Das Buch I der sogenannten »Metaphysik« von Aristoteles bringt zunächst einige epistemologische Ûberlegungen, die eine mehr oder weniger neue, jedenfalls eine »gesuchte« Wissenschaft in Aussicht stellen, sodann historisch-kritische Ausführungen zu Theorien, die als unvollkommene Vorläufer einer nun in Angriff zu nehmenden Wissenschaft gelten sollen; auf den letzten zwei Seiten wird wiederum diese näher ins Auge gefasst, und erstmals bekommt sie die Bezeichnung »erste Philosophie«. Es sei nun dahingestellt, ob die historisch-kritischen Ausführungen uns mehr Informationen über die älteren Theoretiker oder über die aristotelische Betrachtungsweise bzw. die aristotelischen Positionen liefern. Herausgreifen möchte ich einen Punkt, den ich schon früher bemerkt habe und der für eine größere Eigentümlichkeit der griechischen Philosophie steht.
Dieser Punkt sieht so aus, dass Aristoteles in seiner zweiten Auseinandersetzung mit der Lehre Platons, im Kapitel 9, die Idee des Menschen mit einem Ausdruck bezeichnet, der nicht dem gemeinen Sprachgebrauch entspricht, sondern einen Neologismus darstellt, dessen Bildung allerdings doch nicht ganz ungewöhnlich ist. Eine Wortbildung, die so zustandekommt, dass man einem Substantiv das Präfix »auto« voranstellt, was die Bedeutung dieses Substantivs eher steigert, und zwar in Richtung Echtheit. Beispiel: autopais = leiblicher Sohn. Der von Aristoteles gebildete Ausdruck lautet autoanthropos und würde nach dem üblichen Schema so etwas bedeuten wie echter, leibhaftiger Mensch. In der Ûbersetzung von Franz F. Schwarz (bei Reclam) heißt es »Mensch an sich« – eine gewissermaßen kantische Ûbersetzung, sofern Kant das »Ding an sich« erfunden hat. In unserem Text kommt der Ausdruck zweimal vor – 991a 29, 991b 19. Beide Male ergibt der Kontext, dass die platonische Idee des Menschen gemeint ist, folglich die deutsche bzw. kantische Ûbersetzung nicht unrichtig erscheint.
Substantivierungsstrategien
Meinem momentanen Wissensstand zufolge gibt es bei Platon diese Wortbildung nicht und das heißt, dass Aristoteles hier für eine philosophische Erfindung seines Lehrers, und zwar für seine berühmteste Erfindung, nämlich die »Ideen«, eine terminologische Ausdrucksweise nachgeliefert hat, die das Wort »Idee« vermeidet, und stattdessen für die Idee eines jeden Wesens die Bezeichnung für das Wesen mit dem vorangestellten auto vorschlägt: autoanthropos heißt dann allerdings nicht »leibhaftiger Mensch«, wohl aber »echter Mensch« im Sinne von »eigentlicher Mensch«, »wahrhafter Mensch« oder »Urmensch« – im platonischen Sinn. Der aristotelische Ausdruck stellt dieser Wortzusammensetzung noch ein anderes »Präfix« voran, um seine naheliegende Bedeutung »leibhaftig« von vorherein auszuschalten. Und das ist der bestimmte Artikel des dritten Geschlechts: to – so in 991a 29. Daher muss man wörtlich übersetzen: »das Selbstmensch«, »das Eigentlich-Mensch« oder »das Mensch an sich«. Mit diesem »das« wird »Mensch« eindeutig in eine andere Sphäre gehoben, eben in die Sphäre und in die Seinsart der platonischen Ideen. Wieso ausgerechnet Aristoteles das tut, und zwar in einem Text, der die platonische Ideenlehre skeptisch bis kritisch, ja polemisch bis ironisch behandelt, vermag ich jetzt nicht zu beurteilen. Die aristotelische Platonisierung mithilfe des »das« ist allerdings nur ein Sonderfall für den Einsatz des »das« – ein wie es scheint später, aber auch extremer. Ein später, denn dieser Text dürfte gegen Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. entstanden sein.
