Fotos: © Birgit Hupfeld
Fotos: © Birgit Hupfeld

Anarchistische Körperzellen

Utopische Musik, das Protestjahr 2011 als theatrale Auseinandersetzung und die Frage nach horizontalen Arbeitspraxen im Theater erörtert der Berliner Autor und Regisseur Kevin Rittberger im Interview mit skug.

skug: Was war die Anregung, das Stück »Lasst euch nicht umschlingen ihr 150000000!« zu schreiben?
Kevin Rittberger:
Ich war letztes Jahr in Ägypten, als die Revolution ausgebrochen ist, und später in London zum Schreiben. Kurz nachdem ich abgereist bin, brannten dort, wo ich wohnte, zwischen Hoxton und Hackney, die Geschäfte. Das war schon ein eigenartiges Klima. Ein ehemaliges Arbeiterviertel, viele Migranten, viele Galerien, eine spürbare soziale Kluft usw. Und direkt gegenüber dieser Fotograf, der tagein, tagaus Models an die Wand gestellt hat. Kurz vor der Wahl war ich dann in Tunesien, während hier in Kreuzberg vor der Tür die Autos gebrannt haben. Die Krise hat letztes Jahr einen Flächenbrand ausgelöst, den man immer noch nicht richtig zu benennen wei&szlig oder wo man sagen kann, gegen wen er sich richtet, was das Gemeinsame ist bzw. ob es einen gemeinsamen Nenner gibt. Wenn etwa ein Chor zwischen der Puerta del Sol in Madrid und dem Paulsplatz in Frankfurt skandiert: »A! Anti! Anticapitalista!« – was ist da das, was das alte, marode System ablösen soll? Die Fragen dieses Stücks beschäftigen mich schon seit Jahren, ob ich Alexander-Kluge-Texte, Dietmar-Dath-Romane oder eigene Stücke inszeniere. Das sind immer ähnliche Fragestellungen. Dazu kamen die konkreten Schauplätze, die ich im Kopf hatte. Wobei ich den Spanischen Bürgerkrieg und den dortigen Anarchismus, also die freiwilligen Kollektivierungen, natürlich nicht selbst erfahren habe; das recherchiere ich dann, weil ich das sehr spannend finde. Anarchismus als Massenbewegung, die nichts von heutigen Gesten wie Vermummen, Steine werfen, Dagegensein, Terrorismus hat, wie er von der bürgerlichen Presse auf die übliche Weise diffamierend dargestellt wird. Da habe ich mich u. a. auch mit Peter Weiss‘ »Ästhetik des Widerstands«, Augustin Souchys Protokollen des Anarcho-Syndikalismus und Hans Magnus Enzensbergers »Ein kurzer Sommer der Anarchie« auseinandergesetzt. Zum Triptychon als Gerüst bin ich gekommen, weil mich formal und inhaltlich immer verschiedene Ansätze interessieren. Ich glaube nicht, dass man nur mit einem Kammerspiel gesellschaftliche Themen adäquat bearbeiten kann.

