Abenteuerliche Musik verspricht das Line-up des neu gegründeten Festivals Desertshore, benannt nach einem von John Cale produzierten 1970er-Album der ehemaligen Velvet-Underground-Chanteuse Nico. Es hat zeitlose Qualität und für diese bürgen auch die Auftritte von Artists, denen Schwermut-Sounds in farbenprächtigen Schattierungen zu attestieren ist. Die Konzerte und Multimedia-Performances locken am zweiten Adventwochenende in verschiedenste Räumlichkeiten des Volkstheaters. Festivalkurator Christian Morin stärkt im E-Mail-Interview mit skug die Vorfreude darauf.
skug: Zunächst mal Gratulation zur Idee, ein Nico-Album als Ausgangspunkt und Namensgeber für ein Festival zu nehmen. »Desertshore« lässt im Subtitel wohl bewusst den dehnbaren Rahmen weit schweifen. Abenteuerliche Musik und Gedanken können vieles sein und sollen als Einladung gelten, sich herausfordernderen Sound hinzugeben?
Christian Morin: Ja, in jedem Fall. Es ging mir bei der Namensgebung gar nicht so sehr um Nico als Person, sondern um ein Phänomen. Wie kann es sein, dass ein künstlerisch so einflussreiches und großartiges Album bis heute nur Insider*innen bekannt ist? Solche unterbewerteten Meisterwerke, die aber sehr viele Künstler*innen prägen, gibt es ja zuhauf in allen Genres der Kunst. Es gibt auf diese Frage sicher nicht nur eine Antwort, aber es spielen auf jeden Fall viele strukturelle Fragen eine Rolle. Wie funktionieren Marktmechanismen? Wie werden in einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit Innovation, Veränderung und Experiment bewertet. Was haben Faktoren, wie Ort, Geschlecht oder Zugehörigkeit zu einer sozialen oder kulturellen Gruppe für einen Einfluss?
Für mich persönlich ist Anika jene, die mit ihrer unterkühlten Stimme und ihrem neuerdings doch auch glamourösen Sound am ehesten an Nico heranreicht. Anika setzt auf »Changes« Maßstäbe und sie ins Line-up zu geben ist wohl von Anfang an festgestanden?
Ja, Anika ist eine tolle Künstlerin. Mich hat auch ihr Projekt Exploding View extrem begeistert, in dem sie mit mexikanischen Musikern kollaborierte. Ich weiß gar nicht mehr, in welcher Reihenfolge ich das Line-up zusammengebaut habe, wenn ich ehrlich bin. Im Moment hat Anika eine großartige Bandbesetzung. Das Konzert im Rahmen von Desertshore ist das letzte mit diesem Line-up. Das sollte man auf keinen Fall verpassen.
Großartig auch, dass am ersten Festivaltag Frauen den Ton angeben. Und Cold- bzw. Synthwave in Form der belarussischen Band Dlina Volny auch ein passendes Klanguniversum abbilden. Überhaupt scheint poppige Düsternis ein durchgängiges Momentum zu sein. Gilt das neben Zola Jesus auch für die isländische Künstlerin Unnur Andrea Einarsdottir alias Apex Anima, die gar mit einer Pole-Tänzerin auftreten wird?
Ja, sehr viele spannende Projekte sind weiblich. Das war schon immer so, allerdings hat sich hier glücklicherweise die öffentliche Wahrnehmung weiterentwickelt. Apex Anima kommt eigentlich aus der bildenden Kunst. Das durchzieht sowohl ihre Musik als auch die Live-Performance mit der Pole-Tänzerin Frznte. Das ist sehr konzeptionell gedacht, aber auch humorvoll. Musikalisch könnte sie am ehesten auf einem Label wie Hyperdub zu finden sein, obwohl sie noch gar keine Platte veröffentlicht hat. Ich empfehle, sich das Video zu ihrem Song »I want to lick the eyeballs of free market capitalism« anzuschauen. Dlina Volny habe ich Ende 2018 bei einem Aufenthalt in Minsk kennengelernt. Sie leben inzwischen im Exil. Die gesamte Szene in Belarus ist nach der Niederschlagung der Proteste gegen die gefälschte Wahl außer Landes gegangen. In Minsk herrscht jetzt eine bleierne Stille. Zola Jesus ist die einzige Künstlerin aus dem Line-up, die ich vorher nicht persönlich kannte. Mit ihr haben wir uns dann etwas sehr Großartiges ausgedacht. Sie wird ihre neuen Songs nur mit Stimme und Flügel interpretieren. Paul Wallfisch, der musikalische Leiter des Volkstheaters, hat ein Streichquartett für sie zusammengestellt, welches sie dann begleitet. Zola Jesus hat dafür gerade die Noten geschrieben und uns zugeschickt.
