Paul Silberstein (Valentin Hagg) ist ein merkwürdiges Kind. Zumindest wird ihm das von jeder Seite zugeworfen. Sei es von seiner am verloschenen Glanz des Vaters (Karl Markovic) »leidenden« Mutter (Sabine Timoteo) oder von den Patres im katholischen Internat – beide machen ihm das Leben schwer. In jedem Fall sieht Paul die ambivalenten Figuren der Nachkriegszeit mit anderen Augen und verteidigt mit jeder seiner Handlungen das Credo, das den*die Zuschauer*in in seine fantastische Welt eintauchen lässt: »Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut«.
Nahe am Zeitgeist
Die gleichnamige Erzählung von André Heller aus dem Jahre 2008, an die sich der Film in großen Teilen anlehnt, hat im Zentrum die Familie Silberstein, die vor dem Krieg eine große, jüdische Zuckerbäckerdynastie stellte. Der Vater, Roman Silberstein, ein zum Katholizismus konvertierter und sehr eigentümlicher Ex-Süßwarenfabrikant, leidet an seiner verlustreichen Geschichte und den Schrecken des Krieges und kann seine einstige Macht nunmehr lediglich in einem eigentümlichen Patriarchat an seiner Familie auslassen. Die von Markovic sehr exzentrisch gespielte Rolle, genauso wie die Figur seiner nur mehr verdrossenen Frau Emma, verkörpern die seltsame und leicht weltfremde Position des jüdischen Bürgertums der Nachkriegszeit. Ebenso nahe am Zeitgeist erzählt der Film auch die perfide Rolle des Katholizismus der 1950er-Jahre, die Paul im Internat miterleben darf. Jeder, der nur ein bisschen Thomas Bernhard gelesen hat, hört seine höhnischen Worte im Hintergrund, während Paul, scheinbar ohne Grund, immer zum Zielobjekt bestimmter drastischer Erniedrigungspraxen der Patres wird.
Der Blick des Kindes
Trotz dieser bizarren Kulisse bleibt der Film aber dennoch auf seine Weise heiter und gelassen. Und das ist vor allem der Figur des unglaublich sympathischen und wortgewandten Pauls zu verdanken, aus dessen Perspektive alle Situationen des Filmes eine eigene Interpretation erhalten: Während scheinbar alle übrigen Charaktere in andere Welten zu flüchten versuchen, bleibt Pauls Welt, die hauptsächlich durch seine Fantasie belebt ist, trotzdem die dem*der Zuschauer*in verständlichste. Vor allem durch dieses Coming-of-age-Element des Filmes war es fast nicht möglich, ihn nicht in Zusammenhang mit dem 2018 erschienenen Film »Der Junge muss an die frische Luft« von Caroline Link zu bringen, der in ähnlicher Weise die Ambivalenz der Zeit durch die Perspektive des »naiven« Kindes aufzufangen versucht. Allerdings verbleibt »Der Junge muss an die frische Luft« mehr in dieser Leichtigkeit, während »Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein« bei dem*der Betrachter*in abseits des Humors einen tieferen Ernst evoziert.
Klassisch wienerisch
Das ist unter anderem auch der seltsamen Bildästhetik des Films geschuldet, die manchmal fast schon etwas von der Groteske Ulrich Seidls in sich trägt. Diese Ästhetik wird aber ebenso ungewöhnlich wie wunderbar konterkariert durch den hinreißenden Soundtrack, der ebenso österreichische Volkslieder wie bedeutende Stücke der Wiener Klassik beinhaltet. Außerdem bleibt dem*der Wiener*in im Übrigen noch das »Schmankerl«, dass die Drehorte vom geschulten Auge wiedererkannt werden können. So ist die Residenz der Silbersteins beispielsweise die Hermesvilla im Lainzer Tiergarten und die Spielwiesen Pauls sind die Grünflächen des Türkenschanzparks. In jedem Fall ist der Film gerade durch seine Ambivalenz so berührend wie unterhaltsam und resultiert sogar in einer Erweiterung des Vokabulars, sowie er längst vergessene Wiener Ausdrücke wieder an die Oberfläche bringt.
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