Die Sopranistin Barbara Hannigan gilt vielen als die interessanteste Sängerin im Bereich der zeitgenössischen Gegenwartsmusik. Wie sie sich durch das zum Verzweifeln komplexe Stück »Mysteries of the Macabre« von György Ligeti singt, bewegt und schauspielt, hat zu Recht Kultstatus bei Neue-Musik-Apologet*innen. Unter ihrer Obhut öffnet sich diese Musik und wird zum absurd-humorigen Spektakel, das man zwar nicht vollständig versteht, aber sinnlich genießen kann. Wie kaum eine andere Akteurin in diesem Kontext vereint Hannigan Intellekt, Wahnwitz und Entdeckerdrang. Zudem ist sie auch noch eine formidable Dirigentin, manchmal beides in Personalunion. In Sekundenschnelle wechselt sie oft auf der Bühne von ihrer Rolle als Sängerin in die Rolle als Dirigentin. Auch wenn sie »nur« singt, hat man stets das Gefühl, dass Hannigan den Überblick hat und letzten Endes die Fäden zieht. Nach »Crazy Girl Crazy« aus dem Jahr 2017, für das der Musikbogen von Alban Berg bis George Gershwin gespannt wurde, legt sie jetzt nach dem mit dem Ludwig Orchestra eingespielten Werk eine delikate, monothematische und vom Setting und Klangbild her betrachtet auch intime Platte vor. Es ist nicht die erste Zusammenarbeit mit dem niederländischen Klavier-Altmeister Reinbert de Leeuw. Erst 2016 hatten sie sich, ebenfalls im Duo-Setting, mit der Musik von Erik Satie beschäftigt. Dieses Mal knöpft sich das Klavier-Gesang-Gespann Arnold Schönberg, Anton Webern, Alban Berg, Alexander von Zemlinsky & Co. vor.
Wir befinden uns somit in der Zeit um 1900 bis hin zum ersten Weltkrieg. Umbrüche, Übergänge, Verluste und Ängste stehen im Raum. Die Musik auf dem Album wirkt traumwandlerisch und bedrohlich. Das Musikvokabular ist breit und kippt von spätromantischer Harmonik oftmals zaghaft in die Freitonalität. Wüste Avantgarde-Experimente finden sich aber nicht. Die Musik bietet ein zaghaftes Abtasten der heraufziehenden Möglichkeiten. Es ist Musik an der Grenze, mit seltenen Übertritten. Daraus ergibt sich eine intensive Spannung. Alle Lieder sind auch als solche wahrnehmbar, die damaligen Experimente werden einem mit purer Schönheit schmackhaft gemacht und behalten damit ihre Zugänglichkeit. Mehr als bemerkenswert dabei ist, wie Hannigan die Lieder interpretiert. Versuchungen, sie angesichts der oft düsteren und dunkelromantischen Textinhalte mit Pathos zu überziehen, entzieht sie sich virtuos. Stattdessen wählt sie Klarheit und relative Zurückhaltung in Kombination mit gezielter Emotionalität als Mittel. Wenn diese Lieder berühren, dann nicht, weil Hannigan einen zwingt, berührt zu sein, sondern weil sich durch ihre Interpretation deren dunkle Strahlkraft vollständig zeigt. Die hörbare freundschaftliche und musikalische Verbundenheit mit Reinbert de Leeuw fügt der Aufnahme noch eine weitere, hochmusikalische Ebene hinzu. Auch er trägt nicht dick auf, lässt die Lieder atmen und begleitet seine Musikpartnerin mit einfühlsamer und unaufgeregter Direktheit. Genussvoll möchte man sich in diese wundersame Musik hineinstürzen. Es ist schwer vorstellbar, dass es bessere Weggefährten auf diesem Weg in somnambule Abgründe gibt als diese beiden Ausnahmemusiker.