Heart of Noise © HoN
Heart of Noise © HoN

Hey, Dealer, gib mir das nochmal!

Das Heart of Noise 2021 ist vorbei. Was in Innsbruck neben Retro-Computern, Bergbesteigungen und einem Meer aus Rausch noch passiert ist, sorgte für Schwingung im Lendenbereich.

Zum elften Mal hat es beim Heart of Noise (HoN) unter der Nordkette getuscht. Drei Tage Experimentelles verschreibt man sich unter strenger Aufsicht vor Alpenpanorama – eine Kur für Schrammelfetischist*innen, bei der man sich zum eigenen Wohle ins Dunkle verzieht. Dabei hätte sich in diesem Jahr sogar »Live is Life« aus der Reservistenkiste kramen lassen, um zum Dad-Joke der Festivalsaison zu avancieren. Dass es – wie im Motto des HoN ausgesprochen – »good« wurde, hat nichts mit göttlicher Fügung zu tun, sondern mit einer Organisation, die dem Team um Stefan Meister und Chris Koubek entspringt und weit über die Ländergrenzen ihresgleichen sucht. Nicht einmal streikende Lokführer*innen im Nachbarland können daran etwas ändern.

Deshalb spaziert Robert Henke pünktlich zur Tagesschau auf die Bühne der Dogana. Der Berliner Grandmaster des musikalischen Nerdtums hat für sein Paradeprojekt extra den Anzug eines Stasi-Beamten aufgebügelt, die Krawatte im Kraftwerk geknotet und eine private Lan-Party auf die Bühne verkabelt. Die Impulspräsentation zum Auftakt kommt so sexy wie eine Apple-Keynote von 1979. Danach herrscht Chaos im Computerclub. Drei Jahre tüftelte Henke an alten CBM-Computern, beschäftigte ein ganzes Team an Entwickler*innen. Nun sitzt er im fahlen Bildschirmlicht fünfer Retro-Kisten, grinst wie ein Hutschenpferd auf Speed und lässt es in der Matrix rattern, als hätte Ryoji Ikeda auf Acid einen HTML-Kurs belegt und seinen Heiland im Studium der höheren Mathematik gefunden.

Im Schleudersitz zur Trauerprozession
Rotor, das Tröten-Karussell von Lenz, Lerchner und Kutin, sorgt hingegen für akutes Schleudertrauma im Lendenbereich. In Bühnenmitte drehen sich vier Lautsprecher um die eigene Achse. Kurz glaubt man, der ÖAMTC-Hubschrauber hätte im Landeanflug auf den Patscherkofel mit Turbulenzen im linken Triebwerk zu kämpfen. Dabei klingt der Schleudersitz eher nach Techno-Polka mit Voigt’scher Brachialgewalt, könnte damit aber auch für kollektive Kiefersperren zur Peaktime sorgen. Wer sich den Drehwurm aus der ersten Reihe gibt, zeigt nicht nur Interesse für österreichische Ingenieurskunst, sondern vertraut auch darauf, dass der »autodidaktische Mechatroniker« Lenz die richtigen YouTube-Tutorials studiert hat.

Aus Rotor wird Radian – der gut sortierte Bausatz dreier Mensch-Maschinen-Freunde, die endlich die richtigen Instrumente auspacken. Martin Siewert gitarrisiert in Birkenstock-Sandalen, John Norman knallt den Bass auf den Boden und Martin Brandlmayer hält ein Werkl am Laufen, vor dessen Post-Rock-Zahlenschieberei sich Robert Fripp aus blanker Ehrfurcht in die Hose schisse. Wer Radian, die zuletzt 2016 auf Thrill Jockey veröffentlichten, einmal gesehen hat, tut Buße und geht als geläuterter Mensch. Das ist Musik für die Black Lodge, Bohren auf Steroiden, dunkel wie drei doppelte Espressi zur Pausentschik.

François J. Bonnet & Stephen O’Malley im Congress © Heart of Noise

Die hat man angesichts des langsamsten Trauermarsches dieses Festivals dringend nötig. Kassel Jäger und Stephen O’Malley mögen sich eine Bühne teilen – im Mittelpunkt steht Peter Rehberg. Der verstorbene Editions-Mego-Chef, Wegbegleiter und Freund O’Malleys und Jägers, glänzt auf einem Foto im Scheinwerferlicht, während jede Note, jeder Akkord, jedes verknisterte Fiepen zu einer Prozession des Abschieds als Ode an die Endlichkeit wird. Es klinge wie das Meer, sagt ein Besucher über die Drones, die den Raum ausfüllen. Ein Meer, das nur das Rauschen kennt. Und den Krach. Wie recht er hat.

Wer sich im Dunstkreis des HoN nach Tageslicht sehnt, die Funktionskleidung aber zu Hause lassen möchte, begibt sich deshalb alljährlich in den Hofgarten. Der dortige Pavillon, früher ob seiner umliegenden Schachbretter im Park ein Fixpunkt zum Frühschoppen des Seniorenvereins, wird einmal im Jahr zur Ausräucherung der bösen Geister freigegeben. Oï les Ox bestellt auf ihrem iPad den Todesrave bei Wish und man ärgert sich, beim Französisch-Sprachkurs in der Zwölften nicht besser aufgepasst zu haben. Die Stimme der Sängerin bricht wie Sonnenstrahlen in den Pavillon, Rauch steigt auf – Maria Spivak, die Zypriotin mit dem Synth-Pop-Hau, erscheint und klopft Dub auf den Dielenboden. Immerhin: Den Enten im Teich gefällt’s.

