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»Charisma können wir nicht beim Billa kaufen«

Im Interview mit skug spricht Ismael Ivo über seine aktuelle Produktion mit der »Körperbibliothek«, Inspirationsquellen und Unterrichtsansätze, Charisma, Angst und Heldentum.

Bereits zum zweiten Mal findet unter der künstlerischen Leitung von ImPulsTanz-Mitbegründer und Choreograf Ismael Ivo das internationale Ausbildungsprojekt Biblioteca do Corpo statt. Eingeladen sind dreißig junge internationale TänzerInnen, die individuell und im Ensemble von Ismael Ivo und Francesca Harper persönlich begleitet werden. Heuer bekommen die TänzerInnen die Gelegenheit, mit internationalen Größen der Tanzwelt, wie Jose Agudo (Akram Khan Company), Iñaki Azpillaga (Ultima Vez) und Marta Coronado (ROSAS) zu arbeiten. Nach dem großen Erfolg der Biblioteca do Corpo Bearbeitung eines der wichtigsten Werke des 20. Jahrhunderts, Strawinskys »Sacre du Printemps« (1913), mit dem programmatischen Titel »NO SACRE« im letzten Jahr entsteht 2014 die neue Arbeit »Erendira«, inspiriert vom magischen Realismus des im April verstorbenen Gabriel Garcia Márquez.

skug: Was verrät uns der Titel Erendira über Ihr neues Stück? Erendira ist ein Mädchennamen und zugleich die Figur einer Kurzgeschichte von Gabriel García Márquez. Was steckt hinter dieser Namensgebung?

Ismael Ivo: Der Titel spiegelt einen ganz bestimmten Moment unserer Gesellschaft wider: zweihundert Mädchen in Nigeria verschwinden und keiner kann sie finden. Die Schlagzeile »Bring Back Our Girls!« ist jetzt in den Weltnachrichten. Aber diese Entführungen passierten nicht zum ersten Mal. In jeder großen Stadt gibt es Personen, die auf unerklärliche Weise verschwinden. Seit vielen Jahren werden Kinder, zumeist Mädchen, über einen weit verzweigten Schwarzmarkt verkauft und landen in tristen Arbeitsverhältnissen oder in der Prostitution. Oft werden sie von den eigenen Verwandten verkauft, um der Familie ein Ûberleben zu sichern.  Diese zweihundert verschwundenen Mädchen werden vielleicht nie mehr gefunden. Sie sind für mich alle Erendira. Das ist mein Leitthema und mein künstlerischer Protest.
Im Zuge meiner Recherchen zum Stück »Erendira« habe ich in São Paulo mit einer Gruppe von Müttern gesprochen, deren Kinder geraubt wurden. Was bedeutet es für eine Mutter, wenn ihr Kind morgens zur Schule geht und zwei Häuserblocks weiter gekidnapped wird? Diese Treffen waren sehr emotional. Eine Mutter erzählte mir, dass sie sich nachts von ihrem Ehemann heimlich fortschleicht, um unter den Brücken nach ihrer Tochter zu suchen. Es gibt diese verschwundenen, unsichtbar gewordenen Körper in unserer Gesellschaft, aber wir sprechen nicht darüber. In Argentinien gibt es in der Hauptstadt Buenos Aires die Bewegung der Mütter vom Plaza de Mayo. Bis heute gehen Mütter mit einem Foto ihrer geraubten Kinder, von denen sie seit Jahrzehnten keine Nachricht haben, auf den Platz. Man nennt sie heute auch las abuelas – die Großmütter.
In Márquez Geschichte wird das Mädchen Erendira von ihrer eigenen Großmutter verkauft. Die Geschichte ist voller Gewalt, Blut, Tränen, Schönheit und Poesie – all das existiert in unserer Gesellschaft. Das schriftstellerische Talent von Márquez besteht darin, die oftmals brutale Realität in Poesie zu transformieren. Gleichzeitig steckt hinter dem Magischen Realismus – oder auch dem verlorenen Paradies von Brasilien oder Amazonien – eine sehr harte Realität. Das Stück »Erendira« handelt auch vom Kampf ums Ûberleben und davon, zu sagen: »Ich habe ein Recht auf mein Leben und das Recht, dieses zu gestalten!« Viele Menschen haben dazu überhaupt keine Möglichkeit. Aber was bedeutet Demokratie, wenn wir kein Recht auf Leben haben?

Sie inszenieren Erendira mit dreißig jungen TänzerInnen und einer Schauspielerin. Warum haben Sie die Rolle der Großmutter mit einer Schauspielerin besetzt?

