Ich lehne mich mal zurück und lasse die Fingerknöchel knacksen. Eine ganze Reihe hörenswerter Jazz-CDs hat sich angesammelt. Damit die Sache aber nicht textlich ausufert, werde ich versuchen, mich kurz zu fassen. Springen wir gleich hinein in die Hörwonne mit Die Hochstapler »Plays the Music of Alvin P. Buckley« (Umlaut Records). Die Hochstapler sind ein deutsch-italienisch-französisches Jazzquartett, das bereits mit dem Vorgänger »The Braxtornette Project« (siehe auch hier) hochwertige Kost abgeliefert hat, eine spielfreudige, impulsive Auseinandersetzung mit der Jazzhistorie, die niemals in klassischen Formeln erstarrte, sondern mehr den Charakter eines improvisierten Zwiegesprächs hatte – mit all der Offenheit, die sich aus diesem Zugang ergibt. Es ist ein bisschen so, als würden Ornette Coleman und Anthony Braxton (die zwei Referenzgrößen der ersten CD) den kollektivistischen Geist der legendäre Charles Mingus Band mit Eric Dolphy einatmen, sprich: die kollektive Freiheit triumphiert über die individuelle Freiheit. Was in diesem Fall eine doppelte Ansage bedeutet, schließlich bezieht man sich mit Alvin P. Buckley auf einen Wahrscheinlichkeitstheoretiker, der zwar auch Musiker war, aber eher für seine mathematische Forschung bekannt ist. Buckley liefert den Hochstaplern »Strategien für die kollektive Improvisation«, das ist vom Ansatz her ganz witzig, lässt sich aber genauso mit der gerade beschriebenen Formel Coleman + Braxton x Mingus umreißen. Für den geneigten Hörer ist das gehüpft wie gesprungen, denn das Resultat ist ebenso hin- wie mitreißend, ebenso bestechend wie funkensprühend.
Gediegene Bigbands
Wir schalten einen Gang herunter, Die Hochstapler spielen zwar großartig, aber auch ganz schön fordernd. Wir wollen uns ein wenig entspannen. Das gelingt bestens mit »Tourists« vom Emiliano Sampaio Mega Mereneu Project (Session Work Records). Hinter diesem Ensembleprojekt im Bigband-Format steht der Brasilianer Emilian Sampaio, der seit 2012 in Graz ansässig ist. Das Mereneu Project war ursprünglich ein Nonett, das nach dem prämierten CD-Debut von 2014 zur Bigband angewachsen ist und für einen Track der neuen CD bereits den Downbeat Student Award einheimsen konnte. Auf »Tourists« bewegen wir uns zwar einerseits im Mainstream des Bigband Jazz zwischen Duke Ellington und Don Ellis, doch auf einem Niveau und mit einer schillernden Klangsprache, die sämtliche Unkenrufe sofort im Keim erstickt. Hinzu kommt eine Leichtfüßigkeit und ein Humor, etwa beim Umgang mit überstrapazierten klassischen Formen, z. B. auf dem »Käsekrainer Blues – Graz«, die ganz wesentlich zur Hörfreude beitragen (die wir ganz einfach der brasilianischen Herkunft des Komponisten und Arrangeurs in die Schuhe schieben wollen). Addiert man noch die geballte musikalische Kompetenz, mit der die Sache präsentiert wird, hinzu, bleibt eigentlich am Schluss nur noch eine uneingeschränkte Empfehlung für Jazztraditionalisten übrig.
Auf demselben Niveau, nur eine Spur ernsthafter, ja, akademischer bewegt sich »perceptions«, die Begegnung des Klaus Heidenreich Quartetts mit der NDR Bigband (Unit Records). Auch hier finden wir detailreiche Arrangements, absolut stilsicher gesetzte Orchesterklangfarben und makellose Skills, die im Grunde schon die halbe Miete sind. Im Vergleich zu Sampaios Mega Mereneu Project ist hier alles noch eine Spur tighter, klarer, fokussierter, sowohl die Ensemble- wie auch Bigband-Passagen sind absolut makellos. Dass sich dieses Zusammenspiel von hochkarätigem Quartett und Bigband so perfekt ergänzt, tröstet darüber hinweg, dass wir es letztlich doch mit einer leicht erstarrten Jazzkunst zu tun haben, die etwas zu sehr in die eigene Perfektion verliebt ist. Wobei das unnötig negativ klingt, es gibt ja im Grunde nichts gegen wohlklingende Perfektion einzuwenden.
