Der Gitarrist Martin Philadelphy vertont Poeme zum Ukraine-Krieg, der in russischen Schulbüchern ab Herbst als »Sonderoperationen, die das Ziel haben, Feindseligkeiten in der Ukraine zu stoppen« beschrieben sein wird. Russische Staatsbürger*innen dürfen dazu nicht »Woina« sagen. »Krieg« also nennt Thomas Nyx seinen Lyrikzyklus, und spricht aus, was das ist. Etwas zutiefst zu Verabscheuendes, dem mensch aber nicht entkommt, auch wenn er nur durch seine schiere Präsenz bereits den Widerstand gegen die nihilistische Macht des grausamen Putin-Mafiastaates verkörpert. Dass der Kreml und der Klüngel aus Putins Profiteuren den imperialen Krieg mit kruder pseudohistorischer Rechtfertigung nunmehr vor allem aus Machterhaltgründen betreiben, davon soll hier nicht die Rede sein. Martin Philadelphy zur Umsetzung des Gedichtes als instrumentaler Soundtrack, eingespielt mit elektrischer Gitarre, Vocals, Samples, Loops und Toys: »Der Part des Gedichts, der den Track bildet, wird bei Beginn des Stücks auf eine Leinwand projiziert und/oder gesprochen. Ich vertonte die Bilder, die mir in den Kopf kamen, als ich das Gedicht las. Für mich ist »Woina« ein Antikriegsfilm für die Ohren mit beigelegtem Buch. Oder: Programmmusik für Gitarre und Stimme, basierend auf dem Gedicht ›Woina‹ von Thomas Nyx.« »Woina« gelangt dermaßen am Freitag, dem 8. September 2023 um 19:30 Uhr im ORF RadioKulturhaus zur Uraufführung.
»Krieg ist und keiner geht hin«
Wo Krieg herrscht, in dem der Aggressor sich herausnimmt, Menschen zu töten und Kulturgüter zu zerstören, und der sich Wehrende, wenn er seine Notwehr über die Grenze hinaus ausdehnt, der Gefahr einer Kriegseskalation selbst in den Nachrichten auf Radio Ö1 bezichtig wird, stimmt grundsätzlich etwas nicht. Russische Desinformation gab es schon vor dem Ukraine-Krieg und natürlich ist es eine kleine Anmaßung, einen akustischen Antikriegsfilm herauszubringen. Machen wir uns also ein Hörbild von diesem Album in elf Szenen. Fast zu schön beginnt der Flug der »Schwäne über Mariupol«, der durch geloopte Schwebeästhetik allmähliche eine Drohkulisse aufbaut, die ab Minute 4 in klagendes Gekrächze mündet. »Krieg ist und alle gehen hin« ist das zweite Klangbild, das den Aufmarsch einer Soldateska nachstellt, doch geht keineswegs jeder hin und jene, die sich wehren, tun das, weil sie die furchtbare, antidemokratische, willkürlich Tod bringende Besatzungsmacht nicht im Land haben wollen. Die neunte Szene stellt dem illusionär entgegen »Krieg ist und keiner geht hin«. Wie aber den Horror der Auslöschung der mit Opfern erkämpften demokratischen Identität – in den russisch okkupierten Oblasts herrscht Repression – ertragen?
Es ist nicht die Ehre, die einen zur Waffe greifen lässt. Die grausame Beiläufigkeit, die auch Zivilist*innen am falschen Ort, und davon gibt es im Kriegsgebiet der »Grenzlandes« zu Russland sehr viele, das Leben kosten kann, kommt jedoch eindringlich rüber: »Irgendwo Felder / Regengüsse / und irgendwo / dazwischen / gelangweilt Schüsse. / Einer traf Serhij – Er / wäre gerne Nerd geblieben.« Die schöne Melodie, die den »Regen in der Ukraine« ausmalt, ist heimtückisch, das Sterben soll nicht umsonst gewesen sein.
Der Krieg kennt nur einen Sieger: den Tod
Eine Despotie, die mit ihrer Lügenpropaganda ähnlich anderen faschistischen Regimen die eigenen Leute glauben macht, dass es gegen Feinde, die nicht menschlich sind, geht, begeht das Verbrechen der Verrohung, das quasi den Freibrief fürs Töten ausstellt. Dieses Überlegenheitsdenken kommt in der scheußlichen russischen TV-Propaganda speziell zum Ausdruck. Und leider gibt es fern von Moskau nur das üble, Menschenrechtsverbrechen zum Alltag erhebende Staatsfernsehen. Irgendwie scheinen die Gitarren zu weinen, wenn »Eine sibirische Mutter« um die gesunde Heimkehr ihres Sohnes betet. Es geht keineswegs um die Dämonisierung des »durchschnittlichen russischen Menschen«, sondern darum, welche Tragiken die fatale Wirkung der staatlich verordneten Einheitspropaganda birgt. Die Ideologie der imperialen Größe vertritt im Schulterschluss mit dem Kreml auch die russische Orthodoxie, was die Gehirnwäsche noch perfider macht. »Der Gottesmann in Moskau« meint den Patriarchen Kyrill: »In Moskau ist der Gottesmann / imposant / ist selber Kathedrale / nach Weihrauch riecht an ihm / sein Bart / sein Wort / riecht nach / Verwesung.« Folglich ist im zehnten, vorletzten Szenario »Ein Irrer an deiner Tür« der Geheimdienst-Chauvi, unfähig der Empathie, der mit viel Kalkül nicht nur die Ukraine, sondern auch Europa, womöglich die Welt und seine Landsleute ins Verderben führt. Das finale »Kainsmal« steht für das Z, für nihilistischen Zynismus.
»Woina« ist ein beklemmender instrumentaler »Antikriegsfilm«, dessen Musikalität von der ukrainischen Nationalhymne nach Mychajlo Werbyzkyj, von Tschaikowski, einem russischen Volkslied und einem Trauermarsch der Bolschewiki inspiriert wurde. Die Ohnmacht des Einzelnen gegen eine Kriegsmaschinerie wird mehr als deutlich. Thomas Nyx schreibt dazu in den gut ausgewogenen Liner Notes, »dass in allerletzter Konsequenz – dieses kleine Wort ›Krieg‹ mit den furchtbarsten aller Folgen verbunden ist: Die Vernichtung von Menschen, ganz gleich, ob sie für eine gerechte oder verbrecherische Sache sterben. Der Krieg kennt nur einen Sieger: Es ist auch diesmal, es ist dies immer wieder nur die Verneinung des Lebens, der Tod.«
Thomas Nyx/Martin Philadelphy: »Woina« (Edition Nachtvogel). Live am Freitag, 8. September 2023, 19:30 Uhr im ORF RadioKulturhaus.
Nachtrag: Am Samstag, dem 24. Februar 2024, 22:00 Uhr, spielt Martin Philadelphy »Woina« liv in der Roten Bar im Volkstheater.
Links: http://www.philadelphy.at/
https://vimeo.com/showcase/woina