Das Stück besteht aus drei Teilen. Was sind das für unterschiedliche Materialien, die du zum Text hast werden lassen?
kr1.jpgDer erste Teil hat tatsächlich etwas von einem Kammerspiel. Es gibt identifizierbare Figuren. Zunächst gibt es da den Fotografen, der für ein Fotoshooting mit Assistentin und Model nach Andalusien fährt und das aus dem Ruder läuft. Die drei kommen zur Location, in der Robert Capas »Fallender Soldat« aufgenommen wurde. Der Fotograf stellt dabei zunächst einen eigenartigen Aktionismus zur Schau: Er kehrt ganz den aggressiven Herrenmenschen nach au&szligen, der nun in Spanien auf einer Bananenplantage nach Kolonialherrenart deutsche Hegemonieansprüche behauptet sowie andere Parolen in den Wald schreit – auf dass sich auf der anderen Seite endlich Protestenergie rege. Es passiert aber nichts. Die drei Deutschen, die das Terrain besetzen, werden stattdessen von der Sprenkelanlage vergiftet, kommen nicht mehr weg und bringen sich in Sicherheit. Als mahnendes Bild sitzen sie am Ende wie die drei Affen auf den Bäumen.
Dann gibt es eine Parallelebene: Ein steinalter Mann sitzt in einer Lottobude, eine verlassene, nicht mehr frequentierte Once-Lottobude. In Spanien ist das eine nicht-Fauf den bäumenkommerzielle, gemeinnützige Lotteriegesellschaft. Der alte Mann sucht nach Alternativen zur Idee des Gewinnens. Wie könnte eine Lotterie der Zukunft aussehen? In meiner Kindheit habe ich auf dem Cannstatter Wasen gerne an einer kleinen Bude gespielt, wo der Besitzer immer sagte: »Jedes Kind kriegt ?? ebbes??«. Und das war gro&szligartig, man konnte als Kind auch ohne Skills einen Plüschteddy nach Hause bringen. Das sind Bilder, die dann zu Monologen des alten Manns geführt haben, die in assoziativer Nähe zu Augustin Souchy stehen. Es geht also um den Spanischen Bürgerkrieg, den Anarchismus und darum, zu neuralgischen historischen Momenten zurückzugehen und sich frei nach Alexander Kluge zu überlegen: Es hätte auch anders laufen können. Oder auf der Körperzellenebene das Modell des Anarchismus durchzuspielen und die Frage nach Hierarchie und Herrschaft der »körperlichen Kommandowirtschaft« zu stellen. Der steinalte Mann attestiert für sich als Intellektuellen, dass »das Hirn der Hand devot das Buch hält«, fragt sich dabei aber, ob das alles gewesen sein kann. Er sucht immer den Kontakt zur Welt, zieht sich aber als Einsiedler immer weiter zurück. Das ist im ersten Teil eine Art Dystopie. Im zweiten Teil habe ich einen Roman aus den 1890er Jahren adaptiert, »News from Nowhere« von William Morris. Morris war Unternehmer, Designer, Maler, Schriftsteller, ein sehr unorthodoxer Linker für diese Zeit und hat auf der Ebene des Science-Fiction für das Jahr 2040 eine gelungene neue Welt entworfen, die libertär-kommunistische Züge trägt, ein Modell direkter Demokratie, das mich als Zukunft der Vergangenheit interessiert hat. Ein Schritt zurück, der einen Schritt nach vorn darstellt. Morris entwirft da eine Welt, in der alle Künstler bzw. Kunstarbeiter sind. Das ist in meinem Stück auch der Traum des steinalten Mannes, den ich zum Zeitreisenden gemacht habe und der diese Gesellschaft kennenlernt, die auch anarchistische Züge trägt. Im dritten Teil gibt es noch einmal eine Reise, für die mein Tunis-Tagebuch das Ausgangsmaterial darstellte. Auch da taucht wieder der steinalte Mann auf, der sich mit dem begrifflichen Rüstzeug der Morriswelt im Gepäck aktuellen Fragen der politischen Gegenwart stellt. Und sich von dem Traum, der noch in bunten Farben aufleuchtet, verabschiedet. Die Frage, die ihm am Ende des Romans gestellt wird, ob ihm denn hier jetzt das Glück begegne, kann er nicht beantworten. Der Traum zerbröckelt dann nach und nach. Ich habe mich letzte Woche mit einer Tunesierin getroffen, die zur Berlin Biennale eingeladen wurde, um über die Protestenergie der tunesischen Jugend zu sprechen, deren heimische Realität aber inzwischen schon wieder umkippt. Hier erzählt sie von der Revolution und dort befürchtet sie den Rückfall in die Diktatur.
Das passt gut zum dritten Teil des Stücks, in dem eine Zeit des Anfangs beschrieben wird: Der alte Mann benennt ja dieses Anliegen, den Anfang unendlich auszudehnen als »Neotenie«. Ein Begriff, den er aus der Anthropologie entnommen hat, der auch bei Kluge ähnlich auftaucht und die Permanenz des Umbruchs, des Anfangs meint. Wie kann man vermeiden, dass das Neue wieder in das Alte umschlägt, eine Form der Fixierung stattfindet oder der Reinstitutionalisierung. Wie könnte man die Tabula rasa länger aushalten?