Das ist meine erste Zusammenarbeit mit der Schauspielerin Cleide Eunice Queiroz. Wir hatten in Brasilien natürlich schon gemeinsame Probenzeit für »Erendira«. In Wien werde ich dann im Rahmen der Ausbildung Biblioteca do Corpo zuerst zwei Wochen die TänzerInnen körperlich vorbereiten. Einen Monat vor der Premiere werden wir hier bei ImPulsTanz dann alle zusammen in Wien arbeiten.
Innerhalb des Stücks interpretiert die Figur der Großmutter, gespielt von Cleide Eunice Queiroz, Textfragmente aus dem Originaltext von Gabriel García Márquez. Sie arbeitet natürlich auch mit ihrem Körper, aber die Sprache, ihre Stimme sind ausschlaggebend. Mit ihren siebzig Jahren repräsentiert Cleide Eunice Queiroz die Großmutter, die weiblichen Tänzerinnen spielen alle Erendira und die Tänzer sind die geheimen Liebhaber von Erendira. Sie versuchen, diese zu retten, aber die Liebhaber scheitern.

Welche Bilder schweben Ihnen für die Inszenierung der dreißig TänzerInnen vor?

Das Hauptelement des Bühnenbildes ist ein Gerüst, das die Welt als ganzes darstellt. Es bezieht sich aber auch auf brasilianische Favelas. Dort leben Erendira und ihr Großmutter in der Geschichte. Die Neue Welt befindet sich stets im Aufbau, gleichzeitig liegt sie aber schon in Ruinen, weil keine richtungsgebende Logik dahinter steckt. Das Bühnenbild soll improvisiert, irgendwie unlogisch und unordentlich wirken. Damit möchte ich auch den magischen Realismus und die Welt von Márquez symbolisieren. Südamerika ist eine »unlogische« Welt voller Geheimnisse – scheinbar ohne Hoffnung. Der demokratische Prozess scheint gescheitert. Das Gefälle zwischen arm und reich und das Erbe der Militärdiktatur sind ein Desaster.

Sie kommen gerade vom Max-Reinhard-Seminar der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien, wo sie seit 2013 als Gastprofessor unterrichten. Was ist Ihr Interesse mit SchauspielerInnen zu arbeiten und wie ist dabei Ihre Herangehensweise?

Ich habe als Tänzer selbst meist mit Theaterregisseuren zusammengearbeitet, George Tabori im Burgtheater, Claus Peymann in Berlin oder Yoshi Oida, selbst Schauspieler und Assistent von Peter Brooks‘ Compagnie in Paris, und habe daher ein großes Interesse am sogenannten physischen Theater. Noch vor dem Fall der Berliner Mauer begegnete ich Heiner Müller, Johann Kresnik und Gottfried Helnwein in Ost-Berlin und hatte das Glück mit ihnen im Rahmen von »Projekt Antonin Artaud – Fremd im eigenen Körper« zusammenzuarbeiten. Heiner Müller sagte, es sei unmöglich, den richtigen Ausdruck für jeden Text zu finden. In »Fremd im eigenen Körper« legt er nahe, dass man zuerst diesen Fremden und dieses nicht zu beschreibende Gefühl in sich entdecken muss, um Kunst zu machen.
Ich habe auch mit der Performancekünstlerin Marina Abramovic zusammen gearbeitet, deren Thema der Körper, genauer Körper und Raum sind. All diese Erfahrungen nutze ich für meine Arbeit mit angehenden SchauspielerInnen und versuche ihnen Vertrauen in die eigene physische Präsenz zu vermitteln. Ich erkläre ihnen nicht, wie oder wie viel sie sich bewegen sollen, das würde ich eher bei TänzerInnen machen. Der Fokus liegt auf den Gesten, dem Blick und dem Moment.
Maria Callas, eine Meisterin der Präsenz, beschrieb, dass man noch vor dem ersten Ton der Arie den eigenen Körper hören und dieses Gefühl dann mit der Musik auf der Bühne transportieren müsse. In einer Aufnahme mit dem Royal Philharmonic Orchester steht Callas während dem Prolog nur mit dem Rücken zum Publikum. Sie dreht sich langsam um und noch bevor sie zu singen anfängt, spürt man: das ist »Tosca«! Genau diese Kapazität, etwas durch den Körper alleine zu transportieren, bewundere ich.

Welches Rüstzeug braucht ein zeitgenössischer Tänzer?

