Venedig wird bald im Meer versinken und es wird schade um die Stadt sein. Alle wissen dies, aber es tut der Stimmung kaum einen Abbruch. Die Schönheiten der Lagunenstadt werden schließlich für alle Zeiten auf den Eiswaffelpackungen der Welt festgehalten sein. Venedig verkörpert dieses Wechselspiel zwischen der Erhabenheit eines vergehenden, großen Kunstwerkes und der Präsenz eines dämlichen Werbebildchens aufs Vorzüglichste. Zugleich ist der darin enthaltene allzu moderne Widerspruch im Kern genau das, was an der aktuellen Kunst so bedeutsam und zugleich unbefriedigend ist. Vieles, was auf und rund um die Riesenschau »Biennale di Venezia« zu sehen ist, scheint entweder Größe nur mehr im Gewand des Läppischen zu erlauben oder aber versucht, dem hundserbärmlichsten Schund noch Tiefe unterzujubeln.
Wer diese Entwicklung der Moderne nicht wahrhaben will, macht sich übrigens lächerlich. Erhabenheit als Erhabenheit begreiflich machen zu wollen oder zu versuchen, Schönheit als Schönheit herauszuputzen, führt zu vormodernen Ergebnissen und die MacherInnen wirken wie verrückte Käuze. Damien Hirst, dem Großmeister der Oligarchenkunst, kann so etwas nicht passieren. Er weiß, dass jedes aktuelle Werk einen widersprüchlichen Bruch beinhalten muss. Da Hirst nicht in der Lage ist, tatsächliche Widersprüche aufzudecken, muss er welche inszenieren. Er begibt sich also an jenen Ort, wo Venedig bald landen wird – den Grund des Meeres – und behauptet, er habe von dort jenen Plunder heraufgeholt, den er dem Publikum in lächerlich aufgeblasenen Dimensionen in seiner Schau »Treasures from the Wreck of the Unbelievable« zeigt.
Zu sehen gibt es, kaum erträglich, miese Skulpturen, die aussehen, als seien sie Dekorationen aus dem Shopping-Center »Excalibur City«. Wild wird aus Mythen, Religionen und Pop kombiniert und am Ende stehen das Haupt der Medusa, die Göttin Kali und Mickey Mouse nebeneinander, zusätzlich verziert durch Korallen- und Muschelwuchs (sie sollen ja schließlich so aussehen, als stammten sie aus dem Meer). Das in einer pseudo-archäologischen Ausstellung präsentierte Werk wirkt ziemlich belämmert, hat aber in seiner betont monumentalen Form auch etwas Furchterregendes. Hirst nutzt die heutigen Mittel der Technik und lässt sich fünf Meter hohe Steinskulpturen fräsen. Unverkennbar hat er damit ein wohl betuchtes, aber nicht ganz geschmacksicheres Publikum im Blick, dass sich eine von Schlangen umwundene, schwertschwingende, nackte Frau in den Garten zu stellen gedenkt und dabei nicht degoutant genannt werden darf, weil es ja ein »echter Hirst« ist. Außerdem wird das Zeug sogar im Wert steigen. So funktioniert Kunstmarkt eben und darin liegt ein Schrecken, der tiefer ins Gebein fahren kann als die von Hirst affektgeladen und völlig unreflektiert dargebotene Brutalität von Vergewaltigungsszenen und abgeschlagenen Köpfen.
