In diesem Jahr findet Wien Modern zum 38. Mal einen Monat lang in Wiener Konzerthäusern, Clubs, Foyers, Museen und auf öffentlichen Plätzen statt. Das Festival ist für Neue Musik ein bisschen das, was die Wiener Festwochen fürs Theater sind. Während sich der Intendant der Festwochen 2025 zum Verhältnis von Kunst und Gesellschaft vor allem im Rahmen eines Brechtschen Realismus Gedanken gemacht hat, richtet Wien Modern in dieser Ausgabe aber den Blick nach vorne. Das Festival sucht nach neuen Formen für engagierte Kunst und fragt unter dem Motto »The Great Learning« nach Impulsen der Musik für den gesellschaftlichen Wandel. Wir haben mit Kurator Bernhard Günther über das Festival gesprochen, das am 30. Oktober im Wiener Konzerthaus eröffnet wird. Ein Interview mit dem diesjährigem Ko-Kurator George Lewis findet ihr hier.
skug: Lieber Bernhard Günther, Sie haben in diesem Jahr ein persönliches Jubiläum. Als künstlerischer Leiter sind Sie seit zehn Jahren für Inhalte, Spielstätten und Programme von Wien Modern verantwortlich. Können Sie uns ein persönliches »High« und ein persönliches »Low« in zehn Jahren Wien Modern verraten?
Bernhard Günther: Was ich eindeutig als »Low« verbuche, ist die Kulturfinanzierung im Musikbereich in Wien und Österreich – auch im Blick auf den enormen Zeitaufwand und persönlichen Einsatz, den es hinter den Kulissen jedes Jahr erfordert, um Wien Modern finanziell auch nur halbwegs möglich zu machen. Mein großes Highlight hingegen ist das Wiener Publikum und wie es sich entwickelt – in meinen ersten drei Jahren haben sich unsere Besuchszahlen verdreifacht. Bei so einem großen Interesse macht es Freude, genau hier an diesem Festival zu arbeiten.
Das Motto von Wien Modern 38 ist »The Great Learning«. Auf dem Festivalpass steht darunter »Neue Musik für die Stadt«. Welche Bedeutung hat die Stadt Wien für das Festival Wien Modern? In diesem Jahr und in der Geschichte des Festivals?
Wien Modern war von Anfang an ein urbanes Festival. Allein schon mit dieser Länge von fast fünf Wochen ist es wirklich zuerst einmal für die Menschen in dieser Stadt da und nicht für ein internationales Fachpublikum, das sich irgendwo mal kurz für ein Wochenende trifft. Diese Größenordnung, Dichte und Vielfalt, mit heuer über 170 Komponist*innen und Improvisator*innen in 115 Veranstaltungen in 29 Spielstätten, von Club bis Oper – das gibt es in dieser Form so nur in Wien. Und gerade, wenn wir uns über Diversität Gedanken machen, finde ich Wien sehr spannend als Festivalstandort. Hier wächst nicht nur die Bevölkerung, sondern auch das Gespür dafür, dass Diversität bei allen Herausforderungen sehr gut und notwendig für die Stadt ist. Wenn es in Wien nicht seit 1988 endlich wieder mehr Migration gegeben hätte, wären wir inzwischen schon keine Millionenstadt mehr. Heute leben hier 37 Prozent mehr Menschen als vor 37 Jahren. Das bedeutet vereinfacht gesagt auch 37 Prozent mehr Diversität, mehr Sprachen, mehr kulturelle Backgrounds, neue Perspektiven. Wien entwickelt sich – das nehmen wir als Inspiration und Aufgabe für unser Programm und unsere Haltung.

Der Teaser zum 38. Festival auf der Wien-Modern-Website fragt nach dem Beitrag, den Musik leisten könne, die – Zitat – »Lernkurven der Gegenwart so elegant wie möglich zu nehmen«. Können Sie uns das genauer erläutern? Muss Musik gesellschaftliche Beiträge leisten oder kann Musik nicht auch einfach eine sinnliche Erfahrung sein, sowohl beim Musikmachen als auch beim Musikhören?
