Von Jahr zu Jahr wird es schwieriger, sich in der zeitgenössischen Moderne zu orientieren. Die Grenzen zwischen Improvisation und Komposition sind längst gefallen, entlang der Laptop- und Elektroakustikgrenzlinie fallen Horden nicht klassisch ausgebildeter Avantgardisten ins Land ein und nicht zuletzt vereitelt die multimediale Vielschichtigkeit jeden Kartographierungsversuch. Die 25. Auflage des renommierten Wiener Festivals für zeitgenössische Musik wagt hier einen Schritt vorwärts ins Getümmel. Sowohl zeitgenössischen Trends soll nachgespürt, als auch ein Blick zurück geworfen werden. Das Resultat sorgt für noch mehr Verwirrung einerseits, bietet dafür viele Anknüpfungspunkte andererseits – und ein reichhaltiges, ja, großartiges Programm.
Ein Schwerpunkt in Punkto Trends gilt der Komponistin Olga Neuwirth, selbst eifrige Grenzgängerin in Richtung Film(musik) und Live-Elektronik. Gleich mehrere Aufführungen sind der 1968 geborenen Üsterreicherin gewidmet, die der künstlerische Leiter von Wien Modern, Matthias Lošek, gar als bedeutendste Komponistin Üsterreichs rühmt. Der Eröffnungsabend am 22. 10. im Theater an der Wien, unter anderem mit einer »Hommage à Klaus Nomi«, verspricht jedenfalls einiges (unter anderem eine Schlacht zwischen Mensch und Maschine, ausgetragen am Piano), und ist darum der erste heiße Tipp des Festivals. Olga Neuwirth wird an insgesamt sechs Abenden zu hören sein.
Der Premierenspielort deutet bereits auf den Schwerpunkt »szenische Aufführung« hin, den Wien Modern in den nächsten Jahren noch intensivieren will. Zeitgenössische Musik zum »Erschauen« gibt es heuer mit der Uraufführung »grace note« am 31. 10. im Tanzquartier Wien (Halle G). Arturo Fuentes komponierte diese »Augenmusik« nach Texten von Italo Calvino. Das Bühnenbild besorgte Günter Brus, die Choreografie stammt von Chris Haring & Liquid Loft. Zwei weitere szenische Umsetzungen sind das paradiesische Kammerspiel »Edenarabeske« von Wolfgang Liebhart und die Tango Oper »Azrael« von Dirk D’Ase, beide am 12. 11. in Konservatorium Wien Privatuniversität. Beides Uraufführungen, ebenso »Das Kind der Seehundfrau«, die Jesse Broekman-Vertonung eines Stücks von Sophie Kassies durch den Dschungel Wien am 13. November (ebenda). Alle vier Stücke werden übrigens mehrmals gespielt, nichtsdestotrotz: Tipps No. 2-4.
Besonders spannend wird der 25. Oktober im Palais Kabelwerk unter dem Motto »Wie Wir Wollen – all night long«. Hier geht eine Kritik aus früheren Jahren an Wien Modern in Erfüllung, dass sich nämlich viel zu wenige Komponistinnen im Programm befänden. Was auch immer wieder mal stimmte. »Wie Wir Wollen« ist ein Konzertmarathon, bei dem insgesamt 15 Komponistinnen zu hören sein werden – und das in möglichst unkonventioneller Atmosphäre. »Das Publikum soll kommen und gehen, wie es gerade passt«, meint die Komponistin und Mitinitiatorin dieses Abends, Pia Palme. Ab Mitternacht kippt der Abend übrigens in Richtung Clubbing, unter anderem mit Electric Indigo oder Burkhardt Stangl. Tatsächlich, es wird bei Wien Modern auch »Beats« geben – und in diesem Fall sogar ein Frühstück für Musikfreunde mit Stehvermögen. Definitiver Tipp No. 5.
Tipp No. 6 gilt zwei großen Namen der heimischen Elektroszene, Patrick Pulsinger und Christian Fennesz, die sich am 26. Oktober im Wiener Konzerthaus das »String Quartett In Four Parts« von John Cage vornehmen. »Eine Aufgabe, die ich dankbar angenommen habe«, meint Pulsinger, der eine gute Woche vor der Uraufführung versicherte, »eh fast fertig zu sein«. Umso spannender an der Sache übrigens, dass es sich nicht um eine Improvisation über Cage handeln wird – und vielleicht eine der letzten Gelegenheiten, den heurigen 100. Geburtstag von Cage zu feiern.
Und wo bleibt das eingangs versprochene »Best of«? Das findet sich an vielen anderen Abenden und nicht zuletzt auch in den bewährten Händen von »Nicht-Kurator« Lothar Knessl. Knessl präsentiert an fünf Abenden Highlights zeitgenössischer Musik, zu denen unter anderem György Ligeti, Friedrich Cerha, Pierre Boulez, Edgar Varèse, Anton Webern, Luigi Nono, John Cage und viele mehr gehören. Natürlich würde Knessl niemals »Highlights« dazu sagen, aber die Güte und Repräsentativität dieser Abende steht außer Zweifel. So schnell wird man in den nächsten Monaten derart hochkarätige Zusammenstellungen nicht mehr zu hören bekommen. Für jeden dieser Abende gilt: Tipp No. 7
Ja, das sind verdammt viele Tipps. Und ja, es fehlen immer noch Namen und Konzerte, die mehr als hörenswert sind. Wer von all dem überfordert ist, besucht das begleitende mica-Symposium »zur Situation der Neuen Musik« (ab 23. 10.). Und wer wie üblich nur reinschnuppern will, dem sei versichert: Wien Modern #25 ist ein Reinschnupperfest.