Französischer Pavillon – Musizieren mit otium
Young British Artists
Damian Hirst war ausgestattet mit jener moralischen Flexibilität, derer es meist bedarf, um auf dem wildumkämpften Feld der Kunst Erfolge zu feiern. Als die schlauen Saatchi-Brüder, die mit Marketing reich geworden waren, Ende der 1980er-Jahre die Young British Artists als Anlageobjekt aus der Taufe hoben, entwarfen sie für die lose Künstlergruppe eine Markenstrategie, die mit dem Wort »Sensation« hinlänglich beschrieben ist. Die Konzeption der Sensation drückte gut zehn Jahre lang den Rest der Kunstwelt an die Wand und gab die Direktive vor: Kunst sollte in einem leicht verständlichen Sinn begrifflich sein. Hinter jedem Werk stand eine Pointe, die auf dessen Oberfläche schwimmen sollte. Dem Publikum wurden die Mühen der Interpretation erspart, da der Witz der Aussage immer gleich als erstes geliefert wurde. Tracey Emin stickte Namen an die Innenseite eines kleinen Campingzeltes und betitelte die Arbeit: »Everyone I have ever slept with 1963-95«. Okay, I get it, das ist frech. Damian Hirst, der gelehrigste Schüler, steckte einen verwesenden Kuhkopf gemeinsam mit Schmeißfliegen in einen Glaskasten, darüber hängte er einen jener elektrischen Insektenfänger, der die Tierchen mit leisem Zischen verbrennen lässt. Ûber »schonungslos dargestellte Vergänglichkeit« schrieb man sich die Finger wund. Letztlich war diese Pointenkunst nicht schwer zu begreifen und die Sachen wurden hip und teuer. Und das war schließlich ihr tieferer Sinn.
Jedes Kunstwerk wird irgendwann zur Ware, nur sollte es nicht bereits in diesem Geist produziert werden. Die erste Generation von Pop-Artisten wusste dies noch, prangerte die Verhältnisse noch zaghaft an, die sie dazu zwangen, alles dem Warenfetisch unterzuordnen. Die Young British Artists hatten für solche Anflüge von Zerknirschung nur mehr ein müdes Lächeln übrig. Sie waren in einer abgrundtief nihilistischen Szene aufgewachsen und hatten diese lieben gelernt. Damian Hirst nahm sich einen menschlichen Totenschädel, ließ ihn mit Diamanten bestücken und grinste über das dank Material und Markt augenblicklich superteure Kunstwerk. Er hielt sich den funkelnden Schädel neben den eigenen Schwellkopp und schaute frotzelnd. Diese Künstler!
Die Hirst-Schau »Treasures from the Wreck of the Unbelievable«, die noch bis Dezember in Venedig zu sehen sein wird, ist nicht Teil der Biennale. Sie fokussiert aber gut, was gerade dort geschieht. Wer zum Ausstellungsgelände der Giardini schlendert, kommt an obszön angeschwollenen Yachten vorbei. Schiffe, deren Heck in einer einzigen großen und raffiniert beleuchteten Showtreppe zu enden pflegt. Eines der Boote hatte als Gimmick inmitten der Heckstufen einen Whirlpool mit gläsernen Wänden. Er sah aus wie ein Haifischbecken, in dem sich die Oligarchen mit den SexarbeiterInnen tummeln konnten. Diese völlig überinszenierten Schiffsbühnen eines blödsinnig zur Schau getragenen Reichtums schienen jenen Geist zu atmen, den Hirst willfährig bedient. Auf einer dieser Protzyachten ließe sich sicherlich eines seiner marmornen Fantasiemonster festschrauben. Es würde gut passen.
Sankt Stefano
Etwas ist an den Objekten von Damian Hirst morphologisch auffällig: Sie weisen keinerlei Details auf. Dies muss der Produktionsweise geschuldet sein. Viele der Güsse stellt Hirst gleich dreimal auf, einmal mit den falschen Korallen beklebt, einmal in Weiß, einmal in Gold. Aus seiner Sicht nachvollziehbar, wenn erst einmal aufwendig die Matrize im Computer von den AssistentInnen entworfen worden war, warum das Trumm nicht dreimal ausdrucken und verkloppen? Die Produktionsschwemme führt zu seltsam gesichtslosen Objekten, die keine Feinheiten der Binnenstruktur mehr aufweisen. Dies zeigt sich insbesondere, wenn BetrachterInnen die Objekte im Original sehen. Die alte KunstbetrachterInnenweisheit, ein Werk erst verstehen und genießen zu können, wenn dieses im Original erlebt wird (abgesehen davon, dass dies natürlich nicht stimmt), hat sich in ihr Gegenteil gewandelt. Hirst-Werke sind viel besser auf den Reprofotos. Da Hirst sich nicht scheut, Fotografien seiner Statuen neben diese zu hängen, kann der Effekt unmittelbar in der Ausstellung überprüft werden. Je näher man den Dingern kommt, desto ärmer wirken sie.
