»Die Krise heisst Höhepunkt« heißt einer der diversen Spielzeitanfangs-Werbeslogan des Residenztheaters. Kräftige rote Schrift auf schwarzem Grund. Die Werbekampagne in den Straßen der Stadt im Vorfeld lässt nicht daran zweifeln, dass man alles andere als bloß elitär l?art pour l?art präsentieren will. Natürlich. Dass es definitiv intellektuell um Auseinandersetzung und Widerstand gehen soll. Dies allerdings erstklassigen Stils. Und doch auch als Kontrapunkt zu mainstreamigen Events. Die Münchener Kulturszene muss dabei vielleicht erst mal zeigen, dass es das Residenztheater wirklich wert ist.
Hinreißend souveräne Schauspieler mit einer guten Brise Coolness und Exklusivität
Foto: © Hans Jörg Michel
Aufführende und Regie sind ein namhaftes Team. Die Souveränität nicht überstrapaziert prätentiös, sondern klar, präzise und zeitgemäß. Theater und Relevanz.
Nachdem ein zum Außenseiter gemachter Farbiger 37 Kollegen umgebracht hatte war John Smith, der ehemalige Vorgesetzte dieser Personen, einziger ?berlebender. John, hervorragend gespielt von Norman Hacker, ein von Schuldgefühlen beladener Traumatrisierter mit verdächtiger Bekehrung zu Gott. John hatte während des ?berfalls eine rettende Gotteserfahrung und ist nun geradezu missionarshaft unterwegs und kommt jedem damit suspekt vor: seiner Ex-Frau, seiner Ex-Geliebten, einer Ex-Kolleginnentocher und Prostituierter, einer Showmasterin, einem Anwalt und einem Polizisten. John aber ist und bleibt erleuchtet, spricht vom Licht Gottes und von Gottes Stimme. Früher ein grässlicher, machohafter Charakter, ist John nun ein Weichgespülter, der in Sachen übermäßiger Güte unterwegs ist und auf andere dabei lächerlich wirkt. Er scheint nach dem ?berfall in einem psychischen Ausnahmezustand zu bleiben.
Die Textvorlage von Neil LaButes »Zur Mittagsstunde« ist so exzellent wie die Leistung der Schauspieler auf der Bühne des Residenztheaters. Von Wilfried Minks stammt sowohl Bühnenbild als auch Regie. Und zwar alles hochgradig perfekt. In der Tradition des amerikanischen Realismus. Genau so lässt sich tatsächlich auch die Substanz der Arbeit des amerikanischen Malers Edward Hopper weiterentwickeln und umsetzen. Die Bühne ist fast wie mit den Augen und der Lichtregie eines Hopper-Nachfolgers gesehen. Die Schauspieler in Kostümen von Renate Martin und Andreas Donhauser sind geradezu wie Figuren aus einem Hopper-artigen Gemälde. Allerbester Realismus.
Der Regisseur Calixto Bieito hat in Zusammenarbeit mit Marc Rosich und der Bühnenbildnerin Rebecca Ringst eine Collage auf die Bühne gebracht, die aus Musik, Texten und Szenen zum Stichwort »Passion« zusammengesetzt ist. Zentrale Themen sind Schmerzerfahrung, Leid, Abgrund, Angst, Trauer. Und zwar ohne Religion. Collagenhaft wie das Inhaltliche auch formal die Bühnenrückwand, bestehend aus vielen beweglichen, schwarzen Lautsprecherboxen und eingefügten Monitoren, auf denen Augen und Lippen zu sehen sind. Die vom Kopenhagener Betty Nansen Teatret aufgeführten Bühnenszenen von »Voices« vor dieser Wand wirken teils übermäßig pathetisch, teils auch sehr amüsant skurril. Manchmal in einer Stimmung wie mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Szenen wie eine Höllenvision zwischen Barock und Punk. Ein »Tanzen-auch-auf-Gräbern«: Tanzen, singen, schreiben, damit in einer sinnlos scheinenden Gegenwart die Vergangenheit nicht auffrisst und in der Zukunft eine Protagonistin »Der Tod wird mich lebend antreffen« sagt. Unzählige Texte und Songs sind aneinandergeschachtelt, von so konträren Charakteren wie beispielsweise Thomas Bernhard und Johnny Cash, PJ Harvey und Cesare Pavese, J. S. Bach und Cormac McCarthy. Eine Inszenierung an der Borderline von Kitsch, Kunst und Psychogramm. Und mit Kinderchor. Bieito hat aus diesem schwerlastigen, düsteren Stück eine Art nahegehend unterhaltsames Musical gemacht.
