»Beneath the Eyrie« ist fast ein Konzeptalbum geworden. In den Texten geht es um typisch nordamerikanische Mythen und Märchen. Es geht um das düstere Amerika. Um den Geist von Daniel Boone, um Catfish Kate, die mit einem Wels kämpft und Sieger bleibt, um tote Surfer, Gräberhügel und silberne Patronen. Aufgenommen wurde die Platte in einer alten, mitten im Wald stehenden Kirche am Fuße der Catskills. In der Nähe von Woodstock, dort wo Bob Dylan sich einst im Keller eines alten Hauses ebenfalls auf die Suche nach dem düsteren Amerika gemacht hat.
Mit dem Publikum gealtert
Die Popmusik ist alt geworden. Und auch die Pixies sind alt. Thompson ist ein glatzköpfiger und sehr dicker Mittfünfziger. Joey Santiago, drahtig und mit grauem Bart deutlich gealtert, genau wie Schlagzeuger David Lovering auch. Auf dem Bandfoto sticht nur die Bassistin Paz Lenchantin heraus. Sie ist knapp zehn Jahre jünger als der Rest der Band. Auch die Fans der Pixies sind alt geworden. Scrollt man durch die Facebook-Fangruppe stößt man auf unzählige Selfies von grauhaarigen, mehr oder weniger dicken Menschen, die im neuen Pixies-Merch-Shirt posieren. Ende der Achtziger-Jahre waren die Pixies eine absolute Erlösung. Sie machten harte Rockmusik. Aber ohne lange und toupierte Haare, ohne Bandana, ohne albernes Solistengepose und ohne Schminke. Sie sahen aus wie vier Informatikstudis im karierten Hemd. Bei ihren Konzerten machten sie kurzen Prozess. Keine Ansage, ein Drei-Minuten-Kracher nach dem anderen.
1991 trennten sie sich. Aber Kurt Cobain und David Fincher führten die vier 2003 wieder zusammen. Cobain machte die Pixies berühmt mit seiner Aussage, »Smells Like Teen Spirit« sei der Versuch gewesen, einen Pixies-Song zu schreiben. David Fincher setzte 1999 den damals schon elf Jahre alten Song »Where is my Mind?« in seinem Film »Fight Club« ein, der damit plötzlich zum größten Hit der Pixies wurde. Auf einmal waren die Pixies die einflussreichste Rockband der Neunziger. Schon aus rein finanziellen Gründen gebot die Vernunft, dass die vier sich wieder zusammentun mussten. 2013 stieg Kim Deal endgültig aus. Thompson enge sie kreativ zu sehr ein, fand sie.
Musik von Erwachsenen für Erwachsene
Die Pixies haben 33 Jahre Bandgeschichte hinter sich. Aber sie sind keine Walking Dead des Rock’n’Roll geworden, wie die Rolling Stones. Sie haben sich weiterentwickelt. Sie haben erkannt, dass die Leute, die ihre Platte kaufen werden, Erwachsene sind. Und deren Ansprüchen werden sie auf äußerst kreative Weise gerecht. Die Veröffentlichung der Platte wurde von einer Podcast-Serie begleitet, die die Entstehung der Platte dokumentierte. Erwachsene Musikhörer*innen warten heute nicht mehr auf neue Musik. Sie warten auf die Reissues alter Platten. Plötzlich steht »Abbey Road« wieder an der Spitze der Charts. Inklusive dem kompletten Studiomülleimer. Die Musikmagazine berichten über alte Kassetten und es wird zur Sensationsmeldung, dass die Beatles über eine weitere Platte nach »Abbey Road« nachgedacht haben. Mit ihrem Podcast liefern die Pixies solche Bandmythos-Narrative gleich zur Erstveröffentlichung ihrer Platte. Dazu gibt es auch gleich die Demos und die Bonustracks (= Studiomülleimer), die es »nicht aufs Album geschafft haben«. Als sei »Beneath the Eyrie« ein Reissue. Noch bevor die Platte herauskommt, sind die Fans komplett »familiar« mit ihr.
Musikalisch führen die Pixies ihren Sound in eine neue Dimension. Americana- und Surfsound sind ständige Referenzen. Das rockistische Element ist deutlich zurückgeschraubt. Das liegt vor allem an Paz Lenchantin. Ihr komplexes Bassspiel, ihr Harmoniegesang, ihr behutsames Keyboardspiel und nicht zuletzt ihr Songwriting verleihen dem typischen Pixies-Sound ein neues Level an Komplexität, aber auch an Harmonie. Der junge britische Produzent Tom Dalgety ist der zweite Grund für die neue Stärke der Pixies. Seine vorsichtige Restaurierung des Pixies-Klangbildes bewegt die Gruppe in Richtung Bob Dylan oder Johnny Cash. Dalgety ist auch der Titel »Beneath the Eyrie« und die großartige Zusammenstellung der Albumsongs zu verdanken.
Amerikanische Mythologie
Der Eröffnungssong »In the Arms of Mrs. Mark of Cain« nimmt die Hörer*innen gleich mit in die neue Pixies-Sound-und-Themen-Welt. »My memories are all fables / So I’m trying to get at the truth« erinnert an Leslie Fiedlers berühmte Aussage, Amerikaner*innen lebten mehr im Mythos als in der Geschichte. Und dann wird auch gleich die große Mythenmaschine der USA erwähnt: »Hollywood, yes it’s always the same / But it feels so damned good«. »Graveyard Hill« ist eine Horror-Hexen-Geschichte, die fast schon lautmalerisch gestaltet ist, aber dennoch sehr catchy-melodiös daherkommt. Großartig ist auch »Catfish Kate«. Eine Geschichte, von der Thompson behauptet, sein Vater habe sie ihm erzählt. Eine Frau namens Kate geht fischen. Ein Katzenfisch packt sie und zerrt sie auf den Grund des Flusses. Dort kämpfen die beiden einen Tag lang. Schließlich steigt Kate als Siegerin aus dem Wasser. Und als Robe trägt sie die Katzenfischhaut. Ein klassisches Märchenmotiv in einem ruhig dahinfließenden Song.
Die Platte hat keinen einzigen Aussetzer. In dem Heavy-Rockabilly-Kracher »St. Nazaire« vermischt Thompson schottische Mythologie mit dem Nazi-U-Boot-Bunker im französischen St. Nazaire. Ein weiterer Höhepunkt der Platte ist das nebelig-raunende »Daniel Boone«, in dem sich auch Paz Lenchantin musikalisch entfalten kann. Lenchantin singt das von ihr getextete »Los Surfers muertos«. Ihre Stimme gleitet auf den Gitarrenwellen von Joey Santiago dahin. Die Band verzichtet weitgehend auf das als ihr Markenzeichen geltende Laut-Leise-Laut-Schema. Stattdessen bietet die Platte herrlich ausgetüftelte Arrangements und eine süßlich-morbide Atmosphäre. Für die Pixies-Fans hallen immer noch genügend biographische Echos durch den Pixies-Sound. Aber Paz Lenchantin und Tom Dalgety sorgen dafür, dass die Platte keinen Zombiesound bekommen hat. Musik von Erwachsenen für Erwachsene. Starke Leistung.