Irish Folk Music, gespielt zumeist unbegleitet auf der Fiddle. Elegische, melancholisch gestimmte Interpretationen von Traditionals und Eigenkompositionen. Hätte ich auch nur einen Schimmer von der Geschichte traditioneller irischer Musik und ihren regional unterschiedlichen Ausdrucksformen, dann könnte ich dazu vieles sagen, aber ich habe musikethnologisch betrachtet keinerlei Kenntnisse der Materie. Ich habe nur ein paar Ohren. Die hören eine spärliche Instrumentalmusik, teilweise auch mit atmosphärischen Fieldrecordings unterlegt, und da die eigentümliche Klangfarbe der Fiddle und die gespielten Melodien mir grundsätzlich, als Klischee, irgendwie »Irland« evozieren, stehen mir grüne Hügel, sumpfige Moore und ein paar Schafe dekorativ vor dem geistigen Auge. Ein Whiskey wäre jetzt auch nicht schlecht. Die Musik bietet sich, flapsig formuliert, als Projektionsfläche an, als eskapistische Perspektive aus dem Ohrensessel auf die grüne Insel. Das ist gar nicht schlimm. Ich werde mich nicht verheben und behaupten, ich verstünde die Musik, die ich hier höre. Aber sie gefällt mir in ihrer minimalistischen Instrumentierung und dunklen, warmen, leicht sehnsüchtigen und lebensbejahenden Stimmung. Alles Weitere überlasse ich Ultan O’Brien, der wird schon wissen, was er in der Auseinandersetzung mit seinem Instrument und dessen landesspezifischer Tradition tut. Aber jenseits des Eskapismus und der Flapsigkeiten ist die Sache doch komplizierter: O’Brien hat es im Umgang mit den angedeuteten Wissensbeständen auch nicht einfacher als ich und tastet sich auf seinem Instrument in eine mehr oder minder weit zurückliegende Vergangenheit, in die ich ihm mit den Ohren folge. Beide teilen wir uns die Existenz in spätmodernen, kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen, einer komplexen Lebenswelt, die – je nach individueller Verfassung und Neigung – über nostalgische Verkürzungen hinaus zur Suche nach etwas (diffus) Anderem motivieren kann. In der Musik können wir das beide finden. Was dies ist, bleibt unbestimmt (und vielleicht sogar unbestimmbar), aber es hilft. Will man dem Hype um Folk Music und vernakuläre musikalische Traditionen nicht von vornherein mit dem ideologischen Verdacht von »Heimat, Blut und Boden« begegnen, dann findet sich in der gegenwärtigen relativen Popularität von (wie auch immer aktualisiertem und angeeignetem) traditionell-musikalischem Vokabular vielleicht eine Antwort auf Phänomene der Gegenwart (Stichwort: Hyperindividualismus). Die Annahme einer gemeinsamen musikalischen Vergangenheit als Ausdruck eines kollektiven Bewusstseins, als geteilter menschlicher Erfahrung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Es war etwas, es ist etwas und es wird etwas sein. Ich bin hier, du bist da, wir sind nicht »lost«. Ich möchte Teil einer Bewegung sein, nicht nur in der Jugend! Ich nehme schon an, dass Musik im Großen und Ganzen so »funktioniert«, ich glaube es zumindest. Sicher, die hier eingenommene Perspektive ist nicht frei von Widersprüchen. Die Suche nach dem vermeintlich Anderen kann in privilegierten Angestelltenmilieus bereits im Hofladen für regionale Lebensmittel enden und die Annahme oder gar Beschwörung von Gemeinsamkeiten in idiotischen, identitären und völkischen Wahn kippen. Also, Obacht! Jedoch, auch das wird ja seit jeher gewusst: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.«
Ultan O’Brien
»Dancing the LIne«
Nyahh Records
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