»… der Raum blinzelt den Flaneur an …« (Walter Benjamin)
Foto: © Jörg Koopmann
Als Theaterbesucher irrt man umher zwischen Schauspielern, die Flugpersonal und Passagiere sind, zwischen zwei Hallen, vielen Türen und Gängen, die nirgends weiterführen und zwischen Stückszenen, Fernsehfilmbildern und Videoleinwandprojektion im Düsteren und zwischen blauer Beleuchtung . Das ganze Areal des Marstall ist vom Ausstatter Alain Rappaport zur Bühne gemacht auf der sich die Stückemacher und das Publikum ohne formale Trennung gemeinsam aufhalten. Jeder ist mittendrin, wählt jederzeit frei aus, wo er was miterleben will. In einer labyrinthartigen Abflughalle. Flugverbot für alle. Alle sitzen fest. In »Eyjafjallajökull-Tam-Tam«, geschrieben von Helmut Krausser und inszeniert von Robert Lehninger, vermischen sich Kommunikationsszenen, Theaterszenen, Beobachtende. Schließlich Pogo mit Band auf einer Bühne und eine Art Endspiel zur akustischen Gitarre ums Lagerfeuer. Ist das Krausser light? »Wenn?s überhaupt Kunst wäre«, wird einem gestrandeten Künstler im Stück gesagt. Vielleicht so etwas wie eine Lockerungsübung zwischendurch für Autor, Regisseur, Performer, Zuschauer. Transiträume sind so. Flugplatzhallen sind Transiträume. Nicht-Orte als Schutzraum, Halt oder Endstation, Abgrund. »Transitorische Räume sind die gültigen Orte unserer Gegenwart – ästhetisch austauschbare Orte flüchtiger unverbindlicher Begegnungen, die man einsam durchquert, während man zugleich in der Masse all der Anderen geborgen scheint …« (Marc Augé). Das Stück ist für das ganze neue Ensemble des Residenztheaters geschrieben, das sich damit vorstellt. Zwei zentrale Stückfiguren sind Künstler, die sich der Erschaffung von Neuem, Autonomem verschrieben haben. Der Zuschauer wird Flaneur. Gesprächsthemen der Szenen sind Leben und Tod, Galaxien des Alltags und der Welt und des Alls. Nach knapp eineinhalb Stunden mischt man sich draußen ins Innenstadtleben, so wie man sich vorher unter die Reisenden und Wegelagerer in der Abflughalle des Stücks mischte.
»Wir Glückskinder der ersten Globalisierung«, Veranstaltungsreihe von, zu, mit, über Alexander Kluge – »… In den Lücken des Eises hatten sich unsere Vorfahren für Millionen Jahre zur Verteidigung eingerichtet, Lebenskraft gestaut.Jetzt löste sich der Bann, der Planet erwärmte sich. Die Lebewesen breiteten sich über den Erdball aus, zu Wasser, zu Lande. Dies war die erste Globalisierung …« (Kluge)
Ein Musikprojekt von Gustav und der Film »Landschaften mit Schnee und Eis« von Alexander Kluge treffen zum Thema »Hitze Kälte« aufeinander. Das Wiener Songwriter- und Medienkünstler-Zuckerstückchen Gustav mit den schwer inhaltlichen Texten und leichten Popmelodien hat sich mit einem Kaliber wie Kluge auseinandergesetzt. Gustav, namentlich Eva Jantschitsch, hat die Show »Kluge Hitze Kälte« zusammengestellt. Und das dann mit Band und mit Projektion im Marstall sehr hübsch auf die Bühne gebracht. Dafür verwendet wurden von Gustav produzierte Filmaufnahmen und Sequenzen aus »Landschaften mit Schnee und Eis« von Kluge. Zu Laptop-Musik mit Band ein stimmungsvolles Bühnen-Bilderbuch. Im zweiten Teil des Abends gibt es den ersten Teil des genannten Kluge-Films zu sehen. Wenn auch nicht jeder Gustav-Fan bleibt und dann die Filmrezeption will. Kluge, der fast 80-jährige gesprächsgewandte Filmemacher, Fernsehproduzent, Schriftsteller und Drehbuchautor kommentiert zwischendurch die Veranstaltung. Und er, einst Adorno-Schüler, wiederholt aus einem Gustav-Song den Satz: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen Hasen«. Und es gibt Stichworte wie: Mehr Glück als Verstand, Spiel im Kopf, kleiner Mann im Ohr, Schnee, Lampe, Katze, Welt … – »… Globalisierung. Von diesem Glücksfall tragen wir einen Hoffnungsvorrat in uns, in den Knochen, den Augen, den Ohren, in unserem Gehirn, auf der Haut, in jeder Regung.« (aus »Die Lücke, die der Teufel lässt«, Kluge)
Die Kluge-Reihe wird fortgesetzt, mit Diskussion, Lesung, Film.
»Ich denke Slavoj Zizek hat Recht, der Philosoph aus Ljubljana, der feststellt, dass wir in einer Welt süchtiger ?berbietung leben, in der Schocks und Katastrophen ihre provokative Kraft verloren haben.« (Martin Kusej)