Im Oktober 1990 erblickte skug (Akronym für »SubKultur UnterGrund«) das Licht der Welt, 30 Jahre später feiern wir unser Noch-immer-Bestehen, indem wir bisher online unveröffentlichte Texte zutage fördern und ins WWW hieven, diesmal einen Text über das (damals) brandaktuelle Album »Sons of Kraut« der Band FSK (Freiwillige Selbstkontrolle) von Barbara Winkler und Didi Neidhart, veröffentlicht in skug #4, 7–9 1991 und ein Interview von Didi Neidhart mit Thomas Meinecke aus skug #58, 3–5 2004. Viel Vergnügen beim Schmökern!
Southern Kulture Under Glass
Es gibt Tage, an denen sucht man verzweifelt nach klaren Gedankengängen. So wie heute. Und es gibt Tage, da fließen Gedanken samt Budweiser in Strömen. So wie gestern. Eine süddeutsch-österreichische Annäherung in mehreren Etappen.
Als Mitte der 1980er-Jahre das kurz aufschäumende Badewasser der Neuen Deutschen Welle endgültig ausgelassen wurde, orientierte sich das eben erst gefundene Popselbstbewusstsein deutschsprachiger Prägung wieder an anglo-amerikanischen Vorbildern. Im Gegensatz zu anderen aber führte die Suche bei den eher unbeliebten und als »zu nervig-intellektuell« verschrienen FSK zu den Wurzeln musikalisch vermischter Traditionen dies- und jenseits des Atlantiks. Zusammenhänge amerikanischer Jodel- und Country-Tradition mit deutscher Realität im weitesten Sinne sind eine aufregende Erkenntnis ihrer musikalischen Expedition.
Eine Band auf steter Wanderschaft
Von »Ca c’est le Blues« (ein Heim) über »Goes Underground« (ein Wanderweg) zu »In Dixieland« (ein neues Heim), weiter zu »Original Gasman Band« (wieder auf Wanderschaft) und schließlich nach »Son of Kraut« (neue/alte Heimat). Die LPs als Jahrbücher, Forschungsberichte … From altes Mitteleuropa (Deutschland, K.u.K.-Österreich) to Neue Welt (Amerika), from Amerika back to Mitteleuropa. Rückführung von Musiken. Wurzelkunde als einzige Möglichkeit, »amerikanische« Musik in unseren Breiten »authentisch« zu spielen. Schlägt man das Cover der neuen LP auf, so würde man am liebsten auf den gemütlich dreinschauenden Thomas Meinecke zugehen und ihn fragen, ob er einem nicht beim Vergasereinstellen helfen könnte. Ölwechsel und Tanken wären auch nicht schlecht. Die Nachfahren der Krauts kommen aus Krautland, besuchen die Nachfahren der Krauts und von GI Joe in den US of Amerkanien.
FSK sind The Real Deutsch-Amerikanische Freundschaft, die den »vom Wind der Geschichte gebeutelten Stoff« (Thomas Meinecke im Vorwort zum »Pop Alphabet«) der Vorfahren und Einflüsse nicht nur gekonnt zutage fördern, sondern auch fern jeglicher Purismen am Leben halten. Krautscher C&W (Cybernetics & Western). Emsige Forscher versunkener Schätze, die nicht sklavisch an jenen hängen, uns aber Zusammenhänge eröffnen. »Quellen und Spuren« heißt es am Cover von »Original Gasman Band« und Spuren kann man auch bei der Songauswahl auf »Son of Kraut« verfolgen. »Hitler Lives« von Rosalie Allen ist ein gutes Beispiel dafür, ist doch neben der Thematik jener Umstand nicht außer Acht zu lassen, dass Frau Allen Ende der 1940er-Jahre mit dem Jodelkönig Elton Britt mehrere Nummern (darunter die göttliche »Tennessee Yodel Polka«) aufnahm, bei denen man sich während der Jodelparts absolut nicht mehr sicher ist, wo man sich denn nun befindet – Tennessee, Tegernsee, Zillertal oder Matterhorn. Britt wischte ja schon mit »That’s How The Yodel Was Born« alle Gerüchte vom Tisch, es könnte sich dabei um europäisches Kulturgut handeln. Falsch – ein einsamer Cowboy und kein Schweizer Kuhhirte hat das Jodeln erfunden.
