Schrecklich, schrecklich lang war die Zeit: Nach pandemiebedingter Absage im Vorjahr öffnet das Kremser Donaufestival »In The Year Of The Metal Ox«, so der auf das chinesische Sternzeichen bezogene Titel des Festes, nun, da erstmals im Herbst stattfindend, nach zweieinhalb Jahren endlich wieder seine Pforten. Dem König sei’s gedankt! Einige der für 2020 geplanten Acts konnten 2021 abermals gewonnen werden, z. B. Lost Girls, UCC Harlo oder Elvin Brandhi. Und »zeitgenössisch«, jener Begriff, dem sich Thomas Edlinger verpflichtet fühlt, werden die Acts auch heuer noch sein. Der Name der ungarischen Band Decolonize Your Mind Society, die am zweiten Festivalsamstag auftritt, hätte mit etwas Fantasie gut und gerne ebenfalls als Festivalmotto herhalten können. Das kolonialistische Motiv zieht sich generell wie ein Schalk durchs Festival. Erfreulich, dass mit Jung An Tagen, Conny Frischauf, Rosa Nebel und Gischt diesmal einige heimische Acts aufscheinen. Eigentlich sollte es ja längst nicht mehr als utopisch gelten, dass bei einem immens geförderten Festival wie diesem zumindest ein österreichischer Musik-Act an jedem Tag vertreten ist. Hier eine Auswahl aus dem Musikprogramm:
Weekend 1, Freitag, 1. Oktober 2021
Am Eröffnungstag findet in der Minoritenkirche bereits um 18:00 Uhr ein erstes Festival-Highlight statt: Die umtriebige Waliserin Elvin Brandhi – sie bereiste nicht nur Uganda, den Libanon und Marokko, sondern firmierte auch als Kunststudentin in Wien – verschmilzt ihre reichhaltigen Erfahrungen, die sie an diesen Orten in diversen Kollaborationen machen konnte, mit verzerrten Vocals in unerhörtem Glitsch und Noise. Arooj Aftab, die pakistanische Vokalistin, Gitarristin und Komponistin, beruhigt mit minimalistischen Jazzmotiven und Neo-Sufi. Einer ihrer Songs findet sich auf »NPR’s List of 200 Greatest Songs by 20th Century Women«, ein anderer auf Barack Obamas »Summer Playlist Favourites 2021«. »Does Spring Hide It’s Joy«, klar, aber Kali Malone featuring Lucy Railton and Stephen O’Malley werden auch im Herbst diese Uraufführung zum unvergesslichen Low-Drone-Ereignis anrichten. Mit der in Stockholm lebenden Komponistin Lucy Railton am Cello, sowie Stephen O’Malley von Sunn O))) an der Gitarre. Duma, das aus Nairobi stammende Grindcore-/Noise-Duo von Martin Khanja und Sam Karugu, zählt mit zum Verstörendsten, was die globale Musikwelt gegenwärtig anzubieten hat.
https://www.youtube.com/watch?v=rXuT-c2UdGE
Weekend 1, Samstag, 2. Oktober 2021
Die aus der tunesischen Alternative Music Scene stammende Deena Abdelwahed kombiniert Urban Rhythms, vornehmlich arabische, mit experimenteller Dance Music. Ihr Debüt-Album »Khonnar« (2018) kann getrost als Meisterwerk angeführt werden. Bbymutha, die kompromisslose Rapperin aus Chattanooga, Tennessee, wartet jederzeit mit gewagten Lyrics auf – siehe »The Bastard Tapes Vol.1, 2 and 3«, »Muthaland« (2020) oder aktuell »Cherrytape« (2021). Ugandas DJ Kampire mischt afrikanische Diaspora, bestehend aus Acholitronix, Soukous und kongolesischem Rumba, mit avantgardistischen Clubsounds auf: Polyrhythmische Dancefloor Madness garantiert, was sie bereits bei New York’s Red Bull Music Festival demonstrierte.
