skug Coverstar #90 (4–6/2012) Nicki Minaj feiert 12 Jahre später Österreich-Premiere beim Rolling Loud: Anlass für einen Rückblick aufs damalige Album »Pink Friday – Roman Reloaded«, rezensiert von skug-Autor Philipp L’Heritier. Darauf kulminiert alles: Persönlichkeitspolitik, Identitätskrisen, die Implosion moderner Popmusiken… ein Ausflug in die Musik- und Magazingeschichte als Aperitif für den Auftritt der Künstlerin am Freitag, dem 5. Juli 2015.
Ich habe Stimmen gehört
Im neuen Album von Nicki Minaj kulminiert so ziemlich alles: Persönlichkeitspolitik, Identitätskrisen, die Implosion moderner Popmusiken. »Pink Friday – Roman Reloaded« (Universal) ist vor allem eines: Vieles.
Eines der in den vergangenen drei, vier Monaten am häufigsten quer durch die Welt gereichten Buzzwords, wenn es um die Art geht, wie wir Musik, Videoclips, wohl insgesamt »Kultur« und Medien im weitesten Sinne, konsumieren, sogleich modifizieren, in neue Kanäle einspeisen bzw. schon beinahe im selben Augenblick auch selbst produzieren, war der verheißungsvoll glänzende, dabei seltsam undefinierte Begriff »Post-Internet«. Geprägt wurde er von der kanadischen Sängerin und Produzentin Claire Boucher, die aktuell mit dem dritten, so gut wie überall abgefeierten (Hype-Backlash inklusive) Album ihres Musikerinnen-Alter-Egos Grimes zeigt, wie auch heute noch die Collagierung verschiedenster Styles und Codes zu einem vieltönenden Kauderwelsch gelingen kann, dem noch dazu durchaus Sensationswert anhaftet. Auf ihrer Platte »Visions« verschneidet Frau Grimes esoterisches Stimmengewirr, HipHop-Beats, zuckrigen koreanischen Charts-Pop, die Finsternis von Ambient und Industrial und einhundert weitere ästhetische Signifier zu einem grellen Pulver, das bei bloßem Hinsehen schon zu explodieren droht. »Visions« knallt, nervt und vibriert, ist zuvorderst jedoch von einer merkwürdigen Balance zwischen Ruhelosigkeit, nervösem Zucken, wildem Herumprobieren einerseits und von einem hörbar konzentrierten Organisieren und Setzen des Klangmaterials andererseits geprägt.
Freilich, das Wort »Post-Internet« selbst hat Claire Boucher in einem einzigen Interview im Vorbeigehen fallengelassen, das Aufblasen zum Meme für Musik-Aficionados haben andere besorgt, die Idee und das Konzept dahinter sind deshalb nicht falsch, sondern bloß von der Realität und der Selbstverständlichkeit der Situation und ihren Praktiken überholt: Ende 2007 postulierte »Spex« am Beispiel der englischen Indie-Elektroniker Hot Chip noch eine »Band total neuen Typs«, nämlich eine, die aus den mehr oder weniger uneingeschränkt frei verfügbar gewordenen Archiven und Müllhalden der Musikgeschichte nicht bloß ein schlau querverweisendes Pastiche anzurichten wusste, sondern eben eine solche, der es gelingt, »den Weg vom Zitat zum Ich« zu finden. »Post-Internet«, das ist die Zeit, in der wir schon vergessen haben wollen, dass es irgendwann einmal wohl mühsam, vielleicht aber auch bis aufs Blut aufregend gewesen sein muss, neue, absonderliche Musiken zutage zu fördern, dass Grabenkämpfe zwischen unterschiedlichen Styles und »Genres« (klingt heute schon angestaubt) stattgefunden haben, dass es nicht immer schon so gewesen sein soll, dass das Wissen der Musikvergangenheit zur freien Disposition vor uns liegt.
