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Die Ratte verfolgt eine andere Musik

Bei Tricky Women, dem internationalen Animations-Filmfestival, wird es sehr eigentümlich Filme zu sehen geben. Manche nur mit Linien und Musik. Im zeichnerischen Fokus: Kanada!

»so far«, Lydia Kaminski (Österreich 2015)

Eine große schwarze Ratte, also ein Männchen – analog zu einem Mäuserich, ein Ratterich? – hört laut Heavy Metal, Tendenz Richtung Hardcore, raucht und trinkt, relativ glücklich in seiner Wohnung. Er lässt das Leben einen guten Mann sein und hängt einer proaktiven, destruktiven Lebensweise an. Plötzlich wohnt, keiner weiß warum, eine kleine weiße Katze bei ihm, sitzt strickend am Sofa. Ein »Weibchen«.

»Weibliche« Wohnungsveränderungen werden rasant rückgängig gemacht, der Rattentyp versteckt die Blumen, hängt ein Bild ab, die Katze faucht böse, als er Kaffee verschüttet. Trautes Zusammenleben voller Aggressionen. Die estnische Filmemacherin Chintis Lundgren zeichnete diesen »Lehr-Film« über Musik und gegenseitige Blockaden, über angelernte, brave Kunst und räudige Eigenständigkeit. Die Katze spielt am Klavier »Für Elise« – das Stück für brave Mädchen. Das Rattenmännchen verfolgt eine andere Musik. Die Katze putzt sein Leben aus, er schmeißt mit Geschirr, sie vernichtet sein Schachspiel, er macht ihr Klavier kaputt, sie seine Platten. Beide packen ihre Koffer und streiten, wer als erstes den anderen verlässt. »Elu Herman H. Rott’iga/Life with Herman H. Rott« heißt der Trickfilm.

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»Elu Herman H. Rott´iga / Life with Herman H. Rott« von Chintis Lundgren (Estland 2015)

Im Gasthaus sieht man Herman H. Rott rauchend die Katze beobachten, die in einer Band Schlagzeug spielt. Sie kann also auch anders. Er speibt und geht wieder nach Hause. Fliegen surren. Die Ratte verwendet selber den Staubsauger in der zerstörten Wohnung, die Katze kommt zurück, liest ein Buch und verschüttet Kaffee. Er wischt auf. Die Katze trinkt Rotwein. Herman, der Rattentyp, spielt dissonant und selbsterfunden Klavier. Viel schöner und einfallsreicher als das blöde »Für Elise«. Die Katze verschwindet, die Tür fällt ins Schloss, das Rattenmännchen steht am Balkon und raucht. Ob sie wieder Schlagzeug spielt?

Lines Horizontal

Beim Tricky Women Festival wird in diesem Jahr der Schwerpunkt auf Kanada gelegt. Pionierinnen wie Evelyn Lambart, die bereits ab 1944 Animationsfilme zeichnete, werden gezeigt. »Film ab, bitte«, sagt die Vorführerin und noch einmal draußen vor der Türe im Metro Kino: »Film ab!«. Der Tricky Women-Trailer wurde von der Kanadierin Martine Frossard gezeichnet. Hüte über die Augen, Haarwolken, wabernde Linien, sich drehende Frauenköpfe. Die sehen nichts, diese Frauen, oder sie sehen innere Welten. Blau. Nur zwei Linien, die sich treffen und auseinandergehen, während das Blau lichter wird. Evelyn Lambart zeichnete 1962 den Film »Lines Horizontal« (1962), der von seinen Farben und der Musik des amerikanischen Folkmusikers Peter Seeger lebt. Mehr Linien erscheinen, rosa-lila Farbrauschen, die roten Polstersessel leuchten im Widerschein. Schon ganz viele Linien, blutrot auf rosa, rot auf gelb und wieder blau auf blau. Hat was von einem Frühlingstag dieser Film, der wiederkehrenden Dämmerung nach dem Winter, dem blauen Licht.

Doch auch aktuelle politische Themen, so genannte Dauerbrenner, spiegeln sich im trickreichen Schaffen. Lydia Kaminski zeichnete in »so far« (2015) Ausdrücke der Lebensformen von MigrantInnen, die in Österreich ein neues Leben beginnen – wie passend, ein Stop-Motion Film. »I lost my visa, I lost my daughter«, erzählt ein Kolumbianer, dessen soziale Herkunft sehr wohl etwas mit seinem Leben zu tun hat. »In my culture death is not bad, death is part of culture …« Er hat einem Freund, der ihn darum bat, sein Leben zu nehmen, wirklich »geholfen« und leidet darunter: »I want to nihilate, I want to fall down«. Andererseits treibt ihn ständig etwas an, trotz heftiger Selbstverlustgefahr. »I have this tschtsch (klatscht in die Hände, um Geschwindigkeit und Rhythmus anzuzeigen, the driving moment) in me. I want to change!«

Sehr schön ist dieser Fim gezeichnet. Eine Perserin verließ den Iran, weil sie auch in der Öffentlichkeit tanzen und laut lachen wollte. Man sieht roten Staub, eine kleine Figur geht zum Flugzeug, eine rote Staubwolke wirbelt hinter ihr her. Ulduz heißt sie, man sieht nur Haare, Wind, ein Auge.

Batterie der Selbstvernichtung

Arbeitslose erhalten ein Gratis-Handy, über das ihre Freizeit vermarktet wird. Das Beobachten ihres Verhaltens bringt Geld. Heftig ist der Film »Das Handygesetz« von Mariola Brillowska und völlig dissonant in den lustigen Science Fiction-Zeichnungen und dem anstrengenden Inhalt. Kapitalismus auf die Spitze getrieben: Was der Arbeitslose ausscheidet, kann er der Pharmaindustrie anbieten. Liegt er oder sie im Koma, so wird die Geldeinsparung mit einem Haus belohnt. Elektroschocks bei krankhaftem Konsum, es gibt eine Batterie der Selbstvernichtung, und selbst der Kadaver wird vom eigenen Handy aus noch drei Tage lang gecheckt und entstrahlt. Schrecklich ausgemalt, das Ganze.

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»Das Handygesetz« von Mariola Brillowska (Deutschland 2011)

»Unser Feuer lodert immer noch!«, sagte eine Organisatorin zu Beginn, auch nach 15 Jahren Betrieb gibt es immer wieder neue und andere Welten zu sehen.

Home / Kultur / Film

Text
Kerstin Kellermann

Veröffentlichung
14.02.2016

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