In welchem Bereich wird Discovery Zone presents »Cybernetica« stattfinden? Und was ist die Essenz dieser Multimedia-Aufführung der New Yorker Künstlerin JJ Weihl? Muss der Konnex zum Album »Desertshore« in diesem Fall weit hergeholt werden?
Dies ist ein besonderes Projekt, welches man sich unbedingt anschauen sollte. Es findet am ersten Abend von Desertshore zweimal in der Dunkelkammer statt. Das ist ein Raum ganz oben im Theater mit sehr begrenzten Kapazitäten, man sollt also rechtzeitig da sein. Es ist einerseits ein Konzert, aber auch gleichzeitig eine Erzählung über Big Data, mit Hilfe von holografischen Projektionen und sprechenden Avataren. Ich möchte aber nicht zu viel verraten. Ich hatte einmal die Ehre, mit Laurie Anderson arbeiten zu dürfen, und ich kann ohne Übertreibung sagen, JJ Weihl ist in diesem Bereich die nächste Generation. In ein paar Jahren wird sie weltbekannt sein.
Paul Poet war viele Jahre skug-Autor und ich freue mich ganz besonders, dass er als nunmehriger Regisseur am Talk über den Impulsgeber »Desertshore« teilnehmen wird. Wie seid ihr aufeinander aufmerksam geworden?
Paul habe ich das erste Mal Mitte der Neunziger-Jahre getroffen. Ich war zu dieser Zeit Teil eines Veranstaltungskollektivs. Wir betrieben ein High-Tech-Squad namens Eimer mit zwei Bühnen, einem Minikino, einem Tonstudio, Proberäumen und einer Gästewohnung. Dort gastierte Paul mit der Linzer Band Pest, für die er Visuals machte. Dann habe ich ihn 25 Jahre aus den Augen verloren. In diesem Jahr habe ich ihn dann zu einer öffentlichen Diskussion bei »Pop-Kultur« eingeladen, einem Berliner Festival, für das ich auch programmiere. Er dreht gerade einen Film über den Ost-Berliner Punk Underground der Achtziger-Jahre. Es geht um eine Geschichte, in der einige Freunde von mir eine zentrale Rolle spielen. Das war der Ausgangspunkt des Talks. Darüber sind wir wieder zusammengekommen.
»The Underrated Hall of Fame: Failing Better« wird am Samstag, dem 3. Dezember von 19:00 bis 19:40 Uhr thematisiert. Nicos LP »Desertshore« symbolisiert ein Phänomen, das naheliegenderweise für Velvet Underground ebenso zutrifft: Magerer Verkauf, aber künstlerisch überaus reichhaltig. Musikjournalist*innen und Musiker*innen allerdings wurden von sogenannten Milestone-Alben in hohem Maße beeinflusst. Immerhin sorgt der Nachruhm für eine ewige Nachhaltigkeit. Welche Mechanismen und Strukturen, die dazu führen, werden unter ihrer Moderation in der Diskussion mit Anika, Paul Poet und Paul Wallfisch erörtert werden?
Es gibt sogar ein Remake von »Desertshore«, welches noch weniger Menschen kennen als das Original. Eingespielt wurde es von TG-X, das sind Chris Carter und Cosey Fanny Tutti von Throbbing Gristle. Jeder Song wird von anderen Sänger*innen interpretiert. Tatsächlich gibt dort eine Version des Nico Songs »Mütterlein«, gesungen von Blixa Bargeld. Mit Cosey Fanny Tutti habe ich auch lange gesprochen. Ich habe versucht, sie für eine Lesung bei »Desertshore« zu gewinnen. Leider lässt ihr Gesundheitszustand im Moment Reisen nicht zu. Sie kämpft mit Long-Covid-Symptomen. Das betrifft mehr Künstler*innen als man gemeinhin glaubt.
