Im Jänner werden es 45 Jahre, dass Judas Priest einen ihrer bekanntesten Songs aufgenommen haben: »Breaking The Law« vom Erfolgsalbum »British Steel« von 1980, ist einer dieser definitiven Metal-Klassiker. Nicht wegzudenken aus einem traditionsbewussten Kanon, den Metalheads auf der ganzen Welt mit jedem Abspielen, Mitsingen, realen und Luftgitarren abrufen und affirmieren. So weit, so gut, so bekannt. Dass sich der Song auch als Ausgangspunkt und thematische Klammer eignen würde, um die Geschichte einer lokalen Metal-Szene anhand der Dimensionen »Recht, Moral und Klang« zu rekonstruieren, ist hingegen neu. Der Grazer Kulturhistoriker Peter Pichler wählte diesen originellen Zugang, um der Entwicklung der steirischen Szene in drei Phasen nachzuspüren: der Gründungsphase der 1980er-Jahre; der Konsolidierung der Szene, Differenzierung der Stile und Pluralisierung ihrer Werte in den 1990er-Jahren sowie der Fortsetzung dieser Szeneprozesse im Zeichen zunehmender Digitalisierung von der Jahrtausendwende bis zur Gegenwart. Das vorliegende Buch präsentiert Forschungsergebnisse seines vom FWF (Österreichischer Wissenschaftsfonds) geförderten gleichnamigen Projekts »Breaking The Law?«.
»The Only Way To Live« – Glocal Metal
Globale Musikkulturen, ob HipHop, Electro oder eben Metal, haben es an sich, dass sie nicht nur von um die Welt jettenden Stars geprägt sind, denen die Fans zujubeln. Globale Entwicklungen werden auf lokaler Ebene produktiv, kleine und größere Szenen entstehen. Im Zuge dieser »Glokalisierung« werden zentrale Elemente überall angeeignet, manches wird umcodiert, um lokale Aspekte bereichert, die ihrerseits globalen Impact erlangen können. »Breaking The Law« auf Steirisch bedeutete: »Dort fand das Hören unter spezifischen lokalen Bedingungen statt: Protestierte der Protagonist des Songs im britischen Umfeld des Thatcherismus gegen die neoliberalen Unsicherheiten, so ging es in Graz und der Steiermark darum, die bereits bestehenden Freiräume einer von der Liberalisierung erfassten, aber teils noch katholisch-autoritären Lokalkultur zu erweitern.«
So oder so ähnlich mag es sich in vielen Szenen zugetragen haben; in Szenen allerdings, die ihrerseits großen Einfluss auf die Entwicklung des Metal und seiner Spielarten nahmen und mittlerweile nahezu überdokumentiert sind: Thrash aus dem Ruhrpott, »True« Norwegian Black Metal oder schwedischer Death Metal. Und was Österreich betrifft, so schafften es die Grindcore/Death-Metal-Spezialisten Pungent Stench aus Wien und Disharmonic Orchestra aus Klagenfurt Anfang der 1990er bis in die USA. Aber erfolgreiche steirische Bands jenseits von Austropop und volkstümlicher Musik – »Styrian Metal«? Damals wie heute haben innerhalb und außerhalb der Landesgrenzen nur wenige Eingeweihte von Bands wie Blessed Virgin (ihre erste steirische Metal-Single hieß so schlicht wie programmatisch »Heavy Metal«), Skull Breaker, Dynamite, Morticia oder Shekinnah gehört. Dazu der Autor, der selbst in den 1990er-Jahren Metal-sozialisiert wurde: »Es ist gerade diese individuelle historische Situation der Gründung der Szene, die ihre Untersuchung reizvoll macht. Es handelte sich um eine Metal-Community, die man mit einiger Berechtigung bis in die 1990er-Jahre als peripher innerhalb Europas bezeichnen konnte. Alle wesentlichen Trends, die in Pionierszenen zu beobachten waren, traten auch hier auf, jedoch mit einiger Verzögerung.«
Pichler geht es nicht um eine erschöpfende Auflistung, um eine vollständige Dokumentation aller Bands samt Veröffentlichungen, Locations und Events. Aber freilich kann er aus einem entsprechend großen Datenkorpus aus qualitativen Interviews, semiotischen (Covers, Konzertflyer, T-Shirts) und musikwissenschaftlichen Analysen schöpfen. Die exemplarisch interpretierten Daten ergeben ein stimmiges Bild von dem, was über 40 Jahre lang für Kontinuität in dieser Musikszene sorgte. Pichler spricht von einem »normenbezogenen klanglichen Wissen«: »Dieses Wissen, welches die Metalheads wissen lässt, was Metal in der Steiermark ausmacht … ist assoziativ und orientiert sich am Praxisleben der Szene. Wesentliche Wissensbausteine entsprangen aus dem Wechselspiel von Rechtsbezug, Wertegenese und dem Hören und Fühlen des Metal-Sounds in der Steiermark.«
»You Don’t Know What It’s Like« – Outlaw-Mythos
Was den Rechtsbezug betrifft, so ist das Fragezeichen im Projekt- und Buchtitel bewusst gesetzt. Pichler arbeitet pointiert die Ambivalenz der Rechtserfahrungen von Ermöglichung und Beschränkung heraus: »Einerseits bot das Gesetz Rechtssicherheit und somit Freiraum, andererseits wurde es als Ausdruck der (noch) katholisch-bürgerlichen Lebenswelt mit ihren oppressiven Regeln, denen man sich beugen musste, imaginiert.« Am Anfang der szenebegründenden Identitätskonstruktionen stand nicht der reale, sondern der imaginierte Rechtsbruch. Outlaw-Mythos, nicht kriminelles Outlaw-Sein bestimmten die Rechtserfahrungen der meisten Metalheads. Dementsprechend gibt es – im Unterschied zu etlichen sich auf Oral History beschränkenden anekdotischen Schilderungen anderer Szenen – so gut wie nichts über individuelle Konflikte mit dem Gesetz zu berichten; keine dramatischen Drogenexzesse, Grabschändungen, verwüsteten Wirtshäuser, brennenden Heustadl oder gar Mord und Totschlag wie in den skandinavischen Szenen.