Wer es genau umgekehrt haben will, ist etwa bei »A Short Ride on the Arrow of Time« von den Spaceheads (Electric Brass Records) genau richtig. Das neue Album des britischen Trompeten- und Schlagzeugduos ist aus einer ruhelosen Studiosession heraus entstanden. »With no script und no plan« wurde an vier Tagen zu von der Trompete eingespielten Loops gejammt, und zwar so unverschämt relaxed und ohne jede Scheu vor Vereinfachung, dass die Sache auf charmanteste Weise in Richtung Pop und handgeschnitzten Minimalismus kippt. Wenn die »perceptions« von Klaus Heidenreich eine brillantenbesetzte Armbanduhr sind, die man zum Ausgehsakko trägt, dann ist der »Short Ride« von den Spaceheads ein knallbunter »Simply had fun«-Button am Revers.
Gewohnte Qualität
Wir bleiben in groovigeren Gefilden und wechseln für zwei CDs zum Schweizer Label Intakt Records, das ich oft schon gelobt habe, herrscht hier doch das »Intakt Seal of Quality«, das dafür sorgt, dass man praktisch jede CD unbedenklich empfehlen kann. Man muss eigentlich nur immer darauf hinweisen, in welche Richtung die Reise geht. Auf »Kalo-Yele« von Aly Keïta, Jan Galega Brönnimann und Lucas Niggli geht die Reise in Richtung westafrikanisch geerdetem Jazz, sprich in Richtung eines polyrhythmischen Minimalismus, der sich in diesem Fall eher dem Wohlklang als dem Experiment verschrieben hat, was nicht zuletzt auch an der Instrumentierung liegt. Brönnimann spielt Bass- und Kontrabassklarinette, was generell für einen warmen Sound sorgt, hinzu kommen die Kalimba bzw. das Balafon von Aly Keïta mit seinen marimbaähnlichen Timbre, sowie das farbenfrohe Schlagwerk von Lucas Niggli. Daraus entsteht ein ebenso wohlfeiles wie verspieltes Crossover von Jazz und Folklore, das ein wenig an jazzige Weltmusikexkurse der späten 1970er und 1980er erinnert. Beinahe könnte man »Kalo-Yele« als westafrikanische Version von »Codona«, der legendären Einspielung von Don Cherry, Collin Walcott und Nana Vasconcelos, titulieren, aber wie gesagt, der Fokus hier liegt stärker auf dem Wohlklang und weniger auf dem formalen Experiment, aber das tut dem Hörgenuss keinen Abbruch.
Aly Keïta stammt übrigens von der Elfenbeinküste, Jan Galega Brönnimann und Lucas Niggli wiederum sind Schweizer, dennoch beide in Kamerun geboren. Zwar sind Herkunftsfragen in der Musik oft ein überflüssiges Thema, aber manchmal entsteht daraus doch eine gewisse Stimmigkeit. Ähnlich liegt der Fall bei »Hidden Voices« vom Aruán Ortiz Trio (ebenfalls erschienen auf Intakt Records). Der Pianist Aruán Ortiz wurde in Kuba geboren, lebt und arbeitet aber in Brooklyn, wo er den Bassisten Eric Revis und den Drummer Gerald Cleaver traf, mit denen er dieses Album einspielte. Ortiz, der zwischenzeitlich auch in Spanien lebte, bringt aus Kuba zwar offenkundig kubanisches und afro-haitisches Feeling mit, doch hat sich der Pianist ebenso mit Free Jazz und modernen Kompositionstechniken zwischen Aleatorik und serieller Musik beschäftigt. Daraus resultiert tatsächlich ein Pianostil, der sowohl in Richtung Rubén González wie Cecil Taylor offen ist, allerdings in sehr sublimer Form. Ortiz kann seine Akkorde mit grooviger Schwere setzen, dann rumbaartig phrasieren, sich dabei dezent ins Atonale verirren … und wieder zurückkehren in einen traditionellen Jazzkanon zwischen Thelonious Monk und Paul Bley. Ûberflüssig zu sagen, wie reichhaltig und hörenswert sein Spiel dadurch wird.