Musik ist sowieso eine großartige Erfahrung, vor allem live bei einem Festival, mit vielen anderen Menschen im Raum. Aber »sinnlich« sind ja im Zweifelsfall auch schon Shampoo und Schokolade, da kann Musik schon etwas mehr. Wir haben heuer einige Werke und Projekte im Programm, die konkret die Frage stellen, was Musik zur Gemeinschaft, zu einer Community, zur Gesellschaft beitragen kann. Cornelius Cardews Stück »The Great Learning« beispielsweise, 1968–1970 komponiert, bringt hunderte von Menschen zusammen auf die Bühne, ganz gleich, ob sie Musik gelernt haben oder nicht, ob sie viel Erfahrung haben oder gar keine. Bei so einem Stück geht es nicht nur darum, wie das Ergebnis dann klingt, sondern wie das Hören und Spielen von Musik dazu inspirieren kann, über die Gesellschaft nachzudenken, darüber, wen Kultur einschließt und wen sie ausschließt, was uns auseinandertreibt und was uns zusammenbringt. Und Lernen ist ja nichts, vor dem man sich fürchten muss; etwas Neues kennenzulernen kann ja auch eine wunderbare Erfahrung sein.
Ich denke beim »großen Lernen« auch daran, ein Instrument zu lernen. In der Erinnerung mancher ist das mit Zwang, Wiederholung und wenig empathischen Lehrkräften verbunden. An Musikhochschulen begegnen Studierende nicht selten massivem Wettbewerb und Konkurrenzdruck. Wie blicken Sie auf das akademische Umfeld in der Musik? Sehen Sie die neue Musik in der Aufgabe, Bühnen für alternative Lernbiografien zu schaffen?
»Es ist die Tragödie der Musik, dass sie mit Perfektion beginnt«, hat der Komponist Morton Feldman vor fünfzig Jahren gesagt. Gerade der klassische Musikbereich identifiziert sich noch immer extrem mit »Exzellenz«, das kann tatsächlich manchmal sehr mühsam, exklusiv und innovationsfeindlich sein. Aber im Bereich der Neuen Musik gibt es ja auch sehr viel anderes – beispielsweise hat bei uns im Festival der Anteil an improvisierter Musik, an Nachwuchsprojekten, an neuen Konzertformaten, Klanginstallationen und Performances in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Virtuose Stücke spielen oder komponieren zu können, ist nicht mehr der einzige Weg zu einer Karriere. Neue Musik kann da, in aller Bescheidenheit, ein paar Alternativen sichtbar machen.
George Lewis ist dieses Jahr Ko-Kurator bei Wien Modern. Das Festival wird von seiner Komposition »Weathering« eröffnet, 2023 in New York uraufgeführt. Weathering, also Verwitterung, ist eine Metapher für die kontinuierliche Konfrontation mit impliziter und expliziter Diskriminierung. Das führt zu einem langsamen Auf- und Abreiben Betroffener, so wie Hausfassaden sukzessive verwittern. Im Programm sagt Lewis zu seiner Komposition: »Ich hoffe, dass diese Musik nicht Stress, sondern Empathie erzeugt, denn vielfältige Formen des Weatherings betreffen uns alle.« Ist Neue Musik die Möglichkeit für eine dekolonisierte Musik oder ist Dekolonisierung eine Aufgabe, der sich die Neue Musik erst stellen muss? Und möchte Wien Modern 38 sich dieser Aufgabe stellen?
Österreich ist unter den Top 20 der reichsten Länder der Welt. Österreich und Deutschland nehmen im Rassismus-Ranking der Grundrechte-Agentur der EU die unrühmlichen Spitzenplätze ein. Bis wir verstehen, wie sehr Privilegien und Diskriminierung Teil unseres Kulturlebens sind, haben wir noch eine ziemlich steile Lernkurve vor uns. Wir würden uns in die Tasche lügen, wenn wir uns auf den Standpunkt stellen, dass Neue Musik kleiner und weniger reich ist als andere Musik- und Kulturbereiche und deswegen weniger Verantwortung oder weniger Handlungsbedarf hat. Wir müssen begreifen, was da falsch läuft, wir müssen dazulernen, wir müssen Dinge ändern und wir müssen darüber reden.

Den Auftakt zu Wien Modern gibt am 30. Oktober das ORF Radio-Symphonie-Orchester unter der Leitung von Vimbayi Kaziboni. Gespielt werden im Großen Saal des Wiener Konzerthauses die Kompositionen »Weathering« (2023) und »Your Network is Unstable« (2024) von George Lewis, »Schattenspiel« (2023) von Jessie Cox und Hannah Kendalls »He stretches out the north over the void and hangs the earth on nothing« (2023). Das ganze Programm zu fünf Wochen Wien Modern von 30. Oktober bis 30. November 2025 findet sich hier.