Der ethnologische Begriff der communitas, der Gleichheit, Gemeinschaftlichkeit und Aufhebung von Hierarchien in ?bergängen, liminalen Phasen von Ritualen hebt auf eine ähnliche Frage ab und wurde auch häufig im Zusammenhang mit den Protesten des letzten Jahres diskutiert.
Ja, und diese ganzen Prozesse bespiegeln ja auch mein eigenes Demokratieverständnis: Ist das wirklich das kleinste ?bel, diese Form der parlamentarischen Demokratie, oder gibt es noch eine Form radikalerer Demokratie?

Du benutzt und adaptierst in deinen Texten sehr häufig theoretische, wissenschaftliche oder politische Konzepte, von Peter Kropotkin über Alain Badiou bis zu Boltanski/Chiapello ist bei dir vieles zu finden. Gibt es aus theatraler Perspektive Materialien, die sich für das Theater sprachlich gut oder weniger gut eignen, oder machst du diese Unterscheidung nicht?
Bühnentauglichkeit hei&szligt für mich nicht, Theorien oder komplexe Dinge zu meiden oder alles immer zu banalisieren oder auf eine Fabel zu bringen. Aber Theorie auf der Bühne braucht immer einen Grund. Es muss einen körperlichen Träger geben, der diesen Grund schafft. Man braucht da eine Wühlmaus. Jemand muss mit einem Spaten irgendwo graben oder hinter die Fassade schauen und den muss man in immer neue Kostüme kleiden. Aber bestimmte Dinge lassen sich narrativ oder episch besser beschreiben als dramatisch. Ich mute da dem Probenprozess auch viel zu und bin immer optimistisch, dass man Dinge auf die Bühne bringen kann. ??Neoten?? hei&szligt für mich in diesem Zusammenhang auch, dass es nichts gibt, was auf der Bühne nicht ginge oder nicht zu spielen wäre. Ausbildungen von Schauspielern sind zwar häufig anders gebaut, was beizeiten Ringkämpfe, selten auch Ausstiege provoziert, aber ich kann da keine Kompromisse gegenüber einem Schauspieler machen, der eine aristotelische Entwicklung spielen möchte oder ein Protagonist sein will. Das ist auch für mich immer ein inneres Tauziehen. Ich will immer zum Ungestalteten und Ungeformten, will das Rohe zulassen, gleichzeitig fängt aber immer etwas in mir an zu schneiden, zu rhythmisieren, zu gestalten, dass es sich aufnehmen lässt.