Sicherlich werden im Anschluss daran Teho Teardo & Blixa Bargeld sowie Michael Gira und Kristof Hahn (beide von den Swans) für spannende Gigs sorgen. Überhaupt scheint ein musikalischer Grundzug im Festival eine gewisse Brise Melancholie zu sein. Joanna Gemma Auguri dürfte eine Meisterin darin sein und ist in Österreich noch eine unbekannte Größe. Was ist von ihrem Gastspiel – mit der Cellistin Isabelle Klemt – zu erwarten?
Ja das stimmt. Das Programm ist tatsächlich sehr melancholisch geworden. Vielleicht reflektiert das eine gewisse Grundstimmung der Zeit. Wobei ich persönlich Melancholie nicht als etwas Negatives betrachte. Vielmehr als eine wichtige Strategie der Verarbeitung. Joanna ist eine wirklich tolle Songwriterin. Durch die Instrumente, die sie benutzt, klingen ihre Songs aber sehr eigen. Sie spielt hauptsächlich Akkordeon und Hackbrett und setzt diese sehr volkstümlichen Instrumente in einen komplett anderen Kontext.
Final gesagt sähe ich persönlich Potenzial für eine Fortsetzung. Wird es auch 2023 ein Desertshore Festival geben?
Das freut mich sehr zu hören. Ich könnte mir durchaus noch einige Ausgaben von Desertshore vorstellen. Im Fußball würde man jetzt sagen: »Das entscheidet der Trainer, ob ich noch einmal aufgestellt werde.« In diesem Fall der Intendant des Volkstheaters Kay Voges und sein Musikdirektor Paul Wallfisch. Schauen wir mal. Jetzt versuchen wir erstmal diese Ausgabe so gut wie möglich über die Bühne zu bringen.
Und zum Schluss noch einige Fragen, damit die skug-Leserschaft mehr über Ihre Eigenschaften als Kurator erfahren kann. Was waren die Highlights während Ihrer Verantwortung fürs Musikprogramm der Volksbühne Berlin? Welche Veranstaltungen zogen Sie davor durch und welche Vorhaben stehen in den nächsten Jahren an?
Ui, das ist jetzt noch einmal eine umfangreiche Frage am Schluss. Ich habe immerhin zwölf Jahre an der Volksbühne gearbeitet. Es dürften so etwa 350 Abende gewesen sein, die ich dort gestaltet habe. Darunter waren auch musikalische Lesungen. Filmvertonungen, ein Musical und alle möglichen Formate. Gerade muss ich an den 80. Geburtstag von Yoko Ono denken, den sie mit einem Konzert bei uns gefeiert hat. Yoko hat auch eine extreme Geschichte der Unterbewertung. Bevor sie John Lennon kennenlernte, war sie bereits eine bedeutende Künstlerin, die sich als einzige Frau in der beginnenden Fluxus-Bewegung behaupten konnte. Durch die Ehe mit dem Popstar wurde sie von niemandem mehr ernst genommen und hat erst in den letzten Jahren die Anerkennung bekommen, die ihr gebührt. Sehr gut war es auch immer, jungen Künstler*innen die Möglichkeiten dieser legendären Theaterbühne zur Verfügung zu stellen. Jetzt muss ich erst einmal wieder an er nächsten Ausgabe von Pop-Kultur arbeiten. Außerdem habe ich eine Konzertreihe namens Sonic Morgue in Berlin begonnen, im Silent Green, einem alten Krematorium, in dem sich auch mein Büro befindet. Aber es gibt noch mehr zu tun. Ich habe begonnen, ein kleines Management aufzubauen, um Künstler*innen zu beraten und helfen. Zu guter Letzt habe ich noch ein musikalisches Theaterstück geschrieben, welches eine Tour de Force durch Krieg und Vertreibung der letzten hundert Jahre ist, ausgehend von einem historischen Ort in der Nähe von Berlin. Da ich in dem Bereich ein Frischling bin, wurden leider alle Anträge zur Finanzierung abgelehnt, die ich gestellt habe. Falls Sie also jemand kennen, der viel Geld in irrsinnige Kunstprojekte stecken möchte, melden Sie sich einfach …
Link: https://www.volkstheater.at/desertshore-festival-line-up/