Von den Querverbindungen …
Auf der Suche nach »deutscher« Popmusik stößt der ehemalige Kopf der gerade in Europa so beliebten amerikanischen Camper van Beethoven auf FSK. Nach zwei Monaten in Richmond, Virginia, tragen sie jetzt die Früchte ihrer Arbeit zurück nach Europa. Eine neue LP, deren Cover zu den absolut besten der letzten Zeit zählt, voller transatlantischer Gemütlichkeit, Sehnsucht und Schunkellaune: Wild-West-Jodler, Akkordeon-Polkas oder Cover-Versionen von GI-Songs. Gemeinsam mit David Lowery, Carston Huggins und Johnny Hickman präsentieren sich FSK als real-amerikanisierte Südstaatler (egal, welcher Süden hier gemeint ist). Ein großer Anspruch, durchdachtes Konzept und eigenwillige musikalische Umsetzungen kennzeichneten seit eh und je die Produktionen von FSK. Dem Ruf »Band für die deutsche Intelligenz« (sowas kann ja nur ein Diedrichsen laut schreiben) davonlaufend setzen FSK mit ihrer neuen LP und Tour genau auf diesen Ansatz überkontinentaler Vermischung. Deutsche und amerikanische Popmusiker spielen gemeinsam jegliche Kopflastigkeit an die Wand. Jener so gern gesehene Ernst wird mit gefühlvollen Wimmergitarren beiseitegeschoben, es wird nicht gesungen von Herzenslust, sondern auch gejodelt.
Und das alles swingt einem so richtig warm ins Gemüt. Immer wieder stellt sich die Frage nach der eigenen Musikidentität und FSK sind wohl die einzige deutsche Band, die diese Auseinandersetzung ganz bewusst führt. Und das mit viel Spaß und Freude. Ein Klassiker wie »Wooden Heart«/»Muss i denn« zeigt besonders reizvoll diese Mischung, vor allem wenn drei »Amis« auch die deutsche Version singen (Private Elvis Aaron Presley gab sie im »GI Blues« trefflichst auch unter dem Titel »Cafe Europa« in den Kinos zum Besten). »When It Rains in Texas It Snows On The Rhine« wurde von David Lowery für die neue LP geschrieben und Wilfried Petzi zeigt in diesem wunderschönen Country-Heuler, was wahre Jodelkunst sein kann. Symptomatischer Text für eine nunmehr FSK-typische Situation. Hier wird mit Leib und Seele verstanden, um was es geht, Erklärungen sind nicht mehr nötig und nur weil FSK auch in der Lage sind, treffende, gute und geniale deutsche Texte zu schreiben, müssen sie noch lange nicht humorlos sein.
… zum verquerten Durchbruch
Der Spaß an dem ganzen Unternehmen ist nicht zu leugnen, selbst voreingenommene und gemeingefährliche Szenekritiker können sich kaum dem Charme und der Direktheit jener FSK-Konzerte der letzten Tour entziehen. Von den offiziellen Päpsten gerne übersehen, kann ich nur Begeisterung äußern. Wo sind sie alle, die großen Schreier nach unserer Popkultur, nach guten deutschen Bands, nach eigener Musik? FSK ist ihnen zu intellektuell, zu kopflastig, Attwenger zu krass, zu sehr richtige »Volksmusik« (igitt, igitt), die Einstürzenden Neubauten darf man wegen »inzwischen zu etabliert« auch nicht mehr gut finden und alles andere ist sowieso nur billiger Abklatsch von amerikanischer oder englischer Rock- und Popkultur. Der nächste Hype steht schon vor der Tür und der kann doch nicht FSK-artiges Schunkeln sein, auch wenn sie durch amerikanische Vorzeigemusiker etwas medienwirksamer geworden sind.
