lapsus
Pepe Gavilondo

»Lapsus«

Self Release

Ein Klavier ist ein überaus vielfältiges Instrument. Jene Töne, die durch das Anschlagen von Tasten erzeugt werden, repräsentieren nur einen kleinen Teil des enormen Klang- und Geräuschespektrums. Saiten können auch gezupft und mit allerlei Gegenständen angeschlagen werden, nicht nur durch den jeweiligen mit Filz bespannten Hammerkopf; die tieferen, mit Kupferdraht umsponnenen Saiten geben auch interessante Töne von sich, fährt etwa ein Fingernagel, ein Plektrum o. ä. an ihnen entlang. Interessantes Potenzial für Klänge vieler Art, zum Beispiel perkussive, bieten auch die Holzteile. Sie können mit Fingern oder Handflächen gespielt werden wie Congas oder, will man dem Piano keine Narben beifügen, mit Timpani Sticks, Filzkopfklöppeln, die wiederum auch wunderbar für das Anschlagen der Saiten eingesetzt werden können. Hinzu kommen die Möglichkeiten, die Saiten zu präparieren – etwa mit Papier – und so zum Scheppern und Schnarren zu bringen, egal ob sie nun ganz »klassisch« mit der Tastatur gespielt, gezupft oder mit Klöppeln geschlagen werden. Pepe Gavilondo nutzt all diese Möglichkeiten auf seinem formidablen Soloalbum »Lapsus«. »Porto-danzón« beginnt reduziert, mit einzelnen gedämpften Tönen sowie Fahrten auf den Saiten, die an das Atemholen erinnern. Trotz der ungewöhnlichen Klangcharakteristik erkennen wir schon im ersten Stück die pianistischen Qualitäten des Kubaners. Das lebendige Stück lässt die Füße zucken – ideale Musik für Ausdruckstanz. Das Lied »La noche (tú y yo en Plaza Vieja)« kombiniert eine Fülle an unsere Ohren regnender, kurzer, hoher Töne mit der Schönheit der Timbres eines leicht verstimmten Klaviers. »Canción Rota« ist weder kaputt noch zerbrochen, wohl aber zerbrechlich wie die Liebe. Im Titelsong »Lapsus« bedient Gavilondo erstmals (später noch öfter) das Kollektivstereotyp, Kubaner*innen hätten den Rhythmus im Blut. »Changüizal« kommt zuerst daher wie ein Rudel räudiger Straßenkater, die sich bald am Spiel eines Perkussionisten erfreuen, sie beginnen zu seinen Schlägen zu tanzen. Auf »Carpintero jabao (o la filosofía del mañana)« entlockt Gavilondo dem Klavier zögerliche Töne, teils abgedämpft teils »normal« gespielt, sogar Flageolettklänge sind dabei. Das Stück endet nachdenklich (vorerst, scheinbar) im Ritardando und schließlich überraschend »klassisch« in einem kräftig angeschlagenen Dur-Akkord. Tänzerisch, leichtfüßig das folgende »Lo jidrocarburo«; »Mar adentro (away from home)« voller Schwere und Melancholie, in dem die (mit Papier?) präparierten Saiten einen perkussiven Grund legen, über den eine getragene (Gedanken-)Melodie gespielt wird. Das kurze »1492« bildet den wieder rhythmisch-lebendigen Abschluss. Gavilondo ist Experte für klassische Musik an der FAC, der Fábrica de Arte Cubano, Kubas führendem Zentrum für zeitgenössische Kunst. Er leitet das Ensemble Interactivo de La Habana (EIH), ein Orchester für experimentelle Musik und Improvisation. Das Album wurde schon 2019 in Katalonien aufgenommen, später von Giraldo García in Havanna gemischt bzw. gemastered und im Herbst 2024 veröffentlicht. Es ist ein gut verstecktes, jedoch umso schöneres Juwel, das uns – nicht zuletzt – zu diesem Ausnahmekönner führt.

Home / Rezensionen

Text
Sepp Wejwar

Veröffentlichung
20.12.2024

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