Die Stadt Venedig hält wenige Zentimeter über der Wasseroberfläche unzählige alte Kunstwerke bereit, die ihren Reichtum im Detail verbergen. Ein gutes Beispiel bietet die Chiesa Santo Stefano, deren schiefes Campanile Neugierige, die auf dem Weg zur Kunstschau der Biennale sind, aus der Ferne heranlockt. Sie ist voll mit jenem prachtvollen Stilmix, den die Venezianer aus aller Welt zusammengestohlen haben. Der darin verborgene Synkretismus scheint zunächst jenem von Hirst ähnlich zu sein, nur, anders als in dessen herbeifabulierter alternate history, haben alle Objekte im Kirchenraum eine detailstarke Schwere, die von einer tatsächlich durchlittenen Geschichte herzurühren scheint. Wer die vollkommen verwaiste Kirche betritt, wird von einem freundlichen Verrückten an die Hand genommen. Er führt in sämtliche Ecken, murmelt unverständlich die Namen der dort liegenden Leichen und erklärt mit einer kurzen Scharade den Katholizismus: Zunächst wird der Zeigefinger nach unten auf die Grabplatte gerichtet, hängende Mundwinkel und Stoßseufzer zeugen von Bedauern, dann wird der Zeigefinger nach oben zum Himmel gereckt, ein idiotisch freudiger Blick und wohlwollendes Grunzen zeugen von vertrauensvollem Glauben an Erlösung. Sodann öffnet der liebenswerte Tropf, der sein kognitiv eingeschränktes Dasein in der gnädigen Obhut der heiligen Mutter Kirche fristen darf, das Kabinett von Santo Stefano. In einem Nebenraum hängen kinoleinwandgroße Ölschinken von Meistern wie Tintoretto. Wer bereit ist, 50 Cent in ein elektrisches Kästchen zu werfen, kann die Werke sogar bei Licht betrachten. Im Dunkel wirken sie allerdings besser.
Alle Bilder sind eher schlecht zu nennen. Konfuse und unausgegorene Nebenwerke – sie wären ja sonst auch längst aus der Kirche entfernt und in ein Museum überführt worden. Nur, sie sind voll jener Details, die bei Damien Hirst so seltsam fehlen. Auf einer der riesigen Leinwände hat sich ein Hündchen neben den Tisch des Letzten Abendmahls geschlichen. Es himmelt den Erlöser an. Oder interessiert es sich einfach für die Speisen auf dem Tisch, weil es Hunger hat? Ist das ein theologischer Scherz Tintorettos, oder hatte er einfach Lust auf die quälend leeren Stufen vor den Abendmahl-Gästen ein Hundi zu mahlen? Das Tier ist schlecht grundiert, die Stufen scheinen durch seine Rippen hindurch. Sollte es aus dem Bild entfernt werden? Das Tier hebt sich in seiner naturalistischen Erscheinung von den in viel zu steife Faltenwürfe gekleideten Jüngern ab, so als wäre es das einzige Lebewesen auf dem Bild. Und so weiter, und so weiter. Wer Bilder mag, kann in der Nebenhalle von Santo Stefano einsinken in obskure Welten, die im Laufe mehrerer Jahrhunderte erarbeitet wurden. Mal sind sie mit Kunst, Geschick und Geist erzeugt, mal das Produkt lustlosen Werkelns und tollpatschiger Zufälle. Aber in jedem Fall laden ihre Formen zum Imaginieren ein. Es scheint – und dies belegt Damien Hirst eindrucksvoll – als habe ein Zeitalter industriellen Produzierens auch in der Kunst den Bezug zu dieser detailreichen Wirklichkeit verloren und als gelte es, nur mehr schleißige, übergroße Gesten zu applizieren.