Ich bin die Vielen
Nicki Minaj hat die Orientierungslosigkeit zu ihrem Stil-Prinzip erhoben: Das prominenteste der vielen, vielen Gimmicks der New Yorker Musiker mit Wurzeln in Trinidad ist das der multiplen Persönlichkeiten, im Falle von Minaj auch der mit Absicht herbeigeführten Persönlichkeitsstörung: Nun ist »Nicki Minaj« leicht cheeky an die »Ménage à trois« angelehnt – freilich schon eine künstliche Persönlichkeit dieser Frau, die im bürgerlichen Leben Onika Tanya Maraj heißt. Dem Gefäß »Nicki Minaj« jedoch entspringen noch etliche weitere, mitunter dem Anlass angepasste und vielleicht auch nur ein, zwei Mal auftauchende Figuren: eine etwas diffus lateinamerikanisch angehauchte junge Frau namens »Rrrrosa«, die an Mutter Teresa angelehnte »Nicki Teresa«; eine Art Wunderheilerin, oder ein Charakter namens »Martha Zolanski«; eine saucy-kecke Dame mit stark überspitzem britischen Fantasieakzent – längst auch schon eine Trademark von Minaj. Nicht zuletzt ist der gut geschmierte Übergang zwischen den Stimmungen und Stimmlagen, den Gesangsmodi, zwischen den unterschiedlichen Identitäten innerhalb einer Person eine von Nicki Minajs größten Stärken. Am eindrucksvollsten dokumentiert in jenem show-stealing moment, der die Sängerin und Rapperin endgültig zum Star gemacht hat: Auf Kanye Wests Stück »Monster«, von dessen in jeder Hinsicht an allen Ecken und Enden überquellendem Album »My Beautiful Dark Twisted Fantasy«, in dem Minaj vom süßlichem Singsang zu atemlosem, aggressivem Freak-Rap switcht, mit einer Leichtigkeit und Eleganz, geradeso, als hätte sie sich eben eine Feder vom seidenen Bettbezug gefächert.
»Everybody knows my favorite alter ego is Roman«, hat Nicki Minaj im Gespräch mit MTV News einmal gesagt und damit Roman Zolanski, den Sohn von Martha, gemeint; die Figur, der nun ihr zweites Album »Pink Friday – Roman Reloaded« zu weiten Teilen gewidmet ist: »He’s bad. That’s why I like Roman. People are expecting him to do some real craziness on the next album.« Roman Zolanski ist der »böse« Zwillingsbruder, das Ventil, die Ausrede für aufgestaute dunkle Energien. »Pink Friday – Roman Reloaded« ist nun aber alles andere als eine finstere Platte geworden. Deutlich aggressiver und sexuell expliziter als »Pink Friday« (Teil eins), ihr Debütalbum, das ist sie, nachdem sich Minaj für dafür nach im Vorfeld hochgekochten Erwartungen bezüglich derber Pikanterie, für ihre Verhältnisse immerhin, einen kleinen Maulkorb angelegt hatte. Hier und heute ginge es, so kann man Minaj in Interviews selbst sagen hören, um das ungefilterte Ausleben von Gefühlen. Spaßhaben, auch mit den finsteren Zeiten. So durchspielt sie auf ihrem neuen Album manischer denn je die Perspektiven. Diva, Domina, Untergebene, Befehlsführerin: Hier ist eine extrem starke Künstlerinnen-Persönlichkeit, die scheinbar kein Problem damit hat, sich, ja, in den Dienst des Ruhms zu stellen, wie – viel diskutiert – beispielsweise kürzlich im Madonna-Stück »Give Me All Your Luvin’«, in dem sich Minaj und M.I.A. in zwanzigsekündigen Guests-Spots als artig dressierte One-Trick-Ponys vorführen ließen.
Jenseits des Melting Pots
Wer wissen will, was das ist: Popmusik in den frühen 2010er-Jahren – hier ist es, das definitive Dokument. Auf »Pink Friday – Roman Reloaded« werden keine neuen Versuchsanordnungen ausprobiert oder irgendetwas in irgendwelche Richtungen weitergedacht, ein solcher unbedingter Wille zum klanglichen Maximalismus des Now wie hier war selten irgendwo zu vernehmen. Mit vier Handvoll Produzenten, Songwritern und Gästen hat Minaj ein Album aufgenommen, das aus allen Nähten platzt: Drake, Lil Wayne, Nas, Chris Brown oder Rick Ross geben sich das Mikro in die Hand, an den Reglern sitzen beispielweise Hit-Boy, ein Mann mit Produktionen für Jay-Z, Kanye West, Eminem oder Mary J. Blige unterm Gürtel, oder Lady Gagas Hausproduzent RedOne. Wären von Dubstep am Rande Ahnung habender Bratz-»Elektro« der Schule Skrillex und Cool-Dad-Stadionrock, wie ihn beispielsweise die Foo Fighters Jahr um Jahr arbeitseifrig vorleben, noch dabei – man hätte so ziemlich alle Mainstreampop-Musiken der Gegenwart gehört.
