Song-Kleinode, zu denen sich zwar nur schwer mitsingen ließ, die aber dennoch nach mehrmaligem Hören gut ins Ohr gingen. Auch seinen Freund*innen konnte man diese Musik vorspielen, ohne völlig entgeisterte Blicke zu ernten. Jetzt mit »Aviary« wagt sie, was sie schon immer hätte tun können. Lediglich zwei beim ersten Hören erkennbare Anker haut sie den Rezipient*innen hin: »I shall Love 2« und »Words I heard«.
Der Rest ist wirklich schwere Hörarbeit. Das Fassen von Melodien und Strukturen muss man sich hier mit mehrmaligem, intensivem Hören erst regelrecht verdienen. Gleich im ersten Track jubiliert sie so, als wollte sie Björk ernsthaft Konkurrenz machen. Dazu gibt es schönste Kakophonie. Stimme und Musik sind fern, schwer greifbar. Man ertappt sich dabei, zu vermuten, dass Anlage und Kopfhörer nicht richtig justiert sind. Danach schält sich mit Track Numero 2, »Whether«, eine erste wirkliche Melodie heraus. Aber auch sie ist vergraben. Die Wellen des Experimentellen drohen auch diese zu ertränken. Und ist das eigentlich ein Dudelsack, der da trötet? Aber das ist erst der Anfang. Ebenjenem wird ein paar Tracks später ausführlich Zeit gegeben, an den Nerven der konventionellen Hörgewohnheiten zu sägen.
Rauschhaftes Musiklabyrinth
Dabei ist allein schon die Länge des Doppelalbums eine absolute Zumutung in den heutigen Zeiten. Stolze 90 Minuten lässt sich Fräulein Holter bitten, auf den Punkt zu kommen, und tut es dann doch lieber nicht. Stattdessen raunt sie, flüstert sie, singt sie. Nicht immer auf Englisch, manchmal muss es auch Latein sein. Um die historischen Bezüge zu verstehen und alle intertextuellen Verweise zu entdecken, braucht man ohnehin ein ganzes Pophörerleben. Natürlich ist es aber auch erlaubt, die Platte einfach so vorbeirauschen zu lassen und in die seltsame Rauschhaftigkeit dieses Albums einzutauchen. Denn so ganz verstanden werden will Julia Holter wohl so oder so nicht mehr. In einer immer komplexer werdenden Welt hat sich Holter ihr eigenes Musiklabyrinth errichtet, in dem man sich faktisch verirren muss.
Einzelne Fäden verheißen Auswege. Doch über die lange Spielzeit verläuft man sich immer mehr. Verstrickt sich. Genießt und lässt sich gerne irritieren. Denn immer wieder tauchen in den komplizierten Songgebilden rettende Strukturen auf, die Holter aber stets wieder genussvoll auflöst. Spätestens nach Track Nummer 7 fragt man nicht mehr. Und tatsächlich erscheint einem die zweite Albumhälfte, die verstärkt von Pianomotiven geprägt ist, dann fast schon zugänglich. Joanna Newsom und Kate Bush werden zunehmend zu Referenzpunkten. Doch das Genie von Holter kappt auch diese Referenzen. Sie hat eine ganz eigene Welt erschaffen, die einen überwältigt und förmlich erschlägt. Man lässt es bereitwillig geschehen. Und will spätestens nach dem dritten Hördurchgang keine Sekunde dieses Albums missen.