Meine These nun geht dahin, dass dieser bestimmte Artikel des dritten Geschlechts einer der Hauptfaktoren für die Erfindung der Philosophie gewesen ist, die sich ungefähr seit dem frühen 5. Jahrhundert zugetragen hat. Die Bildung von Neu-Substantiven mit dem Artikel »das« war ein wichtiger sprachlicher Kunstgriff oder Trick, um einerseits alte und bekannte Wörter zu verwenden und andererseits durch die neue Wortform eine halb-neue, eine zwar verständliche, aber doch auch seltsame Redeweise zu schaffen. Dieser Sprachtrick war nur möglich, weil das Griechische die auch uns bekannten drei grammatischen Geschlechter hatte und zwar mit den Artikeln (im Unterschied zum Lateinischen). Die Substantivierung mit dem Artikel to wurde zunächst vor allem an Adjektiven vollzogen: das Unbegrenzte, das Trockene, das Gemeinsame ( Pythagoras, Empedokles, Heraklit …). Die Substantivierung von Adjektiven ist die naheliegendste, denn die Adjektive sind von den Substantiven nicht so weit entfernt. Ûbrigens lassen sich Adjektive auch mit dem männlichen oder weiblichen Geschlecht plausibel substantivieren: der Mächtige oder der Gütige oder die Schöne sind ebenfalls verständliche Wortbildungen.
Doch die Philosophie ist entstanden, indem die beiden sexuierten (sexuellen) Genera zurückgestellt, beiseitegedrängt wurden (die wurden den Dichtern überlassen) und das asexuelle dritte Genus den Vorrang erhielt. Mit dem wurden dann auch die Infinitive von Verben substantiviert – und das ist ein Schritt weit über die Substantivierung der Adjektive hinaus. In deren Rahmen gehört noch die Substantivierung von Partizipien (die sind ja Verbalnomina) – auch hier im dritten Geschlecht, vornehmlich bei Aristoteles: to on, ta onta: »das Seiende«, »die Seienden«. Und Parmenides: to noein, to legein, to einai: »das Vernehmen«, »das Sagen«, »das Sein«. Mit derartigen Kunstgriffen wird das reflexive Wissen um die Sprache (Linguistik, Grammatik) ins Objekt-Wissenschaftliche gedreht.
Klassische Geschlechterpolitiken
Vielleicht ist Aristoteles, der späte, am weitesten gegangen mit der Schöpfung von Begriffen mittels des Artikels to. Er hat aus der Präposition metaxy mit dem to unseren Begriff »Medium« geschaffen; das Temporaladverb nyn (jetzt) hat er mit dem Artikel substantiviert, um es in den Plural setzen zu können: »die Jetzte«. Ja, er hat ganze Sätze, wenn auch kleine, mit dem to quasi substantiviert, nämlich deklinierbar gemacht und also auch manipulierbar gemacht. Auch komplexere Verbalfolgen können mit dem Artikel to gleichsam zusammengepackt werden und dann wie Substantive eingesetzt werden. Berühmt: to ti en einai. Das to gehört zu einai: dasjenige … sein, aber von dem hängt ab bzw. das wird bestimmt durch diese Art Nebensatz: ti en: was war.
Aristoteles hat also sprachschöpferisch einen Sprachtrick der frühesten Philosophen weiter- und auf die Spitze getrieben. So auch – allerdings platonisierend – mit to autoanthropos: womit der eigentliche, der wahre Mensch bezeichnet wird, der platonische, der – angeblich – asexuelle: »das Mensch an sich«. Im 9. Kapitel von Buch I der »Metaphysik« hat Aristoteles eine ähnliche Operation auch an einem anderen Wort vorgenommen: dyas = Zweiheit, einem Wort weiblichen Geschlechts; einmal versieht er es mit dem Artikel to – so dass man ganz wörtlich übersetzen müsste: »das Zweiheit «. Auch hier meint er damit die platonische Idee der Zweiheit. Es handelt sich um eine regelrechte Geschlechtsumwandlung: aber nicht eine Umwandlung von einem sexuellen Geschlecht in ein anderes, sondern eine Entsexualisierung. Wohlgemerkt tut Aristoteles dieses hier nur als Platon-Referierer – will er sich damit über seinen Lehrer lustig machen?
Walter Seitter lehrte bis 2006 Philosophie an der Universität für angewandte Kunst in Wien.
Empfohlene Lektüren:
»Multiple Existenzen: El Greco, Kaiserin Elisabeth, Pierre Klossowski« Wien: Sonderzahl 2003
(Hg. gem. mit Horst Ebner) Pierre Klossowski: »Unter dem Diktat des Bildes« Wien: Turia + Kant 2008
»Poetik lesen 1« und »Poetik lesen 2« Berlin: Merve 2010 und 2012
»Menschenfassungen. Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft« Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2012 (Neuausgabe)
»Reaktionäre Romanik. Stilwandel und Geopolitik« Wien: Sonderzahl 2012
Weblog zur Aristoteles-Lektüre: hermesgruppe.blogspot.com