a1524348574_16
The Necks

»Disquiet«

Northern Spy

Das neue Album des australischen Trios The Necks, »Disquiet«, ist 3 Stunden und 10 Minuten lang, verteilt auf drei CDs. Ihr 20. Album im 39. Jahr ihres Bestehens. Ich habe nicht nachgezählt, der Pressetext zum Album liefert die Rahmendaten. Ist auch alles egal. Was zählt, ist die Musik. 

[Es folgt ein Review in Echtzeit.] 

Langsam gehen sie es an, wie immer mit Bass, Schlagzeug und einem elektrisch verstärkten Tasteninstrument; ein Fender Rhodes oder eine Hammond-Orgel, etwas in der Art. »Rapid Eye Movement«, fast eine Stunde lang, klingt in etwa so, wie Bohren & der Club of Gore klingen könnten, wenn man sie ein klein wenig aufscheuchen würde, bzw. – noch abenteuerlicher formuliert – als würde man den musikalischen Folterknechten aus Mülheim den Auftrag erteilen, die instrumentale Orgelimprovisation aus Led Zeppelins »No Quarter« (in der Version vom Live-Album »The Song Remains the Same«) auf die Streckbank zu legen, mit dem Ziel, sie noch länger zu ziehen und das eben gaaanz langsam. Drumherum klöppeln und klopfen, raffiniert und virtuos, Bass und Schlagzeug ein wenig zur Ergänzung. Die Kunst besteht natürlich darin, dass einem eine solche Versuchsanordnung bzw. deren Ergebnis im Nachvollziehen während des Zuhörens gar nicht zur Qual wird. Und diese Kunst beherrschen The Necks, das machen die mit links. Erfahrung haben sie ja genug und Spaß am Experiment nach wie vor. Das zu CD 1 von drei. Weiter geht es auf CD 2 mit »Ghost Net«, eineinviertel Stunde lang! Aber erneut keine Sekunde langweilig. Ich weiß nicht, wie sie das machen, aber es funktioniert. Vielleicht so: Einerseits sind da musikalische Motive, die wiederholt werden, und dieses repetitive Moment in der Musik lässt sie seltsam groovy erscheinen – bei andererseits vertrackter Rhythmik, die mithin beinahe stolpernd daherzukommen scheint, aber nicht hinfällt. Die Musik des Trios lullt in dieser Weise ebenso ein, wie sie zur permanenten Wachsamkeit anregt. Vielleicht ist diese paradoxe Wirkungsweise ein Schlüssel zum Verständnis von The Necks. Fürs erste bleibe ich bei dieser Arbeitshypothese, ich habe ja noch über eine Stunde, bis es weitergeht. 

[Der Rezensent verlässt kurz den Raum, holt sich was zu trinken, nimmt wieder auf der Couch Platz und verfolgt weiter den musikalischen Prozess, bis die Musik wieder aufhört.] 

Ja, doch, ich bleibe dabei. Und auch der hanebüchen anmutende Verweis auf Led Zeppelin ist nicht so abwegig, wenn man sich vor Augen führt, wie exzessiv hier Musik gemacht wird. The Necks sparen sich zwar (wahrscheinlich) die offene Hemdbrust und blondgelockte Mähnen können sie ebenfalls nicht mehr vorweisen – aber: Sie spielen sich in einen Rausch, gehen in der Musik auf und reißen einen mit! Natürlich machen sie Musik, die dem Jazz nähersteht als dem Rock, vielleicht könnte ich daher auch sagen, dass sie – wenn schon die wilden Siebziger zum Vergleich herhalten sollen – immer wieder so klingen, als hätten sie im Ensemble beim elektrischen Miles Davis ebenso eine gute Figur machen können, wenn der nicht ganz so Bingo-Bongo-mäßig abgegangen wäre, wenn Sie verstehen, was ich meine. (Einzuräumen wäre allerdings, dass es bei The Necks etwas hüftsteifer zugeht.) Das sind jetzt aber Extreme, Bohren und der Club of Gore hier, Miles Davis da, Led Zeppelin dazwischen. Haarsträubend. Aber andererseits auch wieder nicht. Weil aufregend genug ist die Musik, assoziations- und abwechslungsreich und niemals öde. Sicherlich ließen sich vergleichend Instrumentalist*innen herbeizitieren, die ebenfalls bzw. jeweils mit Schlagzeug, Bass und Tasteninstrumenten hantieren, aber da fallen mir nicht so viele ein, da kenne ich mich nicht aus. Lasse ich also bleiben. Mir fallen aber noch Tortoise ein und ich behaupte mal, die haben sich sicher über die Jahre hinweg bei The Necks was abgeschaut! Kann ich auch falsch liegen, vielleicht war es sogar umgekehrt, aber das ist nicht so entscheidend. Entscheidend ist, dass hier Musik gemacht wird, die den Geist und die Fantasie anregt.

[CD2 kommt zum Ende, CD3 beginnt.] 

Weiter geht’s mit »Causeway«, nicht einmal eine halbe Stunde lang, ein flimmerndes, Weite und Offenheit evozierendes Stück. Der Auftakt klingt nach Gitarre durch Delay mit Piano und hebt den irisierenden Charakter der Musik hervor. Eine Art Soundtrack zur Reise in den zivilisationsfernen, sonnendurchfluteten bzw. in der Intensität der Sonneneinstrahlung eher überbelichtet zu nennenden Outback Australiens. Der Horizont als Klangtapete, ich meine das gar nicht abwertend, im Gegenteil: Die zunächst meditative Ruhe, die »Causeway« verströmt, kommt genau richtig. Aber nach ca. zehn Minuten schlägt das Wetter um, verdunkelt sich der Himmel, ziehen mit dem einsetzenden Schlagzeug Wolken auf, auch das Piano ändert die Gangart und kündigt Turbulenzen an und die Musik gewinnt insgesamt wieder an Dramatik, verliert aber nicht an Schönheit. Was soll ich sagen? Sie haben es halt drauf! An dieser Stelle schießt mir ein Gedanke an den Spiritual Jazz von Pharoah Sanders durch den Kopf: »The Creator Has a Master Plan«, The Necks auch. Fabelhaft. Und nun? Finale. Für gut eine weitere halbe Stunde gibt es »Warm Running Sunlight«. Wieder machen sich Tony Buck, Chris Abrahams, and Lloyd Swanton aufeinanderhörend auf den Weg, ohne ihre Zuhörer*innen aus dem Blick zu verlieren. Sie lassen sich aufeinander ein, ohne ihr Publikum außer Acht zu lassen. Zum Ausklang der langen musikalischen Reise laden sie zum entspannten Klangbad ein. Die Noten perlen erfrischend aus dem Piano, die Schlagzeugbecken fächeln kühle Luft zu, der Bass setzt erdende Akzente, die sparsam eingesetzte Gitarre verstärkt hier und da zusätzlich die Atmosphäre von wohlverdienter Erholung. Die hat man sich auch verdient, nach langen und herausfordernden 3 Stunden und 10 Minuten, die jede Anstrengung wert waren. 

Home / Rezensionen

Text
Holger Adam

Veröffentlichung
22.09.2025

Schlagwörter

favicon

Unterstütze uns mit deiner Spende

skug ist ein unabhängiges Non-Profit-Magazin. Unterstütze unsere journalistische Arbeit mit einer Spende an den Empfänger: Verein zur Förderung von Subkultur, Verwendungszweck: skug Spende, IBAN: AT80 1100 0034 8351 7300, BIC: BKAUATWW, Bank Austria. Vielen Dank!

Nach oben scrollen