Als Tugend gilt, insbesondere im pathologisch harmoniesüchtigen Austria, von der Wiege bis zur Bahre den Mund zu halten. So säuselt man leise dem Kasmader Toni (Name von der Redaktion erfunden) ins offene Grab hinterher: »Nie a beses Wort hot er gesogt und olles stumm ertrogen.« Auch wir gratulieren an dieser Stelle allen zwickoascherten Lebensläufen und wünschen auch weiterhin geruhsame Ruhe. Allerdings wären zwei Dinge zu unterscheiden. Erstens, es gibt eine Form des selbstsüchtigen und selbstverliebten Mäkelns, die tatsächlich höchst überflüssig ist, aber ebenso gilt, zweitens, sich nicht zu beschweren, ist zuweilen unsolidarisch, denn was man selbst gerade noch stumm wegzustecken vermag, bürgt man anderen mit auf. Das ist Mist und deswegen sind wir dem Wiener Beschwerdechor zu tiefem Dank verpflichtet.
Mit Kazoo und Quasi
Der Chor erklimmt zwei Nächte vor Weihnachten die Bühne des Wiener Rabenhofs und bläst sich selbst den Tusch auf Kazoos mit »Also sprach Zarathustra« des dümmlichen Opportunisten Richard Strauss. Wir kennen die Nummer hinlänglich dank Stanley Kubrick und dem späten Elvis und müssen sagen, sie wird wirklich herrlich runtergeputzt, weil die kleinen Butterbrotpapiere, die in den Blasröhrchen stecken, einen ganz inadäquaten Sound produzieren, der jedes Mal überrascht, wenn der richtige Ton getroffen wird. Dies ist nur eine von zahlreichen guten aktionistischen Ideen des Chors, der einen wirklich fantasievollen Auftritt hinlegt.
Die Leitung hat den Klangkörper fest im Griff, dem es gelingt, pointiert mit dem mitgebrachten Bassisten und Stromgitarristen zu interagieren. Im Zentrum des Chores stehen ein paar Rampensäue sprungbereit, die sich an gegebener Stelle ihren Solopart gesichert haben, und obendrauf gibt es sogar noch eine singende Säge. Das typische Chorkonzertgefühl, dass die ganze Veranstaltung eher zum Genuss der MusikerInnen geeignet zu sein scheint als zu dem der ZuhörerInnen, stellt sich nicht ein, dafür ist die Sache viel zu kurzweilig. Auch die Auswahl der für Chor bearbeiteten Stücke ist gut, vom finnischen Tangotheoretiker M. A. Numminen bis hin zum Quasi, der natürlich nicht fehlen darf, hat er in Wien doch dem Fluchen als Hochkunstform den Weg geebnet. So genießend stolpern wir allmählich in eine Zwickmühle.
Widersprüchliche Widerspruchsklänge
Das Prinzip des Chorgesangs ist die Bereitstellung einer Harmonie, die durch den Einklang der Mannigfaltigkeit der Stimmen entsteht. Kein Zufall, dass diese Kunstform ihre Hochzeit hinter mittelalterlichen Klostermauern hatte, wo diese Art kosmischer Verbundenheit noch up to date war. Heute aber wirkt dies unglaubwürdig und bezeichnenderweise haftet Chören nicht zu Unrecht etwas Biederes und Muffiges an. Die MacherInnen des Wiener Beschwerdechors wissen das natürlich ganz genau und deswegen versuchen sie mit viel Ironie und Aktion gegenzusteuern. Nur das ästhetische Grundproblem bleibt schwer auflösbar, dass mit dem Raunzen ja gerade Dissonanzen erzeugt werden, die aufs individuelle Einzelne gehen, und diese Misstöne sollen nun gerade in die harmonische Gruppe eines Chores überführt werden. Schwierig.
Dem nicht genug, desavouiert sich die Beschwerde, die sich Beschwerde nennt, zugleich selbst. Gibt es nicht gerade eine Menge Gründe, sauer zu sein und sich zu beschweren, warum die Beschwerde überhaupt ironisch brechen? Ein Mitglied des Chores verliest, mittels klug ausgewählter Passagen, die Pläne des neuen Infrastrukturministers. Diese Vorschläge sind für sich bereits Realsatire, aber zugleich bittere Wirklichkeit in Ösiland two-thousand-and-seventeen. Der blaue Blödsinn wird, einmal umgesetzt, zahlreichen Menschen im Straßenverkehr und mittels Feinstaublungenkrankheiten das Leben kosten und irgendwie ist das meiste, das uns die neue Regierung per Gratisblättern mitzuteilen hat, schon längst nicht mehr lustig. Um aber nicht schon an dieser Stelle in ästhetisch-moralischen Widersprüchen zu versinken, warten wir einfach ab, was als nächstes passiert.
Fuzzman hits the stage
Fuzzman und seine Singin’ Rebels, verstärkt durch Mike Dee Crackus, erklimmen die Bühne. Herwig Zamernik alias Fuzzman ist ein begnadeter Performer. Seit Beginn der 1990er schrubbt er den lässig kurz über dem Knie hängenden Bass bei Naked Lunch und er weiß, wie er ein ihm wohlgesonnenes Publikum um den Finger wickelt. Auch seine Laune ist dürftig – wie sollte es auch anders sein, bei dieser politischen Großwetterlage – aber dies fügt sich gut in den Stil der Band. Die besteht aus einem Trupp feiner Musiker die mit Bass, Orgel, Drums und Percussion ein solides musikalisches Sicherheitsnetz ausbreiten, damit Fuzzman sich zu seinem Trapezakt quer durch den Zuschauerraum aufschwingen kann.
