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»Volcanic Tongue - A Time​-​Travelling Evangelist​’​s Guide to Late 20th Century Underground Music«

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Zehn Jahre ist es her, dass der schottische Plattenladen und Mailorder Volcanic Tongue seine Pforten schloss. Zehn Jahre ist es auch her, dass die letzte Printausgabe des skug-Magazins erschien. An dieser Stelle ist es also Zeit für ein altväterliches: »Kinder, wie die Zeit vergeht!« (Dass früher alles besser war, muss an dieser Stelle nicht auch noch betont werden, ich setze es voraus.) Betrieben wurde Volcanic Tongue von der amerikanischen Musikerin Heather Leigh Murray und David Keenan, der damals als Musikjournalist sehr einflussreich wirkte und heute als Autor von Romanen und Novellen erfolgreich ist. Als Keenan das Schreiben über Musik an den Nagel hängte und in einem kurzen Essay dazu im britischen »WIRE«-Magazin den musikalischen Underground (für sich) für tot erklärte, nahm ich dies zum Anlass, Keenan zu antworten. Dieser Text erschien in der letzten Printausgabe des skug-Magazins, und ich führe diesen autobiografischen Zusammenhang hier ein, weil er rückblickend nicht nur eine Zäsur markiert, sondern weil ich mittlerweile die damals von mir kritisierte große Geste Keenans besser nachvollziehen kann: Irgendwann kann man an vermeintlich neuen, heißen Acts zunehmend weniger oder gar nichts mehr finden – oder nicht viel mehr daran wahrnehmen als ein schwaches musikalisches Echo von Bands und Musiker*innen, die einem selbst wichtiger und daher sowieso besser sind. 

Anlass zur erneuten Auseinandersetzung mit Keenan bietet die Veröffentlichung eines Kompendiums, das einschlägige musikjournalistische Texte Keenans versammelt, und flankierend dazu erscheint ein Compilation-Album, das zwanzig Musiker*innen und Bands beinhaltet, die bei Volcanic Tongue weiland als »Tip of the Tongue« hervorgehoben wurden. Diesen Titel zu erringen, bedeute, in den Aufmerksamkeitshorizont einer internationalen Gemeinde von Bescheidwisser*innen zu geraten, die allzeit bereit waren, obskure, vergessene oder randständige popkulturelle Phänomene zu entdecken und zum Betreiben ihrer – von außen kurios erscheinenden – Geheimwissenschaft ständig neue Forschungsobjekte begehrten. Volcanic Tongue war also viel mehr als ein Plattenladen und Mailorder, der Laden war gewissermaßen der Vatikan des experimentellen Undergrounds, dessen wöchentliches »Urbi et Orbi« szeneweit Gehör fand. Diese Zeiten sind vorbei, aber sie erstehen für die knapp 80 Minuten Spielzeit der Compilation wieder auf. Und in der quasi-religiösen Überhöhung, die ich hier in der Rezeption fortsetze und pflege, oute ich mich ebenfalls als Gläubiger. Den Einfluss, den Keenan als Musikjournalist auf mich hatte, kann ich nicht überbewerten. Das musikalische Universum, für das Volcanic Tongue (neben anderen) ein Portal bereitstellte, bereise ich mehr oder weniger immer noch. Die überwiegende Zahl der Musiker*innen auf »Volcanic Tongue – A Time-Travelling Evangelist’s Guide to Late 20th Century Underground Music« kenne ich und habe viele ihrer Veröffentlichungen zuhause in einer Plattensammlung stehen, deren Umfang seit Jahrzehnten zunimmt und meinen Nachgeborenen ein schweres Erbe hinterlassen wird. 

Will sagen, das hier zur Besprechung vorliegende Album weist eine stark identitätsstiftende Komponente auf. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie man die darauf versammelte Musik hört, ohne sentimental an Zeiten zu denken, in denen der Brexit und andere handelspolitische Scharmützel einem noch nicht die international vernetzte und transnational organisierte Jagd nach Tonträgern in allen denkbaren Formaten verhagelten, das skug-Magazin noch in Druck ging und Musik noch nicht digitaler »Müll« (Neidhart/Platzgumer) war. Aber, die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt, und somit verbinde ich mit dieser nostalgischen Rezension den Hinweis an eine jüngere Generation, sich mit »Volcanic Tongue – A Time-Travelling Evangelist’s Guide to Late 20th Century Underground Music« und David Keenans Buch dazu zu beschäftigen. Es gibt viel zu entdecken: »From outsider synth to psych-folk to damaged rock’n’roll, with tracks recorded between 1968 and 2013, a celebration of a vibrant and eclectic underground avant-garde.« Spirits rejoice!

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Text
Holger Adam

Veröffentlichung
16.04.2025

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