Neben David Lowery fallen Carston Huggins als Drummer und fantastischer Interpret bester Countrysongs und Johnny Hickman ins Gewicht. Hickman gibt als italo-amerikanischer Bajuware die absurdeste Mischung ab. So durch und durch amerikanisch trägt er die bayrische Tracht wie eine zweite Haut, spielt dann, cool die Zigarette im Mundwinkel, die beste Rock’n’Roll-Gitarre, aber eigentlich sind seine Vorfahren aus Südtirol und zum ersten Mal in Europa ist er ziemlich homesick (»Johnny’s Homesick Blues«). Bleibt noch der deutsche Part, getragen vom altbekannten Thomas Meinecke, Wilfried Petzi und Justin Hoffman sowie Michaela Melian als beständiger Bassspielerin, egal ob amerikanische oder deutsche Interpretationen gefragt sind, mit jenem merkwürdigen Gesagt, der in (wenigen) schwermütigen Momenten eigentlich nur an Nico erinnert. Das liegt wohl an der Fähigkeit, immer Töne zu finden, die ein wenig dazwischen liegen.
FSK in neuer Form, als gelungenes Projekt transatlantischer Folk-Musik, wird getragen von Freundschaft und liebevoller Umgangsweise mit ursprünglichem Material, im Innencover so treffend formuliert: »Brewed in Bavaria, Bottled in in Virginia«. Und selbst wir wissen endlich, was dieses seltsame, undefinierbare Logo auf unserem Magazin heißen soll, dank Thomas Meinecke und Johnny Hickman: Southern Kulture Under Glass. That’s perfect. Prost.
Tanzmusik als Denkmusik
Im September 2003 luden Münchens Freiwillige Selbstkontrolle den Detroiter Techno-Pionier Anthony »Shake« Shakir zu sich ein, um in den Weilheimer Uphon Studios die Tracks ihrer aktuellen CD zu bearbeiten. Grund genug für uns, mit FSKs Thomas Meinecke mal wieder ein längeres Fachgespräch, diesmal u. a. in Sachen produktiven, afro-germanisch-transatlantischen Missverständnissen zu führen. Motto: Read the rhythm!
The Afro-Germanic Motor Cities United Sextet
Thomas Meinecke: Wir überlegten zusammen mit Upstart (Chef von Disko B; Anm.), wie das nächste FSK-Album aussehen würde. Es sollte wieder was probiert werden und wir wollten mal wieder nackt dastehen, uns selbst in Frage stellen. Wie Anfang der 1990er-Jahre, als wir unsere Vorstellungen einer transatlantischen Musik mit dem, was wirklich auf der anderen Seite des Atlantik passierte, direkt konfrontierten und mit amerikanischen Musikern als »German-American-Octet« zusammenspielten. Damals war der Bezugsrahmen im weitesten Sinne Folk und die Dekonstruktion der vermeintlichen Authentizität darin. Das ganze Konzept ging auch um die Live-Situation. Wie etwa beim von Fritz Ostermayer initiierten »Transatlantischen Bierzelt« beim Steierischen Herbst 1992, wo wir zu acht auf der Bühne standen. Diesen direkten Kontakt wollten wir nochmals am eigenen Leib als Band erfahren. Nur sind wir mittlerweile durch (elektronische) Schulen gegangen, die eher mit dem Studio zu tun haben. Jedoch nicht die Laptop-Schule, eher Dub. Wir wollten die CD zuerst auch als Erinnerungen an Dub-/Reggae-Platten »The FSK Band Meets Anthony ›Shake‹ Shakir In The Studio« nennen. Dann haben wir uns doch für »First Take Then Shake« entschieden. Auch wegen der kalauernden Komponenten aus dem Apotheken-/Drogenwesen, wie erst schütteln, dann einnehmen. Oder du nimmst was ein und schüttelst dich am Tanzboden. Da gibt es viel Assoziationen vom voodooistischen Zungengebet bis zu ganz lapidaren Sachen.
