David Hollander © Vincent Dilio
David Hollander © Vincent Dilio

Musik für fremde Ohren

Während der 1970er Jahre wurden unzählige Alben produziert, die nur einem einzigen Ziel folgten: Stimmungen zu erzeugen. David Hollander hat die unkonventionelle Geschichte der Produktionsmusik in einem umfangreichen Bildband zusammengefasst.

Die Umstände machten es möglich. Mit einer zunehmenden Mediatisierung des Rundfunks und einer Kommerzialisierung der Filmproduktion in den späten 1960er-Jahren entwickelte sich ein Geschäftszweig, der darauf ausgerichtet war, Musik zur Nutzung in Film-, Fernseh-, und Radiosynchronisationen zu einem vergleichsweise günstigen Preis anbieten zu können. Das Konzept war so einfach wie revolutionär: Anstatt Musik wie zuvor ausschließlich für abgeschlossene Inhalte von Rundfunkanstalten und Produktionsfirmen zu produzieren, wurde sie ohne Skript ins Blaue hinein komponiert und aufgenommen. Stellt euch Liebe vor und Hass. Feindschaft und Freundlichkeit. Erlösung und Verdammnis. Situationen und Gefühle, die noch nicht stattgefunden haben, aber trotzdem existieren. Zumindest in den Köpfen jener Komponist*innen, Musiker*innen und Produzent*innen, die nicht gedrehte Szenen vertonen sollten. Damit war das Prinzip der Library Music geboren. Es handelt sich dabei um Stimmungsmusik, die in einem tayloristischen Verfahren komponiert, wie am Fließband produziert und schließlich von einigen Firmen wie KPM, Sonoton und Montparnasse 2000 lizenziert wurde.

Musik für Bilder, die es nicht gibt
Produktionsmusik gab es seit den Anfängen kommerzieller Medien bereits in den 1920er-Jahren und sie wird auch heute – wenn auch unter anderen Bedingungen und abseits experimentierfreudiger Produktionsfirmen – weiterhin hergestellt. Ihre wirkliche Blütephase erreichte sie aber erst in den späten 1960er- und 1970er-Jahren, dem goldenen Zeitalter des Fernsehens und Genrefilms, in dem die zunehmende Produktion von Bewegtbildern zu einer steigenden Nachfrage nach Soundtracks und Vertonungsmusik führte. Musik, die, in den richtigen Momenten angewandt, genauso wie herkömmliche Filmmusik funktioniert – mit dem alleinigen Unterschied, dass Library Music keine visuelle Vorlage, kein Bild zur Verfügung stand, nach dem sie hätte komponiert werden können. Komponist*innen hatten nichts außer ihrer eigenen Vorstellungskraft und den vagen Anweisungen der Produzenten. »Geheimnisvolle Klänge« hieß es dann in den Beschreibungen, »moderne Romantik« oder »treibende Rhythmen« ein andermal. Alan Hawkshaw war als Pianist für das britische Label KPM (Keith-Prowse-Maurice) an vielen Veröffentlichungen in den 1960er- und 1970er-Jahren beteiligt und erinnert sich: »There was at all a lot of good library music written and nobody really knew what we were writing it for. In fact, it’s harder to write library music than it is to write a commissioned score, because with a commissioned score you’ve got a picture to look at. With library music, you’ve only got a blank piece of paper.«

David Hollander: »Unusual Sounds: The Hidden History of Library Music« © Anthology Editions

Obwohl die Verwendung solcher Platten meist eine Maßnahme zur Senkung von Kosten für Produktionen war, die es sich nicht leisten konnten, ein ganzes Orchester inklusive Komponist*in zu engagieren, entwickelte die Industrie bald ein eigenes System im System. In den Hochzeiten der 1960er- und 1970er-Jahren wurden abertausende Stücke komponiert, von denen es manche zu berühmtem Einsatz in Film und Fernsehen brachten, während andere überhaupt keine Verwendung fanden und in den Archiven langsam in Vergessenheit gerieten, um Jahre später von findigen Produzent*innen ausgegraben und neu gesampelt zu werden. Viele dieser auf großen LP-Covers gedruckten Veröffentlichungen wurden dabei allein durch ihr Artwork zu ikonischen Bildnissen, drücken sie doch den experimentierfreudigen Zeitgeist damaliger Innovationsbestrebungen in sonderbarer Typografie und Darstellung aus. Auch aus diesem Grund sind heute manche dieser Platten nicht nur unter Sammler*innen gefragte Objekte und erreichen auf Discogs immer wieder Preise im hohen, dreistelligen Eurobereich.