Du arbeitest ja auch häufig in ungewohnten Konstellationen mit bildenden Künstlern, Musikern oder Fotografen, die es vielleicht verhindern, in zu geläufige Muster hineinzurutschen. Das sind Konstellationen, die über ein Theaterverständnis von Text, Schauspiel und Regie im herkömmlichen Sinn hinausgehen und von vornherein ständige Neukombinationen erfordern.
Ich genie&szlige es auch, in jeder Produktion jemanden dabeizuhaben, der noch nie Theater gemacht hat. Ich versuche nicht die Bildhauerin, die zum ersten Mal Bühne macht, zur korrekten Bühnenbildnerin zu machen. Mir ist ihre Autonomie, ihre Selbständigkeit sehr wichtig. Von Bertolt Brecht und Heiner Müller habe ich die Wichtigkeit der Trennung der Elemente als Mittel gegen das Illusionstheater gelernt und empfinde diesen Impuls immer noch als Motor.
Bei der William-Morris-Episode haben wir uns gefragt: Wie können wir die Kunstarbeit auf der Bühne darstellen? Man könnte das ganz schnell verraten. Manch eine Kritik hat die Kostüme und Frisuren dann auch nur als Steiner- oder Enterprise- Parodie deuten können. Wir haben aber versucht, die Wärme, die ich bei der Lektüre empfunden habe, auf die Bühne zu retten. Zukünftige Menschen, die genau wissen, was sie tun und was sie da überwunden haben. Im vollen Bewusstsein aller ökonomischen, politischen, alltagskulturellen Umstände. Aber wie bringt man das Kunsthandwerk auf die Bühne? Einer, der an seiner Werkbank hämmert, ein anderer am Laptop, digitale Boheme zusammenzudenken mit Hobbybaukasten im Keller? Die Parodie oder das Nichtfunktionieren von etwas ist immer viel einfacher. Auch auf der Rezipientenseite. In dem Zusammenhang war es bei »Lasst euch nicht umschlingen ihr 150000000!« gro&szligartig, Volker Zander als musikalischen Leiter dabei zu haben, der inspiriert von Christian Jendreiko und Cornelius Cardew über ganz andere Formen der Musik nachdenkt. Wie kann man ein Instrument benutzen, um miteinander zu sprechen? Wie kann man ein nicht-hierarchisches Gefüge musikalisch darstellen? Eine Partitur eines Komponisten vom Blatt zu spielen, vielleicht wäre das eine passende ?bersetzung, Morris‘ Gedanken schmackhaft zu machen und ins 21. Jahrhundert zu holen. Volker hat dann ein ganz anderes Konzept von pieces mit Notationen entworfen, in denen keine Noten oder Akkorde enthalten sind. Eines nennt sich »Once- Pons«, wegen der Bude und des ?bersetzerdudens, wo er versucht hat, dieses Konzept, »jeder bekommt ??ebbes??« für zwei Vierergruppen auf der Bühne zu übersetzen. Dann gibt es »Snow Government«, in dem es um eine Form des Nichtregiertwerdens geht. Ihn das machen zu lassen, war für mich ungemein faszinierend. Am Anfang habe ich höllisch gelitten, weil es sich wie ??Pling-Plang?? anhörte, weil man ??kulinarisch?? zunächst nicht auf seine Kosten kommt, was den Klang angeht. Man hat schöne Instrumente, die gezupft und gekratzt werden. Es ist keine Neue Musik oder eine Iannis-Xenakis-Skulptur, es ist immer etwas Neues undkann immer in die Hose gehen. Ich musste mich da sehr zusammenrei&szligen in meinem Bedürfnis nach Struktur, nach Wiederholung, wenn einmal etwas gelang und ein kostbarer Moment dabeiwar, der die Stimmung von Morris traf, wie z. B. die Ükonomie des Schenkens … also dieser neuen Sprache Zeit und Raum lassen. Und dann kommt der Intendant und sagt: »Das ist ja schrecklich, das ist ja nur ??Pling-Plang??«. Aber es ist inzwischen gro&szligartig. Es geht um glückhafte Momente, die immer neu entstehen. Es geht darum, andere Formen des Miteinanderspielens zu finden. Hier ist die Musik auch nicht wie bei anderen Romanadaptionen nur dazu da, dass es gut runtergeht.

Es erinnerte in vielerlei Hinsicht auch an die experimentelleren Seiten von New Weird America und dessen pasticheartig mit Natur und Kollektivideen der 1960er spielenden Experimente, die eine andere zeitgenössische Referenz für ein Morris-Update sein könnten. Und es warf die interessante Frage nach dem Verhältnis von Individualität und Kollektivität auf und ihr Mischungsverhältnis in heutigen sozialen Bewegungen.
Ich muss da einen etwas kruden Vergleich bemühen: Sehr beschäftigt hat mich der Grad an Nichtorganisation im spanischen Anarchismus, der dann von der KP und der Komintern zersetzt wurde. Die Anarchisten der CNT/ FAI werden da zersetzt oder lassen sich zersetzen, in dem sie sich nicht auf ihre Tugenden, ihre Stärken verlassen, sondern sich schnell noch ein wenig Disziplin, Hierarchie, Uniform, Obrigkeit etc. aufstülpen oder aufstülpen lassen. Ich wei&szlig auch nicht, inwieweit sich eine Idee immer am Kriegszustand messen lassen muss, um auch eine gesellschaftliche Form anbieten zu können. Im Theater kommen z. B. in den Endproben die Menschen aus den oberen Etagen zu den Proben, fordern dies und das, argumentieren mit Verkaufszahlen, erzeugen ein Klima der Angst, äu&szligern in manchen Fällen, dass das elitär sein könnte, sich wochenlang einzuschlie&szligen und Dinge zu erproben, neue Welten zu antizipieren, und nachher ginge das am Zuschauer vorbei. Da ist es wichtig, zu beharren und eine Arbeitsweise zu verteidigen. Sonst fühlt es sich hinterher häufig sehr schal an, wenn man im Eifer des Gefechts zu viele Kompromisse eingeht.