Oï les Ox im Hofgartenpavillon © Heart of Noise

Männer, die auf Laptops starren
Weiter geht es im Congress, einer Halle, die den inneren Charme einer ÖVP-Wahlkampfveranstaltung versprüht, an diesem Wochenende aber einer statischen Generalüberholung durch den Output männlicher Bildschirmpräsenz ausgesetzt wird. Den Auftakt am Samstag macht Wegscheider. Nicht der Verrückte vom Dosensender, sondern ein Local Hero, der die Speaker auf ihre Krachtüchtigkeit testet. Ein roter Scheinwerfer blinkt, als blicke man ins Auge Saurons. Es kreischt, es bummst, piff, paff – der Mann mit dem Rauschebart schüttelt die Tropen des Noise aus der Soundcard und zündet sonische Brandbomben, die den Maschinenraum der Titanic wie ein Wellnesswochenende klingen lassen.

Weil eine Kur im Zeichen der körperlichen Erholung steht, lädt Robert Lippok im Anschluss in die Spa-Grotte. Während eine Drone im Frequenzbereich einer ayurvedischen Ganzkörpermassage rumort, hält Videokünstler Lillevan eine Leistungsschau in After Effects ab, die man sonst nur in der Demonstrationsschleife von 120-Zoll-Fernsehern beim Media Markt kennt.

Wer sich auf Knister-Festivals der regelmäßigen Selbstgeißelung aussetzt, weiß: Visuals sind in der Lage, sogar die größte konzeptuelle Kunstscheiße zu kaschieren. Deshalb verschmieren sich hinter Franck Vigroux die Videos von VJ Kurt d’Haeseleer. Irgendwie schrammen zwei weiße Männer am Diskurs zum Postkolonialismus vorbei. Trotzdem sieht man gern zu. Mit geschlossenen Augen. Zum Glück präsentiert Roly Porter, der britische Soundkönner, zum Closing sein Album »Kistvaen«, während MFO an einer postmodernen Variante des installativen Diavortrags werkelt. In Kombination funktioniert das mindestens eine halbe Stunde zu kurz.

Radian © Heart of Noise

Mit 3Gs erklimmt man dafür am Sonntag die Tiroler Bergwelt. Die »Tramatic Ride« – eine zur fahrenden Soundinstallation umgemodelte Straßenbahn – schickt nach coronabedingter Zwangspause wieder eine Klassenfahrt in angewandter Experimentalmusik auf Schienenreise. Das ist sogar für fußfaule Großstädter und Scooterfahrerinnen eine bekömmliche Art des Wanderns. Bei Marja Ahti pluckern Field Recordings aus Finnland vor der Bergisel-Schanze. Von der Endstation blickt man über den Alpenhauptkamm und schnupft sich mit dem Geruch des Almlebens für drei Minuten zurück zum Ursprung. Nach unten schaukelt die Bimmelbahn von ganz allein, Nika Son loopt Tapes. Wieder wartet der Hofgarten.

Du musst gar nichts
Inzwischen hat sich auch in Innsbruck herumgesprochen, dass KMRU, ein Ambient-Artist aus Nairobi, am heißen Shit zwischen Harmonie und Grundrauschen hantiert. Blöd, dass die Technik im Pavillon versagt, bei all den Knacksern im Set kann einem der Mann mit der Fischermütze richtig leidtun. Dafür hat Ronce, die französische Musikerin mit dem Schauspielstudium, Zeit, sich das Batik-Bandana ins Gesicht zu ziehen, um wie eine verirrte Modestudentin durch den Hofgartenpavillon zu tappen. Halb Séance, halb Ausflug aus der Geschlossenen – die Wahrheit liegt irgendwo im Drumkit von Katharina Ernst, die am HoN das längste Gong-Solo des Wochenendes rausklöppelt.

Zum Abschluss im Congress zuckern sich Die Sterne beim Dealer ein, müssen gar nichts und ruinieren sich schon wieder nicht. Zwischen Knister, Krach und Kopfmusik passt die Hamburger Schule wie eine Death-Metal-Band auf eine Intensivstation. Weil in Innsbruck alles möglich ist – und man beim HoN auf schnöseliges Distinktionsgehabe verzichtet – versammeln sich an einem Abend sowohl Indie- und Metal- als auch E-Musik-Szene. Und haben auch noch eine gute Zeit. Hand hoch, wo’s sowas sonst gibt! Dass nicht alles Sinn und Form haben muss, hat die Co-Produktion um Meister Koubek dem Publikum in elf Jahren Festivalprogramm stoisch antrainiert. Die Leute, die auf dieses Festival kommen, zeigen Drang zum Neuen. Wollen das Experiment. Und hören sich das Rattern von 56k-Modems mit Brechdurchfall genauso an wie eine Rockband, die in den 2000ern auf »Bravo Hits«-CDs zu finden war. Das gibt es nur am Heart of Noise. Das will man wieder haben. Nächstes Jahr, in Innsbruck. Wir sehen uns!

https://www.heartofnoise.at/

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