Japanischer Pavillon – Delikate Konstruktionen
Biennale di Venezia, die 57ste
Das stimmt natürlich nicht. Christine Macel, die Leiterin der aktuellen Biennale, weiß: Es gibt noch eine ganze Menge guter Kunst da draußen. Dumm nur, dass es ihr mit ihrer Ausstellung einfach nicht gelingen will, diese packend zu präsentieren. Sie müht sich redlich und entwickelt ein Konzept von Pavillons, die die unendlichen Weiten des Arsenale und des Hauptgebäudes auf dem Giardini sinnvoll einteilen sollen. Der Versuch scheitert auf merkwürdige Weise. Wer die letzte Biennale, kuratiert von dem Magier Okwui Enwezor, gesehen hat, der oder die bekam das Gefühl, die Hallen des Arsenale seien unendlich. Kaum ein Schritt ließ sich tun, ohne tief in den Bann der ausgestellten Werke gezogen zu werden. Enwezors Credo, die Ideen auszustellen und nicht die Waren, erzeugte eine solche Intensität, dass ein echter Rausch an Reflexionslust entstehen konnte. Jedes Steinchen schien es faustdick hinter den Ohren zu haben und der Ideenreichtum der Kunst wirkte unerschöpflich. Ein Schatz an Einsichten. Zwei Jahre später sind die Hallen schnell durchstromert. Macels Versuch, die Auswahl der Arbeiten zu strukturieren, geht vollkommen nach hinten los. Sie sortiert Werke und KünstlerInnen zu Grüppchen und banalisiert dadurch deren Ansätze. Alles, was auf der Schau in Nähe zueinander gerückt wurde, scheint inhaltlich oder morphologisch ähnlich und wirkt dadurch ein wenig platt. Das konnte sie unmöglich wollen. Allerdings ist ihr intellektueller Ansatz selbst auch seltsam oberflächlich.
Christine Macels blumiges Konzept mit dem Titel »Viva Arte Viva« will in neun Pavillons die großen Menschheitsfragen stellen. Die Pavillons (genaugenommen zeitgeistelnd-anbiedernd »Trans-Pavillons« genannt) tragen Ûberschriften wie »Pavillon der Künstler und Bücher«, »Pavillon der Freuden und Ängste«, »Pavillon der Erde«, »Pavillon der Farben, »Pavillon der Schamanen« oder »Pavillon der Zeit und Unendlichkeit«. Das klingt alles ein bisschen nach Michael Endes Reise nach Phantásien und wirkt in der Darbietung loser Assoziation esoterisch. Macel klingt wie eine Vortragende, die den Lexikonartikel jenes Begriffs vorliest, über den sie referiert. Das gelehrige Blabla schlägt den Bogen von interiority to infinity, möchte endlich den Neo-Humanismus heraufbeschwören und im Wortkarussell aktueller Themen erfahren wir, dass Spiritualität heute wichtiger ist, denn je. Sie reitet auf dem »otium«, der Muße, herum und das hat zumindest Franz West, der eine Arbeit gleichen Namens im Gepäck hat, zu einem kleinen Auftritt verholfen. Womit die österreichische Gegenwartskunst übrigens würdiger präsentiert wurde als durch jene Dame, die verbogene Neonröhren als »Lichtkunst« ausgibt und jenen Herrn, der Menschen auffordert, ihren Hintern ein Minütchen aus einem Loch im Wohnwagen zu strecken. Christine Macel selbst scheint aber keine rechte Muße gefunden zu haben, sondern präsentiert ein inhaltsleeres Konzept abstrakter Thesen. Deswegen wohl geriet ihre Ordnung so formal und äußerlich und schadete den teilweise sicherlich hochwertigen Werken mehr, als dass sie sie unterstützte.
