2005 ruft der Engländer Christopher Taylor in London sein erstes Soloprojekt (nach einer kurzen Zeit als Quartett) Trouble Over Tokyo ins Leben. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt in seiner Karriere zeigt Taylor seine Stärken, die sich bis heute nicht geändert haben: seine beeindruckende Vokalleistung, die oft an Justin Timberlake erinnert und mit starkem Falsett punkten kann, die treibenden elektronischen Beats, Synthrecipes, die mit viel Fingerspitzengefühl zubereitet werden, und Liebe zu mitreißenden Hooks; auch Streicher spielen immer wieder eine Rolle. Taylor bringt unter diesem Pseudonym einige Releases heraus, u. a. die drei Alben »1000« (2005), »Pyramids« (2008) und »The Hurricane« (2010). Diese zeichnen sich v. a. durch einen analogen Synthesizer-Sound aus, wobei dessen Ausgeklügeltheit nicht übertrieben wirkt. 2008 zieht Taylor nach Wien, um sich hier ganz seiner Musik zu widmen, er tourt mit Bandmitgliedern u. a. von Garage und Velojet und macht sich langsam international einen Namen.
»Tremors«
2012 gründet Taylor in Wien sein zweites, heute bekannteres Soloprojekt SOHN. Nach einigen Singles und EPs sowie einem Remix von Lana del Reys »Ride« folgt 2014 das Debütalbum »Tremors«, das es bald auf Platz 12 der österreichischen Albumcharts schafft. Taylor entwickelt seinen Sound stetig weiter und macht heute Musik, die noch klarer und feiner ausproduziert ist als seine Releases davor. Man hört viel Thom Yorke, Chet Faker und James Blake in seinen Songs, auch wenn SOHN selbst weniger die Abgründe sucht und nicht experimentell wird, sondern eher bei klassischen Popsongstrukturen bleibt; auch R&B-Einflüsse sind zu hören. Besonders gelungen ist der Track »The Wheel«, Taylors wunderschön gesungenen Vocals werden selbst zu einer Art Instrument zusammengechopt und verbinden sich mit etlichen anderen Synthies und einem minimalistischen Text zu einer Hymne des Verlusts und des sinnlosen Strebens nach trivialen Dingen. Neun Jahre nach Release des Albums ist »Tremors« ein Genreklassiker geworden und klingt heute noch frisch, modern und progressiv.
»Rennen«
2017 erscheint dann das zweite SOHN-Album »Rennen«. Auch wenn »das schwierige zweite Album« eines aufstrebenden Künstlers mit einem starken Debütalbum häufig überproblematisiert wird, in diesem Fall schlägt der Fluch leider zu. Auf dem Papier wiederholt Taylor alles, was auf dem ersten Release so gut funktioniert hat, aber das Feeling ist einfach nicht da, zumindest bei den meisten Songs. »Conrad« hingegen funktioniert sehr gut und hätte auch schon auf »Tremors« zu hören sein können. Der Track punktet mit einem starken One-Two-Beat, Soulgesang und dem für SOHN bereits klassischen, überwältigenden Synthie-Sound. Ein Beispiel für einen Song, der nicht funktioniert, ist dagegen »Falling«. Er besitzt zwar alle Charakteristika, die ein gelungener Titel dieses Genres braucht, aber hat einfach zu wenig Emotion und authentische Momente. Nennenswert ist noch der Song »Harbour«, der wohl härteste Track von SOHN; nach einem relativ langen, sanften, leisen Build-up folgt ein Drop, der verstehen lässt, warum die Musik von SOHN immer wieder als Post-Dubstep bezeichnet wurde, auch wenn dieser Begriff heute unzutreffend und falsch ist.
»Trust«
Nach langer Pause und ohne viele Lebenszeichen dazwischen veröffentlicht SOHN 2022 das aktuelle Album »Trust«. Die erste Single »Figureskating, Neusiedlersee« trägt bereits die wichtigsten Neuerungen in sich. Zu hören sind eine Gitarre und ein Saxophon, die hochemotionale Melancholie früherer Werke ist einer Art vorsichtigem Optimismus gewichen, es geht ums Angekommen-Sein, um Heimat und Familie. Außerdem erinnert nicht nur das Artwork der Single an das letzte Bon Iver Album »i,i«, sondern auch musikalisch gibt es viele Gemeinsamkeiten, v. a. das vorher schon genannte Saxophon und die hoch gepitchten Vocalsamples. Auch dass Taylor viel kollaborierte und nicht ganz allein produzierte, ähnelt der Herangehensweise von Bon Iver. Allgemein wirkt »Trust« analoger, roher, reduzierter und SOHN ist mehr mit Herz als mit Hirn dabei als auf seinen vorherigen Werken. Ein weiteres wunderbares Stück auf »Trust« ist »Riverbank«, ein gitarrenlastiges, souliges Lied darüber, dass der Lauf des Lebens wie ein Fluss nicht aufzuhalten ist. Auch das radiotauglichste Lied des Albums, »Segre«, ist wirklich gut und entzückt mit Piano und einem SOHN-typischen Beat. Es geht um die Flucht aus dem Alltag; Taylor erzählte in einem Interview, dass er mit seiner Familie in Spanien ein Haus in den Bergen hat und wenn ihnen alles zu viel wird, fahren sie dort hin. Das Album ist, um zu resümieren, sehr zeitgemäß, entspricht dem Produktionsstil, der gerade en vogue ist, und stellt wohl Taylors bisher persönlichstes und stimmigstes Album dar.
Unterschätzte Genregröße
Die Karriere von Christopher Taylor, alias Trouble Over Tokyo, alias SOHN, zeichnet einen spannenden Werdegang mit vielen geografischen Wechseln und Musik, die viel gemein hat, aber mit der Zeit auch auf spannende Art und Weise variierte. Manchmal hat man beim chronologischen Hören der Alben das Gefühl, mit dem Künstler mitaltern zu können, immerhin liegen zwischen dem ersten und letzten Release 17 Jahre. Auch lassen sich anhand seiner Diskografie viele Trends und zeitgemäße Einflüsse heraushören und dennoch klingt Taylor in all seiner Musik sehr besonders und authentisch, auch das etwas schwächere zweite SOHN-Album ist da keine Ausnahme. Auf dem aktuellen Release kann man das Angekommen-Sein und die innere Ruhe heraushören, während frühere Longplayer eine Art Unruhe und Suche nach etwas Unbestimmtem vermitteln. SOHN ist und bleibt ein Ausnahmekünstler, der qualitativ durchaus mit anderen, bekannteren Genregrößen mithalten kann. Aus Wien zog es Christopher Taylor nach Los Angeles, fürs neue Album ist er aber an seine musikalischen Wurzeln zurückgekehrt und spielt am 4. Dezember 2022 im WUK. Wir freuen uns drauf!
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