Der Gruppe macht es sichtlich Freude, zu musizieren, und sie versuchen dabei nicht ganz so bedingungslos abgeklärt zu wirken wie Sven Regener, auch wenn sie wohl seine musikalische Grundkonzeption und Haltung teilen, die seit Jahrzehnten bereits WG-Küchen zum Schwelgen bringt. Hierbei werden Anflüge von Schlagerschmacht eingestreut, aber zugleich wird allen Beteiligten versichert, dass man das eh blöd findet, nur eben auch lustig. Weil Publikationen wie skug ähnlich funktionieren und gerne Themen bearbeiten, die sich genüsslich schimpfend würdigen lassen, legen wir sogleich den Stein im Glashaus vorsichtig zurück zwischen die hübschen Geranien. Dennoch, verzwickt nochmal, erlauben wir uns anzumerken, kaum ist Fuzzman auf der Bühne, scheinen plötzlich die Ecken und Kanten weitgehend abgeschliffen. Er merkt es ja selbst und versucht das Publikum noch zu provozieren, durch etwas, das er selbst sehr richtig den »gespielten Fehler« nennt. Also Verunsichern, indem man kurz so tut als ob – und dann ist gleich alles wieder in Ordnung. »War nur Spaß.«
»Die zerfleischen sich selbst« – vielleicht
Was mit dem Beschwerdechor solo noch als ironisch gebrochener Protestakt durchging, driftet zunehmend ins Vereinbarungstheater ab. Das meiste Kabarett funktioniert so, die BesucherInnen erwarten sich die möglichst lustige Bestätigung der eigenen Meinung. Für Publikumsbeschimpfung bleibt wenig Raum. Zugleich wird aber die Situation vor den Türen des Theaters immer beschissener. Wir können ja gerne – so kurz vor Weihnachten – uns und unsere Ûberzeugungen feiern, nur es darf nicht einmal mehr als sicher gelten, ob die im Wiener Gemeindebau des Rabenhofs noch eine Mehrheit fänden. Hoffen wir das Beste. Fuzzman greift sicherlich zu kurz, wenn er meint »Diese Regierung wird sich selbst zerfleischen. Ist immer so, die Rechten machen alles kaputt und wir müssen’s wieder aufbauen. Ihr werdet sehen, die werden sich selbst in die Luft sprengen.« Nein, werden sie nicht. Leider. Anzunehmen, die aktuelle Bundesregierung sei lediglich eine neuerliche rechte Episode innerhalb einer kerngesunden österreichischen Demokratie, ist zwar ein tröstlicher Gedanke, aber vermutlich ein falscher. Seit den 1980er-Jahren gibt es eine ziemlich konsistente Entwicklung in Österreich, bei der sich eine Normalisierung rechtsradikaler Weltanschauung mit neoliberaler Staatsauflösung paart. Der Zuckerguss der Erweiterung von BürgerInnenrechten und schöne Erfolge der Liberalisierung, was Frauen- oder Homosexuellenemanzipation betrifft, dürfen hierüber nicht hinwegtäuschen. Letzteres dient als Chimäre einer angeblich immer linkeren Republik. Aber »die Wahrheit ist schäbig und schlicht«: Seit dem Jahr 2000 regiert die FPÖ in Österreich ununterbrochen mit, sei es als Koalitionspartner, sei es als Drohung der ÖVP, die selbst wiederum immer vorbehaltloser die Agenden der Blauen übernommen und damit den antifaschistischen Grundkonsens aufgekündigt hat.
Heute sind, was Flüchtlinge, Migration und österreichische Gruppenidentität betrifft, Vorstellungen Mainstream, die vor zehn Jahren noch als bräunlich gegolten hätten. Dagegen hilft Anfeiern nur bedingt. Was vielen Spitzen dieser Republik zugerufen werden müsste, ist: Wir erleben ein moralisches Totalversagen des Bürgertums, das der Verelendung weiter Teile dieser Gesellschaft tatenlos zuschaut und hofft, bei der erbarmungslosen Unterordnung unter wirtschaftliche Zielsetzungen (vom »Enkel-fit-machen« über die »Rückkehr an die Weltspitze« bis hin zur »Leistungsträgergerechtigkeit«) mitschneiden zu dürfen. Werden sie aber nicht, sie werden mittels Fremd- und Selbstausbeutung das Leben aller Menschen in Österreich immer mehr vermiesen und sollte es zum großen Crash kommen, steht ein zunehmend militarisierter staatlicher Ûberwachungsapparat in den Startlöchern. Es bleibt somit ein frohes neues Jahr zu wünschen, dir, lieber Fuzzman, euch, liebe Singin’ Rebels mit eurem Pfleger Crackus und der ganze lieben Truppe des Wiener Beschwerdechors, und wir sehen uns dann halt am 13. Jänner bei der großen Demo in Wien. Weil jetzt müssen wir zusammenhalten.
Ach ja, die vorgestellte EP ist schön. Es geht um Harmonie (siehe oben), Halleluja und das Bedürfnis, alles niederzubrennen. In der Nummer »I Tua Wohl« der Kärntnerin Ottilie von Herbert hat die Platte ihren poetischen Höhepunkt.