Die Reflexion der eigenen Theaterarbeit zur Horizontalität ist sehr interessant, weil dem Theater, oft auch zu Recht, vorgeworfen wird, es gäbe eine gro&szlige Diskrepanz zwischen Darstellung und konkreter Arbeitspraxis. Der Betrieb, der aus dir den Diktator macht, der du nie sein wolltest ??
Das Terrain wird jedes Mal in neuen Konstellationen abgesteckt. Man kann da durchaus auch das Theater als Labor begreifen. Dem anderen etwas zuzutrauen, ihn nicht erziehen zu wollen, einander zuhören usw. Aber ich muss die Arbeitsteilung auch nicht gänzlich aufheben, jeder hat Skills, und nicht jeder muss Regisseur sein, nicht alles muss selbstregulativ sein, man muss auch durchsetzungsfähig sein. Aber das schlie&szligt einander nicht aus. Es ist wichtig, dass sich jeder dazu äu&szligern kann, was das mit seinem Leben zu tun hat, über das Theater hinausweisend. Auch was Hospitanten und Mitarbeiter angeht, wie man im Team arbeitet, was man zusammen probieren kann. Natürlich gibt’s Reibungen mit der Institution, mit Spielplänen, mit Repertoirebetrieb. Man bewegt sich da auch auf einem Markt, auf dem man ??gelabelt?? wird, bestimmte Dinge erwartet werden, es Handschriften geben soll, die anzubieten man aufgefordert ist. Wichtig ist, dass es eine Glaubwürdigkeit gibt, nach innen und au&szligen. Darüber kann aber kein Einzelner entscheiden.

Dein Stück kann in eine Reihe von Inszenierungen der letzten Wochen gestellt werden, die sich theatral mit den Protesten der jüngsten Zeit auseinandersetzen: Sei es Martin Heckmanns »Wir sind viele und reiten ohne Pferd« oder Volker Löschs Camus-Adapation »Die Gerechten / Occupy«, beide in Stuttgart, das Theater führt gerade den Aufstand auf. Und gerade letztere Inszenierung versucht vom klassischen Lösch- Belehrungstheater wegzukommen zu einer Art partizipativem Agitationstheater, in dem die Schauspieler schnell aus ihren Rollen russischer Revolutionäre treten, um aus der Theaterinszenierung eine General Assembly zu machen, an dessen Ende die Bildung von Arbeitsgruppen stehen sollen. Es ging schief, die Leute wollten lieber Camus und Fu&szligball sehen, als über Waffenexporte zu diskutieren und hinterher in kleinen Arbeitsgruppen zusammenzutreten.
In Düsseldorf haben wir uns kürzlich in »Enthusiasm«, einer Reihe, die ich mit Stefan Schneider und Ludwig Haugk kuratiere, mit dem Fluxus-Künstler Carlheinz Caspari beschäftigt, der als Arbeits- und Werkbegriff »Labyr« benutzt hat und sich mit dem Situationisten Constant und seiner Stadtidee »New Babylon« den Ball zugespielt hat. Dort haben wir uns auch entschieden, eine dezentrale Setzung vorzunehmen und die Zuschauer auf die Bühne zu holen und themenbezogene Tische zu gestalten. Das sind Sachen, bei denen man immer mit viel Frustration rechnen muss, die Leute fühlen sich schnell veralbert, haben den Stempel »Mitmachtheater « vor Augen, wollen nicht erzogen werden. Das wollen sie zu Hause machen, sagen sie dann, machen es aber nicht.
Ich glaube, es ist ein Fortschritt, wenn solcherart politisches Theater sehr viel widersprüchlicher, transparenter, unterhaltsamer wird und weniger doktrinär. Und sich selbst reflektierend. Ich bin aber skeptisch, wenn man solchen Abende aus Verkaufsgründen immer noch den Namen »Die Gerechten« gibt. Wenn es hie&szlige: »Winkewinke, stinkestinke« … das wäre ehrlicher. Aber ich habe den Abend leider noch nicht gesehen.