Südkoreanischer Pavillon – Lehrreiches über fernöstliche Politik
Die Länderpavillons
Was bleibt, sind die »klassischen« Pavillons, also jene der Länder, und da waren diesmal einige sehr gute dabei. Es fällt schwer, seinen Frieden mit diesem ältesten Teil der Biennale zu machen, zumal in einer Zeit, in der der dümmliche Nationalismus wieder aus allen Fugen hervorkriecht. Die Ausstellungspavillons in den Giardini dokumentieren das tumbe Bedürfnis der Staaten, sich mit ihren angeblichen Eigenschaften zu präsentieren. Der deutsche Pavillon zwingt in seinem verblödeten Naziprotz alle zwei Jahre germanische KünstlerInnen dazu, diesen zu konterkarieren. Anne Imhof gelingt dies ganz gut, indem sie die falsche Wucht des Gebäudes betont (traditionell wird versucht, den Pavillon umzubauen oder gleich kaputt zu machen – siehe Hans Haacke). Sie lässt einen festen Zaun um das Gebäude errichten, in dem ein mächtiger Wachhund seine gefährlichen Kreise dreht. Das passt so gut, man könnte meinen, das sei immer so. Innen gibt es einen Glasboden, unter dem TänzerInnen herumkriechen. Sie sehen ein bisschen aus wie Autonome, zündeln auch mit Feuer und schreien rum. Das Ganze hat irgendwie mit »Faust« zu tun. Wenn dem so ist, dann sehen wir den Faust beim Masturbieren und wie er vom Gretchen in ein Wasserbecken hinabgezogen wird. Deutsche, theatralische Schockkunst mit feinen Anflügen der Poesie. Die Glasböden zeigen uns zumindest das viel zu zahlreiche, kunsttouristische Publikum in seiner aufdringlichen Schaulust. Das Wasser aus dem Becken, in dem es Gretchen und Faust machen, läuft an der Seite aus dem Gebäude und plätschert über den Kiesweg. Nebenan liegt der bis auf die Grundmauern dekonstruierte kanadische Pavillon und aus dem stobt eine riesige Wasserfontäne. Passt alles gut zusammen.
Der skug-Preis (die ganze Schau ist ja als Wettbewerb konzipiert) geht natürlich an den französischen Pavillon. Von außen ist eine große Sperrholzkonstruktion zu sehen, die sich angenehm hinter die protzigen Säulen des klassizistischen Tempelgebäudes einfügt. Kurz nach dem Betreten umfängt die BesucherInnen eine wohltuende Stille. Schwere Türen sind in die Holzwände eingelassen, ein bisschen Alice im Wunderland. Ein weicher Teppich dämpft jeden Schritt. Im Inneren keine gerade Wand. Zwischen den scheinbar wild angeordneten Holzdreiecken, die teilweise wie Stalaktiten von der Decke hängen und auf den eckigen Plattformen den gesamten Boden bedecken, sind überall Instrumente verteilt. Das ganze Ding, das Xavier Veilhan da bauen ließ, ist ein Tonstudio. Es gibt auch einen Aufnahmeraum hinter Glas. MusikerInnen durchwandern (tatsächlich mit otium) die Räume und beginnen da und dort zu spielen. Das Publikum kann zwischen den Klangzacken Platz nehmen. Die Gestaltung des Raumes war nur scheinbar optisch, sie hat einen tieferen, akustischen Sinn und tatsächlich, der Klang ist gut. Die teils elektronisch verstärkten, teils akustischen Instrumente kommen hervorragend zur Geltung. Es werden keine Kompositionen geboten, sondern es wird improvisiert. Eine Gunst für die ZuhörerInnen, sie dürfen den Musizierenden beim Ausprobieren der Instrumente zuhören, ihnen beim Denken und Empfinden mit völlig ungewissem Ausgang beiwohnen. Der Druck einer Bühne fehlt. Ein Musiker steht auf, geht hinter die Glaswand des Aufnahmeraums und isst eine Handvoll Trauben.