Das Album ist grob in zwei Hälften geteilt, Teil eins bleibt im weitesten Sinne HipHop und R’n’B verpflichtet, ab Stück Nummer zehn, der Single »Starships«, wird die ganz große Wundertüte »Pop« aufgemacht – inklusive Konfettikanone und einer gigantischen Lichtorgel, die Blitze in allen Farben auf den Floor schickt. »Pop«, das bedeutet nun einmal aktuell tendenziell »europäisch« konnotierte Dance-Music als Folie zu verwenden. Die käsigsten Synthesizer werden aufgefahren, der Hampelmann-Pop des Duos LMFAO scheint sich in vielen Stücken abzuzeichnen, es erklingen die höchsten Fanfaren – die Beats hat man vermutlich beim letzten Kirmes-Besuch aufgezeichnet. Alle Stücke sind hier auf den endgültigen Hook hingeschrieben – und produziert. Um die Kategorien »gut« und »schlecht« kann es dabei nicht mehr gehen, alles hier ist, wenn auch mitunter »billig«, also schlicht auf Speichelreize abzielend gestaltetes, exquisites Gelee, supergrün und hyperorange, das sich vor allem durch seine perfektionierte Produktförmigkeit auszeichnet.
So ragen innerhalb dieses ganzen wunderbaren Cheapo-Disco-Charme, des von der Titanic abgehörten Sehnsuchtstands, der Stimmverfremdungselegien und des Bollerwagengeruckels dann aber doch tatsächlich große Momente aus dem Wunderland hervor: Einige der Produktionen, vor allem im HipHop-Teil der Platte, knochig und trocken schnalzen sie und erinnern an frühe Arbeiten der Neptunes und aktuellen Trap-Rap. Verbeugungen vor dem humorigen Minimalismus des Duos JJ Fad. Oder, wenn Nicki Minaj wie im Stück »Come On A Cone« die Haltungen absurd verschränkt und zotenhaften Texte wie »Dick In Your Face / Put My Dick In Your Face« a capella im höchsten Mariah-Carey-Leidenschafts-Timbre vorträgt. Außerdem wären da noch ein Dub-infizierter Sunshine-Reggae mit Beenie Man und »Stupid Hoe«, das allerletzte Stück des Albums, das mit Sirenen, Handclaps, hochgepitchten Quietschsounds und Chants als eine Art Cartoon-Version eines M.I.A./Diplo-Songs daherkommt.
»Pink Friday – Roman Reloaded« ist ein einzig durch die Stimme von Minaj lose zusammengehaltenes Sammelsurium, ein Angebot an vermutlich am liebsten alle. In siebzig Minuten Spieldauer wird beinahe alles angefasst und jongliert. Freilich liegt diese Platte auch in einer Deluxe/Bonus-Variante vor – da sind dann zu allem Prunk Zusammenarbeiten mit David Guetta oder Benny Blanco, der schon für Britney Spears, Justin Bieber und Katy Perry Nummern geschmiedet hat, zu hören. Die Idee eines sinnvoll entschlackten Albums im Albumsinne von Zusammenhang, Dramaturgie und Reduktion auf das Gute ist im Umfeld von aktuelleren HipHop- und R’n’B-Produktionen mit all ihren Materialschlachten und ihrem bombastisch ausgestellten Zierrat ohnehin eine selten verfolgte, hier jedoch scheint sie sich gänzlich aufgelöst zu haben. »Pink Friday – Roman Reloaded« ist ein Buffet, das nicht enden will. Exotisch duftende Früchte türmen sich hier neben Zuckerstangen und vom Wetter schon gegerbter Zuckerwatte, edelste Liköre werden gereicht, um die mit fernen Gewürzen einbalsamierten schweren Fleischwürste zu begleiten. Hier wird kein Statement abgegeben, hier werden Optionen vorgelegt – und nicht die schlechtesten. Das ist nicht Post-Internet. Das ist Internet.