Anthony »Shake« Shakir
Wir sagten alle im selben Moment »Shake«. Wir wollten jemanden, der eklektisch arbeitet, bei aller Sprödigkeit der Sounds aber als Pop erkennbar ist und fließende Ränder aufweist. Er ist auch ein Unsung Hero. Wir wollten nicht stolz drauf sein, Matthew Herbert oder ein anderes Weißbrot wie uns mit an Bord zu haben. Das wäre uns zu Feuilleton-kompatibel gewesen. Da wäre der Blick von außen auf dieses für uns doch sehr afro-amerikanisch geerdete Genre Techno/House zu klar, zu homogen gewesen. Das musste dann schon jemand aus der Hood sein. Uns ging es um einen Produktionsbegriff wie er 1979/80 in New York gängig war, als sich Postpunk-Bands Disco-Producer wie Tom Moulton oder William Gibbons holten. Wir haben wohl an die gedacht, aber eher einen Musiker wie Arthur Russell bekommen. Der war ja ein völliger Schrullenking und ist sicher nie ohne sein Cello angerückt. Shake ist – wie Theo Parrish – ebenso ein verkannter, schwieriger Außenseiter-Musiker, eine Art Thelonious Monk der House-Musik und daher auch kein Studiocrack. So wurde er ein Mitmusiker. Shake – wie auch sehr viel andere Leute aus Detroit und Chicago – hat noch nie wirklich digital gearbeitet oder ist am Laptop gesessen. Bei ihm ist alles klassische fette gangsteristische Samplerarbeit mit einem großen Wissen im Hintergrund, das immer wieder zu anderen Dingen hin ausfranst. Ein klassischer »Musician’s Musician« eben, der u. a. von Autechre regelrecht vergöttert wird.
Tracks wie »Salt Peanuts« (nach dem gleichnamigen Dizzy–Gillespie-Stück benannt), wo ihr schließlich in einer Art Basic–Channel–/Kraftwerk-Duplikation von Shake sozusagen in eure »digitalen« Einzelteile zerlegt werdet, oder speziell »Tiger Rag« erinnern mitunter an Walter Gibbons abstrakt-radikale 1986er–Mixe von Arthur–Russell-Nummern wie »Let’s Go Swimming« oder »Schoolbell/Treehouse«. Seid ihr eine Band, die schon mit einem Mischpult im Kopf spielt?
Ja. Das passiert schon alles sehr bewusst. Bei uns gibt es keine Drop-ins/Drop-outs via Mischpult, sondern selber die Schere im Kopf. Was uns immer schon sehr lieb war. FSK wurde zu einer Zeit gegründet, als das, was jetzt exhumiert wird – ESG, The Contortions, Arthur Russell – schon einen irren Einfluss auf uns hatte im Sinne unrockistischer Herangehensweise an Punk. Pere Ubu waren da absolut vorbildlich. Arthur Russell ist ja auch deshalb jetzt ein großes Thema, weil nun Dinge rausgehört werden können, die damals noch gar nicht gehört werden konnten.
Produktive Missverständnisse & The Real Other, Part 1
Solche Missverständnisse sind nie geplant. Das können sie auch gar nicht sein. Deshalb passieren sie auch. Diesmal ging das klassische Missverständnis so: Wir dachten, wir machen noch extra ein Stück für Shake – eine Art Schranz-Techno wie bei Wolfgang Voigts Auftrieb-Platten. Was ihm dann am wenigsten zugesagt hat. Als wir später erklärten, worum es sich dabei eigentlich handle, meint er nur: »To me it’s just a polka«. Was uns wiederum sehr amüsierte, weil Voigt gerne auf Polkas zurückgreift (vgl. Mike Ink: »Polka Trax«, Warp 1996, u. a. mit einem Autechre-Remix; Anm.), wir auch da herkommen, lange so was gemacht haben, spannenderweise in etwa zu dem Zeitpunkt mit den Polkas aufhörten, als Voigt damit anfing und das alles für uns daher auch keinen Widerspruch darstellt. Für Shake aber schon. Also musste zuerst die Bassdrum ungerade gemacht werden und dann wurde auch das Remix-Verbot durchbrochen.
Diese Nummer heißt »Tiger Rag«. Wie kam es zu dieser Namensgebung?
