Ganz selten, ein Glücksfall: eine Ausstellung, die komplett neue Bilder zeigt, die man noch nie gesehen hat, obwohl man die beteiligten Künstler*innen schon ewig kennt. Diese Bilder waren immer irgendwo, aber nicht im Museum, und symbolisierten die Einbindung der Künstler*innen in das wahre Leben, in den Alltag, in ihre Zeit. Ihre ganz eigene Lebendigkeit. Aber auch die Verbindung zu anderen Ländern, wie zum Beispiel Oskar Kokoschkas Scherenschnitte, die von indischen Schattenspielen beeinflusst waren und die in einem Nachtcafé Verwendung fanden. Josef Hoffmann entwarf Vorhangstoffe für das Cabaret Fledermaus. Wer weiß schon, dass die von Adolf Loos geschiedene Frau Lina Loos, eine Schauspielerin (Künstler*innenname Lina Vetter), bei der Fledermaus mitmachte? Wie bekannte und unbekannte Künstler*innen in ihre Zeit integriert waren, wird leider viel zu wenig gezeigt – aller Rede von Kontextualisierung zum Trotz. Der Glücksfall im Wiener Belvedere dauert Corona-bedingt nur noch sehr kurz: Die Ausstellung »Into The Night. Die Avantgarde im Nachtcafé« im Unteren Belvedere läuft leider schon am 1. Juni 2020 aus. Dann kann niemand mehr erfahren, dass zum Beispiel im Nachtcafé Rasht 29 in Teheran das Museum für moderne Kunst entworfen wurde und Titel von Janis Joplin gespielt wurden. Oder die Bilder mit leuchtenden Schriftzeichen von Parviz Tanavoli anschauen, der Fundstücke wie Ziergitter in seine Werke integrierte.
Narrenspiel des Nichts
Um Nachtcafés kreisten künstlerische und politische Bewegungen, trafen sich Künstler*innen, stellten ihre Werke aus und veränderten die Architektur der Räume durch Interventionen. Das mexikanische Café de Nadie (»Niemandscafé«) war 1921 der Treffpunkt der Avantgarde-Bewegung im Umfeld der Revolution. Hannah Höch und Max Beckmann stellten in der Zeit der Weimarer Republik im Cabaret Voltaire aus, der »bahnbrechenden Geburtsstätte des Dada. Die Belvedere-Ausstellung führt zurück in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Erstaunliche Dinge treten zutage: Zum Beispiel, dass die Antikriegslieder des Ersten Weltkriegs in afrikanischer Trommelmusik Zuflucht und Inspiration suchten! Narrenspiel des Nichts nannte sich ein Café in der Spiegelgasse in Zürich – als Antwort auf den Krieg. Wer weiß schon, dass es im Ersten Weltkrieg eine große Migrationsbewegung von Afroamerikaner*innen Richtung Norden der Vereinigten Staaten gab? Auch wenn Duke Ellington schon 1935 im Cotton Club auftrat und Radio-Livesendungen entstanden, so blieb schwarzen Gästen der Eintritt verwehrt! Unmittelbar nach dem Ende der britischen Kolonialherrschaft entstanden in Nigeria einige Nachtcafés mit dem Namen Mbari, was »Schöpfung« bedeutet. In diesen Zentren der Moderne gab es Einzelausstellungen von Künstler*innen wie Colette Omogboi, Susanne Wenger oder Rufus Ogundele. Opulente Wanddekorationen und Möbel erzeugten die Kulisse für die Aufführungen unter freiem Himmel.
Tanz ist Leben
In Nachtcafés entstanden wirklich verrückte künstlerische Ideen mit großem Publikumszulauf. So improvisierte im Pariser Chat Noire ein Pianist zu Silhouettentanz und Schattentheater. Für die ausgeklügelte Maschinerie hinter den Kulissen waren bis zu zwölf Techniker*innen nötig. Im Belvedere hängen nun diese ausgeschnittenen Figuren vom Plafond und werfen gefinkelte Schatten. Den Serpentinentanz der Tänzerin Loie Fuller mit Stoffbahnen verewigte Henri de Toulouse-Lautrec in erstaunlich frechen und modernen Lithografien. Das Schattentheater am Montmartre galt als einer der Vorläufer des Kinos! Den Raum für »Cine-Dancing«, den Billardsalon und den Salon de The namens »Five o’Clock« entwarf die Bauhaus-Künstlerin Sophie Tauber-Arp gemeinsam mit ihrem Mann Jean für die Aubette. »Synthese der Künste durch Abstraktion« nannte sie ihre Methode. Sie ließ sich von Wandmalereien in Pompeji inspirieren. Die Raumgestaltung nahm die Bewegung der tanzenden Menschen auf. Dies galt damals als »Beginn eines neuen Zeitalters in der Kunst». Für den Maler und Erfinder des Cafés Aubette, Theo van Doesburg, war der Tanz »die dynamischste Ausdrucksform von Leben und daher das wichtigste Thema für die bildende Kunst«. Seine Farbtheorien waren stark von der Musik beeinflusst, und zwar von der Dissonanz, die er zum Beispiel durch zwei nur geringfügig unterschiedliche Farbtöne der gleichen Farbe nebeneinander erreichte. Wenn man sich beeilt, kann man diese opulente Wunderkammer noch anschauen.