Bei den SchauspielerInnen ist das Vertrauen zum eigenen Körper grundlegend. In der schauspielerischen Arbeit gilt es, mit dem Text den körperlichen Moment zu finden. Für das gegenwärtige Theater mit Regisseuren wie Oscar Meyer oder Martin Kušej genügen Text und Sprache alleine nicht mehr. Es braucht starke körperliche Präsenz.
Bei TänzerInnen gilt es, sehr arbeitsintensiv und mit einer ganz spezifischen Intelligenz diverse Körpertechniken zu entwickeln. In der Arbeit zu »Erendira« habe ich  für die Biblioteca do Corpo eine Kombination aus verschiedenen Technikklassen zusammengestellt, um meinen TänzerInnen eine intensive physikalische Erfahrung zu vermitteln. Da experimentiere ich mit dem Vokabular von Anne Teresa De Keersmaekers »ROSAS«, William Forsythes »ImprovisationTechnologies« und dem Repertoire von Wim Vandekeybus. Diese dreißig TänzerInnen müssen auch gemeinsam diskutieren und ich leite sie an, über die Gesellschaft zu reflektieren. Sie müssen sich fragen, warum sie tanzen und auf der Bühne stehen.
»Es ist nicht wichtig, wie ich mich bewege, aber was diese Bewegung bedeutet«, das stammt von Pina Bausch. Bekannt von ihr ist auch dieser Satz: »Tanzt, tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren!« Das beschreibt sehr gut, wie wichtig Weiterentwicklung für eine Tänzerin, einen Tänzer ist. Ûber das Körperliche zu sprechen ist komplex. Wir müssen uns bewegen und immer weiter bewegen und neue Felder eröffnen. William Forsythe, eine weiteres Genie der Tanzwelt, sagte einmal: »Der Körper hat den gleichen Stellenwert wie ein Orchester.« Eine Tänzerin, ein Tänzer spielt jedes Instrument mit seinem eigenen Körper. Zu meinen TänzerInnen sage ich immer, sie sollen wie ein symphonisches Orchester spielen!

Wie arbeiten Sie mit den Stipendiaten bei Biblioteca do Corpo, die »Erendira« interpretieren werden?

Biblioteca do Corpo bedeutet übersetzt soviel wie Körperbibliothek und das beschreibt es sehr gut. Zu den jungen TeilnehmerInnen sage ich, unsere Gesellschaft und jedeR einzelne von uns ist wie ein Buch. Wir sind Teil einer menschlichen Enzyklopädie. Als KünstlerIn öffnen wir unser Buch, werden lesbar für andere und tauschen Informationen mit dem Publikum aus. Darin, den anderen kennen zu lernen und in Folge zu respektieren, liegt die große Hoffnung. Das bedeutet für mich Zukunft. Jede Tänzerin, jeder Tänzer muss eine eigene Meinung und Haltung entwickeln.

Die Künstlerin, der Künstler als ein offenes Buch. Was hat es mit der Zerbrechlichkeit einer KünstlerInnenpersönlichkeit auf sich?

Künstler sind sehr offen und zerbrechlich, wenn sie diese Ehrlichkeit in ihrem Körper, ihrer Seele und ihren Gedanken haben. Aber wir haben leider keine Antworten. Wir funktionieren wie ein Spiegel und präsentieren einen Moment für eine kollektive Reflexion. Das ist auch ein Grund, warum es Theater gibt. Theater ist eine lebende Kunst, die Erfahrung von etwas Lebendigem, einer Person in unmittelbarer Nähe. Auch das Publikum ist kein passives Element. Der Begriff Zuschauer ist eigentlich falsch. Die Sitzposition, die Atmung, eine langsame Handbewegung, die kleinen, minimalen Positionswechsel der Körper des Publikums sind der Anfang einer körperlichen Reise. Da findet ein unglaublicher Moment von Metamorphose und Transformation statt.

KünstlerInnen sind also nicht dafür verantwortlich, der Gesellschaft Antworten zu liefern, sondern vor allem, ihr die richtigen Fragen zu stellen?

Du musst Verantwortung für deine Aussagen tragen, wenn du an eine Öffentlichkeit herantrittst. Mit meinen Schauspielern am Max-Reinhardt-Seminar spreche ich über physikalische Präsenz, physikalisches Theater. Charisma können wir nicht beim Billa kaufen: »Ein Kilo Charisma, bitte!« Nein, das geht nicht! Das muss sich am Leben, durch Gedanken, Intelligenz und Neugier entwickeln. Man muss auch wissen, wie man mit Inspiration umgeht und wie man etwas umsetzt. Für einen Künstler ist Neugier ein Muss! Und die Hoffnung, etwas zu werden.