Der Theaterwissenschaftler Kai van Eikels hat kürzlich in einem Text über Occupy und politisches Theater versucht, den Begriff der »Synchronisierung « gegen das klassische Resonanzmodell des Theaters ins Spiel zu bringen, wenn es einem Theaterabend darum geht, »bleibende Wirkung zu entfalten«: »Partizipatorisches Theater hei&szligt nicht mehr die Zuschauer (stärker) an der Aufführung teilnehmen zu lassen. Es ist das Theater, das gut daran täte, sich zu überlegen, wie es an dem, was seine Zuschauer miteinander tun, partizipieren kann, an ihrem Leben, das auch in zerstreuten, auf lockeren Bindungen beruhenden, Distanzen wahrenden, unverbindlichen Kollektivitäten ein Zusammenleben ist und dessen Bewegungen soziale und politische Wirklichkeit haben.« Wie denkst du über bleibende Wirkung?
kr4.jpgJa, das meine ich im Grunde ähnlich. Entscheidend ist, dass das Publikum als mündig betrachtet wird, während man selber nicht versucht, es ihm recht zu machen. Ich erkenne manchmal gelungene Arbeiten daran, dass jeder Zuschauer lacht, aber jeder an einer anderen Stelle. Die entscheidende Resonanz ist ja die des Publikums, nicht die von der Bühne runter. Natürlich kann ein sich entwickelndes Individuum in einem Kammerspiel da nur begrenzte Realitäten behaupten, da ist der Text, der täglich neu entsteht, ich meine das gar nicht einmal nur als Schrift, viel komplexer. Da muss die Ästhetik, verstanden als produktives Verhältnis aus Form und Inhalt, auf die Verwerfungen eingehen, die eine Differenz, z. B. zwischen Botenbericht und Twitter, zwischen Schlachtbeschreibung auf einem Hügel in Brandenburg und Waffengeschäften einer Gro&szligbank, die rückwirkend durch die Nachfrage der Kleinaktionäre geheiligt werden, fruchtbar macht. Das kann zu ?berforderung führen, weil man ja diese ?bersichtlichkeit eines Feldherrenhügels im Theater auch gerne hätte, das hat aber nichts mit unserer Welt zu tun. Mit der Welt, wie sie sein könnte. Tatsächlich wird ja ständig Position auf dem Feldherrenhügel eingenommen. Ich denke aber schon, dass eine Wirkung sich dergestalt entfalten kann, dass erstmal alles leer wird, weil Fragen aufgeworfen werden, Dinge beackert werden, die wir noch nicht kennen. Und so können bildliche Konstellationen oder das Aufeinanderprallen von Nicht-Zusammenhängendem an einem Theaterabend schon auch Eindrücke hinterlassen und dann später bruchstückhaft, auch noch Monate später, ja, vielleicht gerade erst dann aufblitzen und brauchbar werden. Sodass ich zwischen verschiedenen Resonanzen unterscheiden würde. Dass es sofortige Wirkung zeigen kann, glaube ich nicht. Wenn »Synchronisierung« hei&szligt, dass man im Theater wie im Frühstücksfernsehen zeigen kann, welche Marmelade jetzt am Mund des Studiogastes klebt, der gerade von seiner Angst spricht, dass das Geld, das er sich verdient hat, morgen nichts mehr wert ist, dann würde mir das auch nicht reichen. Obwohl: Das Schöne ist ja, dass man im Theater Unmengen an Marmelade verschmieren muss, damit man es in der letzten Reihe auch noch sieht. »Lasst euch nicht umschlingen ihr 150000000!« ist am Schauspiel Frankfurt zu sehen. Ein neues Stück von Kevin Rittberger wird in der Spielzeit 2012/13 am Schauspielhaus Wien Premiere feiern.

»Lasst euch nicht umschlingen ihr 150000000!« ist am Schauspiel Frankfurt zu sehen.
Ein neues Stück von Kevin Rittberger wird in der Spielzeit 2012/13 am Schauspielhaus Wien Premiere feiern.

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