2020 war ein Jahr, in dem man durch die eigene Überpräsenz zuhause nicht nur sich selbst, sondern auch der Musik auf die Nerven ging. Im Folgenden also kein Jahresrückblick, aber der Versuch einer thematisch zeitlosen Corona-Album-Hitparade!
Kim Gordon: »No Home Record«
Das letztjährige, im Titel an Chantal Akermans letzten Film »No Home Movie« angelehnte, exquisite Solodebüt der Sonic-Youth-Ikone, dessen Produzenten Justin Raisen sie in einem Airbnb kennengelernt hat. In einem Airbnb!!!
Steve Piccolo: »Domestic Exile«
Dieses Jahr neu aufgelegtes Debütalbum des Lounge-Lizards-Mitbegründers und -Bassisten, voller Idiosynkrasien und Neurosen, dessen Charme sich wohl auch aus der Gegensätzlichkeit der Gegenpole Wallstreet (Arbeitsplatz) und Downtown (Lebenselixier) New Yorks zu Beginn der 1980er ergibt.
Jean-Michel Jarre: »Oxygene – Live in Your Living Room«
Bevorzugterweise als limitierte CD-Edition und DVD in stereoskopischer 3D-High-Definition, dafür reicht dann aber auch ein Paar 3D-Brillen für das eigene Wohnzimmer als wohlig warmen Synthie-Kokon.
Moor Mother: »Analog Fluids of Sonic Black Holes«
Schwerer und wirklichkeitsnaher Sci-Fi-Punk-Hop im Zeichen des Afro-Pessimismus in tiefer Oszillation zwischen radikaler Hoffnung und dystopischer Poesie.
Dorninger: »Too Much Home«
Selbst-isolierende Shutdown-Träume basierend auf sphärischen Bässen und Beats, die das Tragen von sowohl Maske als auch Kopfhörer selbst im Schlaf nahelegen.
Shugo Tokumaru: »Exit«
Lieblich verspielte Aufregung und viel 60ies-Pop-Feel einer Schlafzimmer-Produktion des Jahres 2008!
Sun Ra: »Space Is the Place«
Dass es sich dabei um eine Studio- und keine Weltraumaufnahme handelt, ist nur einer von vielen kosmischen Zufällen um das Album. Uncut Version hier.
Soap&Skin: »Lovetune for Vacuum«
Eine physikalisch zweifelhafte, aber nachhaltige These: Steigender Druck in Selbstisolation erzeugt Platz für inneren Schmerz.
https://www.youtube.com/watch?v=qJxTAIOQvC8
Serafina Steer: »The Moths Are Real«
Beim Blick in die Küche die Erkenntnis des Albumtitels! Und wie sie flattern, diese kleinen Lockdown-Buddies!
Masayuki Takayanagi: »Lonely Woman«
Unverhoffte Medizin für Covid-Begleitsymptome wie Einsamkeit, vereitelt aber auch eigene abgefeimte Kühlschrank-Überfall-Pläne: Gitarren-Improvisation!
Suicide: »A Way of Life«
Im Schatten ihrer ersten beiden Albumgroßtaten, aber nichtsdestoweniger voller schneidender Großstadtechos.
Napalm Death: »Fear Emptiness Despair«
Manche der Homeoffice-Überstunden ließen sich in Diskografie-Analyse anlegen. Und siehe da, die mitunter als experimentell geltenden vier Mitte/Spät-Neunziger-Werke der Briten konnten die durch Quarantäne brachliegenden Nerven besänftigen, nur Sänger Barney klingt darauf wie ein mahnender, Grölen gewordener Einwand gegen das selbst zubereitete Roggensauerteigbrot!
Ruth Anderson: »Here«
Spätes und tolles Debüt, dessen Veröffentlichung die Komponistin Ruth Anderson (1928–2019) aber nicht mehr erleben konnte. Proto-Plunderphonics treffen auf Poetry und Drone.
Le Volume Courbe: »I Wish Dee Dee Ramone Was Here With Me«
Auch als Wunsch die entschieden sicherere Bank als G.G. Allin, Joe Exotic oder …
Special Interest: »The Passion Of«
Schlaflos im Eigenheim und da aber diese frech wiederaufflammenden Erinnerungen an Streifzüge der Verschwendung an die Nacht und den Tanz.
Über den Autor
Christian Egger lebt als Künstler und Musiker in Wien. Von dem Mitherausgeber des Künstler*innenfanzines www.ztscrpt.net erschien soeben mit »Shows, Signals, Unvernehmen: Collected Re- & Interviews 2005–2020« eine Textsammlung bei Floating Opera Press, Berlin.