Wir haben keine Antworten. Wir müssen Fragen, Probleme präsentieren. Aber auch Schönheit, denn sie kann eine Waffe sein, die dich berührt. Das ist die Welt der Kunst. Ich kann mir ein Bild von Monet ansehen und kann davon so berührt sein, dass es mich dazu inspiriert, tanzen zu gehen. TänzerInnen müssen auch raus aus ihrem Studio gehen und sich umsehen, das Leben und die Leute beobachten. Und das dann in Kunst transferieren. KünstlerInnen müssen das Leben filtern.

Ich bereite auch gerade ein Projekt vor, das sich mit dem Thema Angst auseinandersetzt. Heutzutage gibt es Kinder, die schon mit fünf Jahren zur Therapie gehen. Weltweit gibt es Kinder mit Angst, Panikattacken, Depressionen. Warum trifft das schon Kinder? Das ist doch unglaublich, was wir mit unserem Leben, mit unserer Welt als Menschen machen. Mit der Angst steht auch die Figur des Helden in Verbindung. In Brasilien sagt man, dass derjenige der große Held wurde, der von allen die meiste Angst hatte. Deshalb musste er etwas tun, das ihn dann zum Helden machte.

Sie haben bereits als Kind diverse Rituale in Brasilien miterlebt. Was können Sie uns darüber erzählen? Inwiefern beeinflusst das Ihre Arbeiten?

Was sind Erinnerungen? Erinnerungen sind nicht konkret. Die Art, wie ich Erinnerungen rekonstruiere, das hat mit Wirklichkeit nichts zu tun. Was ist Magie? Alles Neue, Fantastische, das uns aus dem Gleichgewicht bringt. Was ist ein Ritual? Ein Ritual ist ein Treffen in dem Sinnlichkeit und Empfindungen eine Rolle spielen. Menschen gehen zum Beispiel ins Theater – an einen Ort, um körperlich zu kommunizieren. Wir brauchen Hoffnungen und Visionen, um im Leben weiterzukommen. In jedem von uns steckt das Gefühl, etwas Neues entdecken zu können. Und das Theater oder auch Religionen bringen diese Hoffnung zu den Menschen.

In Ritualen in der brasilianischen Kultur sind Elemente der uns umgebenden Natur – wie das Wasser, ein Stein, ein Baum, das Feuer, die Erde, der Himmel – Gottheiten, mit denen man in Verbindung treten kann. Man konstruiert und zelebriert diese Momente der Verbindung mit Natur. Das ist die fantastische Welt des Rituals. Du öffnest dich einer anderen Realität.

Beziehen Sie Ihre Inspirationen auch von alltäglichen Begebenheiten?

Ich bin der Meinung, dass TänzerInnen nicht zu KünstlerInnen gemacht werden können. Es braucht diese Kapazität, das Leben selbst zu sehen, um sich darauf beziehen zu können. Johann Kresnik wurde einmal von einem Journalisten gefragt, warum er so brutales Theater mache. Kresnik antwortete: »Jeden Tag wache ich auf und das Leben ist schön. Ich trinke eine Tasse Capuccino, gehe auf die Strasse, ich bleibe beim Kiosk stehen und kaufe mir eine Zeitung. Ich öfffne die Zeitung und ich werde wirklich sehr, sehr wütend auf die Welt! Das ist der Grund, warum ich diese Form von Theater mache.«

Von Georg Tabori und Berholt Brecht habe ich gehört, wie sie Kunst machen: »Du musst scheitern, wieder scheitern, besser scheitern.« Ohne Scheitern gibt es also keine Kunst. Es gibt kein Ideal, du musst etwas konstruieren, entwickeln und transformieren. Wir als menschliche Individuen sind unvollendete Projekte. Wir verbessern uns glücklicherweise ständig durch unsere eigenen Fehler. Das ist zumindest meine Hoffnung.

Welche Rolle spielt Musik im Stück »Erendira«?

Ich möchte sie nicht zu deskriptiv und illustrativ machen. Es gab diese peruanische Sängerin Yma Sumac (1922-2008). Sie hatte diesen unglaublichen Stimmumfang. Diese Yma Sumac war so etwas wie eine InKa-Priesterin, die diese verlorene Welt gesanglich wiederbelebt hat. Ich habe mich nun dazu entschlossen, ihre Originalstimme für zwei oder drei Momente zu verwenden. Als Kontrapunkt, um Spannung zu erzeugen verwende ich Metallica-Interpretationen von Apocalytica. Ich finde auch Interviews sehr angenehm, während ich in dieser Arbeitsphase bin. Es hilft mir, Prozesse zu reflektieren. Du musst deine Ideen in Worte fassen und artikulieren. Ich mag diese Momente.

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