Uns haben die Keyboard-Riffs daran erinnert. Der »Tiger Rag« wurde ja von italienische New Orleansern komponiert, 1917 eingespielt und gilt gemeinhin als erste Jazzplatte der Geschichte. Natürlich war King Oliver’s Creole Jazz Band eher »The Real Shit«, aber die Original Dixie Jazz Band war eben weiß. Beider Jazz hatte aber extrem viel Klezmer-Einflüsse. Heutzutage müssen wir uns das Chaos, das diese Musik zusammenhält, erst wieder erkämpfen. Zumindest wurde Swing schon von der Gay Community als Disco resignifiziert. Das ist mit Dixieland schwieriger. Deshalb reizt es ja so. Diese weißen New Orleans Dixieland-Bands waren ja auch die ersten Beastie Boys der Geschichte. Gerade diese Übersetzungen des Afro-Amerikanischen ins Yiddishe und umgekehrt sind ganz heiße Elemente in Sachen Popmusikgeschichte als weiße Adaption schwarzer Musik (Dixieland) oder spätere schwarze Adaptionen von Swing durch Bebop. Das alles ist schon diskursiv im »Tiger Rag« enthalten. Der »Tiger Rag Remix« ist eigentlich Lumidee – ein Ei, das uns Shake so ins Nest gelegt hat.
Kann daher »Swing To Bop« auch als von Disco nach House gelesen werde?
Ja. Es geht darum, dass ein Mainstreamgenre wieder abtaucht und in die produktive Unverständlichkeit rücküberführt wird. Bei Bebop codierte Charlie Parker Standards derart kompliziert um, dass sie am Notenblatt zwar noch zu lesen waren, beim Spielen aber andere Zäsuren zu tragen kamen. Einen anderen Aspekt dieses Themas behandelt »Ballroom«. Hier geht es um jene Saturday-Night-Midtempohaftigkeit, die passierte, als Disco wieder in den Untergrund abgetaucht war und sich mit höheren BPM Richtung House entwickelte. Damals gab es am Overground eine Midtempo-Funkyness in Form einer Foxtrottigkeit, von der sich auch das aktuelle, wiedererwachte Interesse an Prince und Disco-Boogie ableitet.
Bei »The Blues & The Abstract Truth« bezieht ihr euch gleich auf einen ganzen Albumtitel, der 1961 von Eric Dolphy und 1964 von Oliver Nelson verwendet wurde. Dazu erklingt eine Art »Slow-Music«-No–Wave mit selbstgemachten/gebastelten Kraut-Roots. Wie kommt ausgerechnet der Authentizitätsfetisch Blues zu (s)einer abstrakten Wahrheit?
Der Steinbruch der Ideen dazu kam von »Oops Oh My« von Tweet, also von aktuellem R&B, was bei uns ganz klar zu Krautrock wird. Der Titel hat mich schon immer total fasziniert. Das ist eine tolle Formel. Eric Dolphy hat schon 1961 mehr als nur geahnt, dass diese Projektionen von uns Weißen auf das, was der Blues an nicht abstrakten, sondern an tief empfundenen Inhalten transportieren sollte, ein Mythos ist. Es geht darum, dass da mehr inkludiert ist, dass diese abstrakten Wahrheiten, dieses theoretische, kulturelle Wissen schon immer mit an Bord war. Es müssen ja nicht immer alle alles wissen – es reicht manchmal, wenn es die Körper wissen. Die Theorie ist in den Rhythmen. Es gibt ja auch kein Recycling innerhalb der Black Culture, wie wir es bei uns kennen. Wenn der Blues schon einmal Eric Clapton gehört hat, ist es allein vom politischen Bewusstsein her undenkbar, ihn wieder herzunehmen. Außer bei Keb’ Mo, der für das ZDF um 23:00 Uhr erfunden wurde.