In Räumen wie diesen scheint das ganze Konzept plötzlich wieder aufzugehen. Aus unterschiedlichen Ländern kommen Leute, greifen sich ihren Raum und machen da halt was. Ein Schlendern durch die Giardini wirkt gerade dadurch bereichernd, dass der Masterplan notwendig fehlen muss. Es gibt die himmelschreiend bekloppten Pavillons (Russland), zumindest informative (Südkorea) oder dekorative (Japan) und eben die gelungenen. Wie sollte es auch anders sein? Ein weiterer Höhepunkt ist der schweizerische Pavillon. Eine sehr eindrucksvolle Videoprojektion erzählt das Leben von Flora Mayo nach, der Geliebten Alberto Giacomettis. Anhand von Interviews mit ihrem mittlerweile hochbetagten und in den USA lebenden Sohn wird ein typisches Frauenschicksal ihrer Zeit gezeigt. Mayo bricht aus der amerikanischen Enge und ihrer dortigen Zwangsverheiratung aus und geht nach Paris. Ihr erstes Kind nimmt man ihr ab und verbietet ihr den Kontakt mit ihm. Hoch talentiert studiert sie an der Seite von Giacometti Bildhauerei. Die beiden werden ein Liebespaar. Wirtschaftliche Not zwingt Mayo in die USA zurückzukehren. Sie vernichtet ihre künstlerischen Werke und arbeitet in einer Fabrik und als Putzfrau, um unter großen Widrigkeiten ihr zweites Kind durchbringen zu können, damit sie nicht auch von ihm getrennt wird. Dieses, es ist der Sohn, mit dem die Interviews geführt wurden, erfährt erst siebzig Jahre später vom unglücklichen Künstlerdasein der Mutter. Am Ende sehen wir ihn im Kunsthaus Zürich stehen, neben dem Porträt, das Giacometti von seiner Mutter gemacht hat und betrübt konstatiert er: »Ich war ihr Werk.« Im Bildhintergrund wirken die Sprüchlein, die das Kunsthaus Zürich an die Wand gepinselt hat, um das Werk von Giacometti zu loben, schwülstig und abgehoben.
Pavillon der Farben – Erwartbar farbig
Köstliche Konzeptlosigkeit
Seien es die Länderpavillons in den Giardini, sei es die Stadt Venedig selbst, den größten Reiz scheint letztlich immer (zumindest dem an der Moderne geprägten Auge) die planlose Fülle zu bieten. Es kommt zusammen, was aus Widrigkeiten, Zufällen oder nicht mehr rekonstruierbaren Ûberlegungen zusammengefunden hat. Und das ist besser als der umfassende Entwurf. Große Erzählungen, wie jene selbst zurechtgereimte von Damian Hirst, werden gerade in Venedig entlarvt. Es gilt, die Widersprüche aufzuzeigen und diese zu akzeptieren. Kein architektonisches Konzept hätte die Stadtanlage so reizvoll werden lassen können. Das Schöne an ihr ist, dass alles, was sich gerade noch über Wasser halten kann, appliziert und zusammengestückelt wirkt. Fenster, Türen und Balkone sind an den Häusern einfach dort, wo sie vor zwei Jahrhunderten einmal gebraucht wurden. Genauso kleben Kitsch und Kunst, wahre und falsche Gefühle direkt aneinander. Endlose Schlangen geistig verödeter Touristen stehen gelangweilt in den immer gleichen, vorgegeben Blickachsen, während wenige Schritte entfernt reizvolle Skulpturen und Ensembles unbeachtet vor sich hinrotten. Die Stadt hat gleich hinter der nächsten Ecke ihre dunkle Tiefe bewahrt und kann immer noch heiratswillige Liebespaare auf Gondeln verbergen – umweht von süßem Meeresduft mit einem leichten Hautgout von Urin.
Biennale Arte 2017, Venedig, 13.05. bis 26.11. 2017 www.labiennale.org