Weekend 1, Sonntag, 3. Oktober 2021
Die klassisch ausgebildete Bratschistin Annie Gårlid transformiert in ihrem eklektizistischen Projekt als UCC Harlo mittelalterliche, barocke und Renaissance-Musik. Der Wiener Elektronik-Musiker Stefan Juster aka Jung An Tagen veröffentlichte ursprünglich auf Editions Mego. Seit 2020 hat er sein eigenes Label Etat. In dieser Auftragsarbeit erforscht er die Verbindung zwischen digitalen Sounds und Körper. Rainer Kohlberger sorgt für die visuelle Komponente. Girl Band stellen ein nachgerade bilderbuchhaftes Remake einer Post-Punk-Band dar, Semi-Panik-Attacke auf Glanzlack. Passabel, passabel. Prison Religion legen eines drauf und geraten aus den Fugen: »Delete My Internet Browser History«, befiehlt Jail Faith ausrastend. Das Duo aus Richmond, Virginia, verlegt äußerst dystopischen Techno.
Weekend 2, Freitag, 08. Oktober 2021
Die Orangen warten mit aktuellem Krautrock-at-its-best auf. Robert Henke, der Münchner Musiker und Professor für Sounddesign an der Universität der Künste Berlin, gründete ebendort mit Gerhard Behles das Duo Monolake. An der Entwicklung von Ableton, der seit Dekaden wohl wichtigsten Software für Musiker*innen, war Henke Ende der Neunziger mitbeteiligt. Seit 2000 fokussiert er im Soloprojekt auf multimediale Installationen und Performances. Lost Girls, das in Oslo ansässige, ursprünglich sperrige Improvisationsprojekt von Jenny Hval und Multiinstrumentalist Håvard Voldenemahnen, fabrizieren nunmehr poppigere, surrealistische Soundskizzen. Die Londoner Produzentin Loraine James warnt auf ihrem dritten Album »Reflections«: »I know you may not like this one / But it’s just fun, you know, it’s just fun« und setzt dabei auf klassischen Soul sowie experimentierfreudige Clubmusik.
Weekend 2, Samstag, 9. Oktober 2021
»We Are All Cannibals« verdeutlicht uns das ungarische Kollektiv Decolonize Your Mind Society auf ihrem fantastischen Album »A Courteous Invitation To An Uninhabited Anabatic Prism«. Ihre Töne erzeugen sie durch reine Stimmung, den Regeln der klassischen europäischen Musik widersetzt sie sich äußerst erfolgreich. Am Debüt-Album (»For The First Time«) der angesagten Londoner Post-Punk-Formation Black Country, New Road beweist Sänger Isaac Wood, dass er als »einer der momentan spannendsten Texter Middle-Class-Depression, Popkultur-Arroganz und Gen-Z-Dekonstruktion in sein leidendes Sprechsingen legt«. (»Musikexpress«). Wow, das muss man doch gesehen habe. Conny Frischauf knüpft spielerisch sowie dadaistisch an Krautpop und die Neue Deutsche Welle an. Als Phantom Gold stellen die Wiener Rosa Nebel und Herrgottsblick Techno und Synth-Wave zentral.
https://www.youtube.com/watch?v=pBa30H-QKt4
Weekend 2, Sonntag, 10. Oktober 2021
Ursula Winterauer (Ash My Love) aka GISCHT ist Mitbegründerin von Ventil Records und erkundet die Grauzone zwischen Digital Ambient und Slo-Mo-Techno. Kizis & Streichquartett warten mit indigenen Hippie-Mantras und Oberheim-Pop auf. Jazz meets Spoken Word und in dreieinhalb Stunden – so lange dauert das Album »Tidibàbide« – darf man von Kizis (CAN) auf noch viel mehr gespannt sein. Wie sie der »Vogue« versicherte, kann Lyra Pramuk den Körper wechseln, wann immer sie möchte. Praktisch, praktisch. Lyra ist in einer Kleinstadt in Pennsylvania, USA, aufgewachsen, in der Berliner Techno-Szene outete sie sich als Transgender. Auf ihrem Debüt-Album »Fountain« singt und manipuliert sie ihre Stimmen einzigartig.
Alle Infos und vollständiges Programm unter: https://www.donaufestival.at