The Real Other, Part 2
Auf afro-amerikanischer Seite gibt es diese sehr verständliche und nachvollziehbare Grundbefürchtung, dass, wenn so weiße Abiturienten ankommen, es nur um Ausbeutung geht. Die weiße/kaukasische Seite will etwas haben, was sie selber nie hinkriegen würde, daher will sie immer Platten machen, die im Grunde diese Leute, also die Afro-Amerikaner, hätten machen können, die man aber selber nie so hingekriegt hätte. Shake hat relativ schnell mitgekriegt, dass es bei uns darum überhaupt nicht geht. Das hat sich für ihn auch vor allem in Michaelas Gesang manifestiert, der für ihn immer sehr »Germanic« blieb. Wobei er dabei gar nicht, wie sonst immer, an Nico, sondern eher an Marlene Dietrich dachte. Es war für ihn als Afro-Amerikaner im Sinne von Kraftwerk/»Mensch-Maschine« auch ein sehr reizvoller Job, solche »Germanic«-Elemente rauszukitzeln. Das war auch der spezifische Reiz an der ganzen Sache: Wir fragen ihn als Afro-Amerikaner, holen ihn an Bord, aber er kommt bei uns schon als Afro-Germanic an (der Begriff »Afro-Germanic« geht auf den gleichnamigen Underground-Resistance-Track von Chaos/Marc Floyd zurück, der zuvor als GI in Heidelberg/Highdelberg stationiert war; Anm.). Anders als damals, als wir auf die amerikanischen Folk-Elemente zugingen, war es jetzt sozusagen ein doppeltes Aufeinander-Zugehen. Im Endeffekt stehen Kraftwerk jetzt dafür, wofür damals Cajun und Tex-Mex standen. Das eine ist genauso ein transatlantischer Übersetzungsmechanismus wie das andere. Nur muss man vielleicht erst zehn Jahre weiter darüber gegrübelt haben, bis einem klar wird, dass Robert Johnson und Kraftwerk hier dieselbe Stelle in Sachen Gegenübersetzungsmanöver abgeben können.
Die soziale Kontamination dieses Feldes durch rassistische Erfahrungen zeigte sich auch in einer anfänglichen Scheu voreinander. Wir hatte noch nie mit jemandem aus der Hood zu tun, dessen Vater auf Crack war und dessen Mutter nur 17 Jahre älter ist. Als er am Flughafen durchs Gate ging, war seine erste Frage: »Was soll ich eigentlich hier tun?« Diese Spannungen haben sich spätestens beim Arbeiten im Studio aufgelöst. Wir haben dann auch sehr viel herumgealbert und bis lange in die Nacht Platten gehört. Nicht nur afro-amerikanisches Zeug, sondern auch käsige Disco-Platten. Shake mag auch Bands wie Radiohead und bekommt feuchte Augen, wenn er von Ringo Starrs Schlagzeugspiel erzählt. Er ist überhaupt nicht der typische Nur-Afrocentric-Typ. Man merkt ja auch bei Produzenten wie Timberland und den Neptunes, dass sie viel weiße Popmusik wie Brian Wilson oder Van Dyke Parks hören.
Und Shake ist auch so eine Ausnahme. Er hat uns z. B. beim Frühstück laut lachend seine Lieblingsstellen aus Andy Warhols »From A To B And Back« vorgelesen. Das ist dermaßen gegen jedes Klischee. Wie er auch der einzige in seiner Hood ist, der weder Rapper ist, noch eine Waffe besitzt. Er ist als Techno/House-Mensch ein Sonderling. Das erinnert auch alles an die Be-Bopper der 1940er – introvertierte, in Klammer auch immer unter Homosexualitätsverdacht stehende Nicht-Ganz-Männer. Ich glaube Techno hat ganz viele solcher Personen, so Miles-Davis-mit-dem-Rücken-zum-Publikum-spielen-Typen hervorgebracht. Shake hat auch nichts übrig für gangsteristische Moves, ist extrem sensibilisiert gegenüber Sexismen und als jemand, der durch den House Circuit tourt, sehr homophil. Kurz: Er hat all diese klassischen Ressentiments, die den Hood-Leuten immer unterstellt werden, überhaupt nicht. Total verrückt ist dann aber, dass ein Freund von ihm die Sounds für die aktuelle 50Cents-CD gemacht hat und ihm kurz vor dem Abflug eine CD mit all diesen Sounds und Samples mitgab. Das ist der wohl sensationellste sonische Transfer – die sozusagen »original« Fingersnips und Bass-Drum-Sounds von 50Cents Gangsta-Rap auf einer FSK-Platte!