Ein Lexikon für Produktionsmusik
Der US-amerikanische Künstler und Filmemacher David Hollander ist jemand, der von der Retromanie dieser Produktionsmusik angesteckt wurde. Seine Begeisterung hat er nun gebündelt und in einem umfangreichen Bildband zusammengestellt, der die historische Bedeutung und Geschichte von Library Music in neuem Licht präsentiert. »Unusual Sounds: The Hidden History of Library Music« ist ein akribisch recherchierter und gestalteter Bildband mit zahlreichen hochauflösenden Abbildungen prägender Plattencover von Veröffentlichungen, die bis in die Anfangstage der bekannt gewordenen Produktionsmusikfirmen wie KPM, Sonoton, CAM und Montparnasse 2000 zurückgehen. Hollander bereiste für seine Leidenschaft über Jahre hinweg die einstigen Produktionsstätten und führte zusätzlich Interviews mit wichtigen Vertreter*innen der Branche. Das Buch stellt eine Enzyklopädie jener Sparte der Musik dar, die für Bilder komponiert wurde, ohne sie jemals gesehen zu haben. Hollander porträtiert die großen Firmen der Vergangenheit, gibt ihnen und den ausführenden Protagonist*innen ein Gesicht und ermöglicht diesen unkonventionellen Geschichten einen übergreifenden Kontext.

David Hollander: »Unusual Sounds: The Hidden History of Library Music« © Anthology Editions

Tatsächlich sind viele der abgebildeten Kompositionen von manch großem musikalischen Kopf des späten 20. Jahrhunderts angefertigt worden – von erfahrenen Musiker*innen und innovativen Komponist*innen, die jene experimentelle und künstlerische Freiheit genossen, die paradoxerweise von einem augenscheinlich korporativ-kapitalistischen Produktionsgebiet angeboten wurde. Jean-Michel Jarre und Ennio Morricone sind dabei nur die bekanntesten Namen. Der 2017 verstorbene George A. Romero, der für sein Filmdebüt »Night of the Living Dead« 1967 wegen finanziellen Engpasses selbst Library Music verwendete, stellt sogar das Vorwort. Wenig Beachtung findet hingegen die Tatsache, dass der Bereich der Library Music eine (fast ausschließlich) von Männern dominierte Branche war. In einem Buch, das sich auf über 300 Seiten lang in Wort und Bild den Erzeugnissen dieser Produktionsmusik widmet, entfallen lediglich zwei (!) Einträge auf Frauen. Delia Derbyshire (die unter anderem für den Titelsong von »Doctor Who« verantwortlich zeichnet) und Daniela Casa waren selbst Pionierinnen, die in einem patriarchal dominierten System immer im Schatten ihrer männlichen Kollegen stehen sollten. »Unusual Sounds: The Hidden History of Library Music« ist nichtsdestotrotz eine großartige Bestandsaufnahme geworden. Entstanden ist ein Lexikon der Produktionsmusik, eine zeitliche Retrospektive, in der David Hollander mit viel Verve und Fachwissen einen Einblick in den musikalischen und ästhetischen Zeitgeist früher Produktionsmusik gibt.

David Hollander: »Unusual Sounds: The Hidden History of Library Music« © Anthology Editions

David Hollander: »Unusual Sounds: The Hidden History of Library Music«, Anthology Editions, 332 Seiten, 422 Bilder.

Link: http://anthology.net/book/david-hollander-unusual-sounds/

Various Artists: »Unusual Sounds: The Hidden History of Library Music« © Anthology Recordings/Al!ve

Various Artists: »Unusual Sounds: The Hidden History of Library Music«, (Anthology Recordings/Al!ve, 2 LP bzw. CD). Releasedatum 09.11.2018.

Link: https://shop.mexicansummer.com/product/unusual-sounds/

Home / Musik / Artikel

Text
Christoph Benkeser

Veröffentlichung
17.10.2018

Schlagwörter

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