Duette mit einem Toten
Variantenreich geht es auch bei der etwas eigenwilligen Hommage »Harry Pepl & Clemens Salesny, Martin Mayer, Peter Primus Forsch, Agnes Heginger« (Fullmax Recordings) zu. Ohne Zweifel war der 2005 verstorbene österreichische Jazzgitarrist Harry Pepl eine Klasse für sich – und wenn es bei einem Bob Dylan billig ist, dessen Archive bis zur letzten Tonaufnahme zu plündern, kann das auch beim einem Harry Pepl nur Recht sein. Nur verhält es sich hier nicht ganz so. Ab 1996 konnte Pepl aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr öffentlich auftreten, doch er werkte im Heimstudio munter weiter, ein Werk, das er selbst als »Harry Pepl’s Lonely Single Swinger Band« nannte. Auf CD1 werden Ausschnitte aus diesen bislang unveröffentlichten Sessions präsentiert, allerdings stets als nachträglich eingespieltes Ensemblestück, als hätten Salesny, Mayer, Forsch und Heginger höchstpersönlich mit Pepl gejammt. Das Resultat ist ein wenig zwiespältig, man hätte die Schnipsel vielleicht doch lieber separat gehört, zumal Pepl als Gitarrist, Bassist, Schlagzeuger, Pianist und Sänger zu hören ist – und fast jedes Stück in eine andere Himmelsrichtung offen ist. Doch die Arrangements, die diesen Schnipsel umgehängt werden, folgen nur bedingt dieser Offenheit, zu oft verharren sie in einem ähnlich gestrickten Ensemblekorsett mit Schlagseite zu einem, sagen wir, exaltierten Free Bop. Schwer zu sagen, ob diese Nacharrangements nötig gewesen sind, wo doch CD2 ohnehin Bearbeitung bekannterer Pepl-Stücken desselben Ensembles (mit ein paar Extramusikern) enthält. Noch schwerer zu sagen, ob Pepl darüber glücklich gewesen wäre, andererseits war Pepl bekanntlich ein »wilder Hund« und für jede kreative Verrücktheit offen – so gesehen geht die Sache sicher in Ordnung, zumal sie ja ohnehin von großartigen Musikern umgesetzt wird.
Gitarrenhelden
Wir bleiben bei der Jazzgitarre. Der Kanadier Ken Aldcroft ist ebenfalls ein Meister seines Instruments, mit einem allerdings weitaus kopflastigeren Zugang als Pepl beispielsweise. In den letzten Jahren spielte Aldcroft eine Reihe von CDs mit verschiedenen Ensembles ein, darunter Hommagen an Eric Dolphy und Thelonious Monk, meist jedoch mit einem nicht immer leicht verdaulichen Hang zur Atonalität. Auf »Mister, Mister« (Trio Records) ist Aldcroft ohne Begleitung zu hören, und was auch immer man von Soloexzessen halten mag, in diesem Fall ist die Sache ausgesprochen hörenswert, was auch daran liegt, dass Aldcrofts Improvisationen auf komponierten Strukturen basieren. Wir hören also keine Instrumentenerkundung, sondern einen konzentrierten Akt wohldosierter Virtuosität, ebenso anspruchsvoll wie beeindruckend.
Und weil aller guten Dinge drei sind, schließen wir mit einem weiteren großartigen Jazzgitarristen, mit Harri Stojka. Ergo lassen wir alle hochgeistige Kunstmusik hinter uns und springen hinein in ein grooviges Jazz-Wellnessvergnügen, bei dem die Sechzehntelnoten nur so von den Saiten hüpfen. Auf »98 86« (Gipsy Production) hat Stojka ein fünfköpfiges Ensemble versammelt, mit dem er astrein in klassische Jazzgefilde abtaucht und gewissermaßen einen Django Reinhardt auf Fullspeed abliefert. Das fetzt ganz gewaltig, wenn auch mitunter fast schon zwangsweise. Selbst auf einer Blues-Ballade wie dem Miles Davis-Stück »Blue in Green« (übrigens eher schrill arrangiert), kommt es beim Solieren ständig zu Hochgeschwindigkeitskaskaden, aber well, warum wenige (wehmütige) Noten machen, wenn man viele (geile) Noten machen kann? Das bitte bloß nicht als Gemecker missverstehen, »98 86« ist purer Hörspaß, ein jazziger Wirbelwind, der sich gewaschen hat bzw. uns die Ohren auswäscht. Unverständlich ist nur, warum Stojka seiner Band einen so faden Titel gegeben hat. Harri Stojka Fetz Ensemble wäre die viel passendere Wahl gewesen.
The Records
Die Hochstapler »Plays the Music of Alvin P. Buckley« (Umlaut Records)
Emiliano Sampaio Mega Mereneu Project »Tourists« (Session Work Records)
Klaus Heidenreich Quartet meets NDR Bigband »perceptions« (Unit Records)
Spaceheads »A Short Ride on the Arrow of Time« (Electric Brass Records)
Aly Keïta, Jan Galega Brönnimann, Lucas Niggli »Kalo-Yele« (Intakt Records)
Aruán Ortiz Trio »Hidden Voices« (Intakt Records)
»Harry Pepl & Clemens Salesny, Martin Mayer, Peter Primus Forsch, Agnes Heginger« (Fullmax Recordings)
Ken Aldcroft Mister, Mister« (Trio Records)
Harri Stojka Jazz Ensemble »98 86« (Gipsy Production)