Cyber & Urban
Bei »In Loving Memory« geht es u. a. um Aaliyah und ihre mediale wie scheinbar auch reale Unsterblichkeit. Jetzt stellt gerade sie aber auch ein extremes Hassobjekt dar, weil sie sich immer nur als (formbarer) Körper der/einer Stimme verstanden hat. Shake nannte das unsere Barry-White-Nummer. Natürlich war sie keine Autorin im altmodischen Sinn. Billie Holliday hat ihre Lieder ja auch nicht selber geschrieben. Klar hat sie bei »Try Me« von Timbaland unglaublich avancierte Sounds verpasst bekommen. Ihre Videos waren derart abgespacet, dass daher auch der Begriff Cyber-R&B abgeleitet wurde, im Sinn von Kodwo Eshuns Begriff des hyperverkörperlichten Posthumanen. Ob sie das jetzt selber bewusst implementiert hat, ist dann auch gar nicht wichtig.
Man will von Jane Fonda ja auch nicht wissen, was sie von Barbarella hält.
Genau. Sie symbolisiert es und produziert so popikonografische Bilder und Images. Das reicht. Interessanterweise wird im Moment der Begriff »Urban« – gerade in US-Musikzeitschriften mit vorwiegend schwarzen Redaktionen – immer öfters für bzw. statt R&B verwendet. Da ist ein merkwürdiger Umstülpungsprozess in Gange. Während die Weißen in den Speckgürteln der Städte, manchmal sogar außerhalb der Zonen, die noch Steuern bringen, leben, sind die Schwarzen jetzt in die Innenstadtgettos gekommen. Urban meint heute Innenstädte mit unheimlich vielen, sich neu ausbreitenden Grünflächen und jeder Menge verfallener Häuser. Dort ist es auch viel ländlicher und stiller als in den weißen Suburbs. Das ist das Auge des Taifuns innerhalb der US-amerikanischen Städte. Und nach diesen Innenstädten, die den Schwarzen im Sinne einer Verslumung gehören, nennt sich nun plötzlich eine Musik, die in Videos mit Superschlitten und diamantenbestückt daherkommt. Eine irre Definition von »Urban«.
Eine irre Definition von »Black Music« hatte ja auch Dr. Buzzard’s Original Savannah Band, mit den späteren Kid Creole & The Coconuts-Mitgliedern August Darnell und »Sugar Coated« Andy Hernandez (Coati Mundi), die du im Zündfunk-Pop-Alphabet schon 1991 als einzigartige »Black New Wave« und »schwarze Version von Roxy Music« beschrieben hast. Jetzt geht es im gleichnamigen Song um »Paradiese im Duplikat« und lassen Zeilen wie »Die performative Garage unter Asphalt / Erlaubt die Entwicklung einer ganz neuen Gestalt« an Judith Butler in der Paradise Garage denken.
Für mich steht Dr. Buzzard für noch tausendmal mehr. Zwar ist Queer-Music hier der Aufhänger, aber nicht im Sinne sexueller Orientierung, sondern wie von einer ungeraden sexuellen Orientierung gelernt werden kann. Es geht um eine erweiterte Sichtweise auf Glam aus afro-amerikanischer Sicht.
In den eigenen Rückspiegel hören
Durch Bands wie The Rapture ist Rock ja wieder interessant geworden und es ergab sich die Möglichkeit uns mit dem eigenen alten Material wieder zu konfrontieren. Stücke, von denen wir nie gedacht hätten, dass sie je wieder ihr Haupt wieder erheben würden, haben es nun getan und uns zugerufen »Spielt uns mal wieder!« »Move Ahead« hat es vom Zugabenteil sogar in den Hauptteil geschafft und hat jetzt die verpönte ravige Soundästhetik einer Saturday-Night-Vorfreude im Hauptschulabschlussalter. Klingt also so wie das Cover mit den Fotos von Olaf Nicolai (Bruder von Raster-Notons Karsten Nicolai, Anm.). Es ist ein Titel, den wir selbst immer wieder neu lesen und bei es immer spannend ist, was er vielleicht doch noch hergibt, in einer sich wandelnden Definition des Discohaften. Wir spielen jetzt also auf der Tour zu unserer elektronischsten Platte den ältestes FSK-Stuff. Aber vielleicht spielen wir 2011 ja auch unsere Polkas wieder.
FSK: »First Take Then Shake (Disko B/Indigo/Ixthuluh 2004), Anthony »Shake« Shakir: »True People: The Detroit Techno Album« (React 1996), »Beyond The Third Wave« (Astralwerks 1996), »All Access To Detroit’s Music Festival« (Planet E 2001)