Weston Olencki, ein amerikanischer Musiker, der zurzeit in Berlin lebt, bereiste den Süden der USA und brachte von dort Eindrücke und Aufnahmen mit, die er auf »Broadsides« verarbeitet. Mit dem Album liegt also eine weitere Forschungsarbeit zur Vergegenwärtigung amerikanischer Kulturgeschichte vor. Gleich im ersten Track rattert eine Eisenbahn durchs Klangbild, ein Geisterzug zurück in die Vergangenheit, nächster Halt: Birmingham, Alabama, Geburtsort von Sun Ra, an den der erste der vielsagenden Kommentare zu den einzelnen Kompositionen erinnert. Zur Rahmung des Albums ist die gesamte Rückseite der Plattenhülle ansprechend gestaltet. Die Bemerkungen zu den einzelnen Kompositionen sind zusätzlich um faksimilierte Kugelschreiberanmerkungen ergänzt. Diese Anmerkungen zweiter Ordnung erweitern das Verständnis von Olenckis Zugang zur musikalischen Geschichte, die ihm Material für seine Kompositionen liefert, sie betonen den nicht abgeschlossenen Charakter der Suche nach Spuren, die, in der Gegenwart präsent, die Vergangenheit in sich aufheben. Was war hier los, was hat dies mit mir zu tun und was fange ich damit an? Vermeintlich einfache Fragen, auf die Olencki sehr persönliche Antworten findet und in musikalische Formen gießt. Seine halbsynthetischen Klanggewebe fasst er als Fortsetzung der traditionellen Handarbeiten seiner Mutter auf, die Quilts nähte. Olencki hingegen verknüpft akustische Instrumente wie das Banjo mit elektronischen Elementen und Field-Recordings und im Ergebnis entsteht so eine atmosphärisch dichte Collage, die Geister der Vergangenheit mit Erscheinungen der Gegenwart zu verbinden sucht. Das Kunstwerk als soziale Plastik, könnte man sagen, als ästhetischer Ausdruck, Zusammenhänge herzustellen, nicht zuletzt, um sie, in veränderter Form aber nichtsdestotrotz, zu erhalten. Alben wie »Broadsides«, »The Wringing Cloth« von Old Saw oder auch Daniel Bachmans »Moving Through Light« erscheinen gewissermaßen als Maßnahmen zur Wundversorgung der verletzten Seele Amerikas. Historisch kommen diese Maßnahmen in den meisten Fällen zu spät, haben bestenfalls einen palliativen Charakter: Die Natur wurde bereits ausgebeutet und weitgehend zerstört, die regionalen Lebensweisen dem Fortschritt der Moderne untergeordnet, die indigene Bevölkerung, wo nicht ermordet, da marginalisiert, andere wurden im sogenannten Zivilisationsprozess verschleppt und versklavt und sehen sich bis in die Gegenwart hinein der Diskriminierung ausgesetzt – blutiger Ernst, unbarmherzige Realitäten. Welche gesellschaftliche Funktion kann Musik demgegenüber haben? Als reflexive, mithin sentimentale Bewältigungsform kann sie in der Thematisierung dessen, was war, zumindest die Erinnerung an die Opfer wachhalten und die nachgeborenen Generationen trösten. Der tränenverschleierte Blick darf allerdings nicht dazu führen, den aufmerksamen Blick auf die Gegenwart zu trüben. So aufgefasst, kann ästhetische Praxis ein Ausdruck der solidarischen Arbeit daran sein, dass sich die Zukunft vielleicht nicht nur als Katastrophe realisieren wird. Im Verhältnis zu den herrschenden Kräften und in gesellschaftlichen Debatten zu solchen Fragen nimmt sie nicht erst seit gestern eine eher randständige Position ein, aber das heißt ja nicht, dass ihre Bemühungen ungehört verhallen müssen. Alles schwierig und beizeiten schwer auszuhalten. Zur Erinnerung: Es gilt weiterhin, sich weder von der eigenen Ohnmacht noch der Macht der anderen dumm machen zu lassen.
Weston Olencki
»Broadsides«
Outside Time
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