Die Viennale fand in diesem Jahr vom 21. bis 31. Oktober zum 59. Mal statt – und auf kompakte elf Tage reduziert. Das Programm war dennoch umfangreich und wird zumindest teilweise in den kommenden Monaten auch regulär in den österreichischen Kinos aufschlagen, deshalb an dieser Stelle ein Nachbericht, der sich zugleich als Vorschau auf das kommende Kinojahr versteht. Film ab!
»L’événement«
Der diesjährige Eröffnungsfilm der Viennale, »L’événement« (FR, 2021) von Audrey Diwan, beruht auf dem gleichnamigen Roman von Annie Ernaux und auf den Geschichten vieler Frauen, nicht nur im Frankreich der 1960er-Jahre. Die junge Studentin Anne hat »die Krankheit, die Hausfrauen macht«. Sie ist schwanger. Ein »Ereignis«, das nicht nur ihren Ruf ruiniert, sondern sie auch zwingt, ihr Studium abzubrechen, und damit aus ihrer Sicht ihr Leben zerstört, weswegen sie alles daransetzt, die ungewollte Schwangerschaft abzubrechen. Doch mit Hilfe ist nicht zu rechnen, ihr Umfeld reagiert mit Angst, Abweisung, Verachtung und Niedertracht bis hin zur blanken Sabotage. Freunde werden zu Feinden, Vertrauenspersonen zu Verrätern und Unterstützung kommt letztlich von unerwarteter Seite. Ein Film wie ein Schlag in den Unterleib, aber wichtig, nicht zuletzt im Hinblick auf die internationale frauenpolitische Entwicklung.
»Stories from the Sea«
Die Dokumentation »Stories from the Sea« (AT, 2021) von Jola Wieczorek erzählt die Geschichten von Menschen, die eine besondere Verbindung zum Meer haben und die ihr Leben – oder den gegenwärtigen Teil davon – auf See, genauer gesagt auf Schiffen im Mittelmeer, verbringen. Da ist Jennifer, die ihre Ausbildung auf einem deutschen Containerschiff macht, als einzige Frau unter lauter Männern. Amparo, die nach dem Tod ihres Mannes allein die Reise auf einem spanischen Kreuzfahrtschiff antritt. Und die internationale Besatzung eines italienischen Segelschiffs, die auf dem gemeinsamen Törn ein Stück weit zu sich selbst findet. Wieczorek erzählt die Geschichten ihrer Protagonist*innen im Tempo des Wellengangs und in hypnotischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen und schafft berührende Porträts menschlicher Inseln, die das Meer verbindet.
»The Power of the Dog«
In »The Power of the Dog« (NZ/AU, 2021) von Jane Campion, spielt Benedict Cumberbatch den hartgesottenen Rancher Phil Burbank, der Mensch und Tier gleichermaßen tyrannisiert und jede kleine Schwäche erbarmungslos ausnutzt. Als sein Bruder George (Jesse Plemons) heiratet, sind dessen neue Frau Rose (Kirsten Dunst) und ihr Sohn Peter (Kodi Smit McPhee) erklärte Opfer seiner Übergriffigkeiten – bis Peter auf Phils wohlgehütetes Geheimnis stößt. In der Folge nimmt er den jungen Mann scheinbar unter seine Fittiche und entdeckt unvermutete Gemeinsamkeiten zwischen ihnen, vielleicht mehr, als er will … »The Power of the Dog«, die filmische Adaption des gleichnamigen Romans von Thomas Savage, ist die erste Regie-Arbeit Campions seit zwölf Jahren und das Western-Genre scheint wie für sie gemacht: Ihre verhärmten Figuren und ihre düsteren Geschichten spiegeln sich in der US-amerikanischen Prärie (von Otago) ebenso wider wie im neuseeländischen Dschungel und sind so hart und unnahbar, so tiefgründig und gefährlich wie die Landschaft, die sie umgibt.
»Memoria«
I’m a simple woman. I read »Tilda Swinton«, I get movie tickets. »Memoria« (TH/CO et al., 2021), unter der Regie von Apichatpong Weerasethakul mit der charismatischen Engländerin in der Hauptrolle, entpuppt sich allerdings als die Geduldprobe dieser Viennale: Botanikerin Jessica (Swinton) wacht nachts von einem lauten, undefinierbaren Geräusch auf, das sie in der Folge immer wieder aus dem Nichts überrascht, und macht sich auf die Suche nach dessen Ursache. Ist es nur ein Traum? Eine Halluzination? Oder wird sie langsam verrückt? 136 Minuten lang wandern wir mit der unzuverlässigen Erzählerin in mehr als nur getragenen Sequenzen durch den kolumbianischen Dschungel, verlieren uns in halt- und belanglosen Geschichten von Menschen und Steinen und brechen mit Raum und Zeit – bis hin zur »Auflösung« des »Plots«, die einem dermaßen mit dem Arsch ins Gesicht fährt, dass man jemandem den Gong überziehen möchte. Bei aller Liebe zu schönen Landschaftsbildern, entschleunigter Erzählweise und kafkaeskem Setting: Das ist den Zweieinviertel-Stunden-Tinnitus nicht wert.
»Les Olympiades«
Die Liebe ist ein seltsames Spiel. In »Les Olympiades« (FR, 2021), benannt nach dem Pariser Stadtteil und basierend auf den Graphic Novels von Adrian Tomine, platziert Regisseur Jacques Audiard seine Figuren auf dem Spielfeld und lässt sie gegeneinander antreten: Émilie, die mietfrei in der Wohnung ihrer Großmutter lebt und von ihrer Familie als egozentrisch und beziehungsunfähig abgestempelt wird. Camille, der sich bei ihr als Mitbewohner bewirbt und Sex als Outlet für seine berufliche Frustration nutzt. Amber Sweet, verkörpert von Savages-Sängerin Jehnny Beth, die als Camgirl ihren Lebensunterhalt verdient, und ihre unfreiwillige Doppelgängerin Nora, deren Selbstwertgefühl nach einer inzestuösen Beziehung und einer Cyber-Mobbing-Attacke auf dem Boden liegt. Audiard zieht die Linien zwischen diesen Figuren mit Charme und Leichtigkeit und geht dem Wesen zwischenmenschlicher Beziehungen in all ihren Spielarten in gewitzten Dialogen und lebensnahen Schwarz-Weiß-Bildern auf den Grund.