Ein Mitglied von Skull Breaker aus Graz, der »1982 nach eigenem Anspruch ersten Heavy-Metal-Band der Steiermark«, sagt im Interview, dass der Outlaw-Mythos mit einer typischen, allerdings durchaus willkommenen Fremdzuschreibung zu tun hatte: »Du hast dir die Haare wachsen lassen, du hast dann irgendwie geschafft, ein Metal-T-Shirt zu haben und härterer Musik zu frönen und du warst schon der Outlaw. … Du bist einfach erschienen, du bist ein bisschen herumgegangen, die Leute haben die Straßenseite gewechselt und du warst der Outlaw.« Eine Zeitzeugin zur frühen Weizer Szene erinnert daran, dass es sowohl um Abgrenzung von der bürgerlichen Erwachsenenwelt als auch von den angepassten Mitschüler*innen, die »Mainstream« waren, ging: »Also man hat damals wirklich noch aufregen können mit zerrissenen Jeans.«
»Between Your Legs« – Macht- und Genderhierarchien
»Breaking The Law?« ist eine wissenschaftliche Publikation; insofern sitzt das konzeptuelle Korsett durchwegs straff. Mit einer Fülle an zum Teil kuriosen Details bietet es jedoch auch genügend Lesestoff für Interessierte, die keinen Abschluss in Metal Studies anstreben. Besonders vergnüglich lesen sich Abschnitte über das »Hard Rock Ost«. In Strallegg, Bezirk Weiz, verwandelte sich das Dorfgasthaus Gruber über Jahre an Wochenenden in eine Metal-Disco. Bis zu 300 Metalheads pro Wochenende, von Graz bis Salzburg, pilgerten ins tiefste subkulturelle Niemandsland, um sich und den Metal zu feiern. Aber nicht alles bedeutete gleichermaßen Spaß für alle. »Jede Party dort war eine Aufführung der Szenemoral. Je öfter sie stattfanden, desto etablierter wurde der ambivalente Wertekanon der Szene.« Ambivalenz bedeutet hier, dass irgendwo am Lande aufgrund veritabler DIY-Initiative ein Freiraum für eine sich rebellisch inszenierende Musikkultur geschaffen wurde. Zugleich aber integrierte diese Metal-Szene »genau jene Formen männlich-hierarchischer Dominanz, Macht und Uniformität (etwa in der Kleidung), die es in der bürgerlichen Welt gab.« Die lokale männliche »Szene-Elite«, die sich selbst »Antichrists« nannte, residierte im ersten Stock.
Egalitärer und emanzipativer erlebten Metalheads jeglichen Geschlechts das Jugend- und Kulturzentrum Explosiv, das es seit 1988 in Graz gibt und das nach wie vor zu den wichtigsten Veranstaltungsorten zählt. Bezeichnenderweise ist in Erinnerungen von einer »Wahlfamilie« die Rede, in der Gleichgesinnte zu Bezugspersonen wurden. Basierend auf Statistiken, wie sie das Explosiv führt, geht Pichler gegenwärtig von einem Geschlechterverhältnis von 60 % männlich zu 40 % weiblich bei Metal-Konzerten in der Steiermark aus. Allmählich wurden Genderrollen selbst in der Männerdomäne Metal fluider. »Der Mann als Kämpfer für Metal-Werte, welcher in den 1980er-Jahren kaum ein weibliches Pendant kannte, wurde durch neue Weiblichkeitskonstruktionen der femininen Stärke ergänzt.« Und dennoch: »Die Verflüssigung der Geschlechterrollen und die szenische Emanzipation der Frauen, bei gleichzeitiger historischer Kontinuität hegemonialer Männlichkeit, lagerten sich in die Semiotik des Diskurses sowie in der Musiksprache an. Bands integrierten stärker als zuvor weibliche Musiker*innen, aber zugleich blieben viele Schlüssel- und Gatekeeping-Positionen männlich besetzt.« Es ist definitiv eine Stärke von »Breaking The Law?«, sich gleichermaßen kritisch mit den implizit gelebten als auch explizit thematisierten Werten der Szene auseinanderzusetzen. Das gilt auch für Pichlers kritischen Blick auf die seit den 1990er-Jahren leider notwendig gewordenen Diskussionen zu Neonazis im Black Metal.
Differenzierung, Digitalisierung, Dynamisierung, Ironisierung
Im weiteren Verlauf der Lektüre von den 1990er-Jahren bis zur Gegenwart trifft man u. a. auf Death-Metal-Bands wie Cadaverous Condition (releasten heuer ihr neues Album »Never Arrive, Never Return«), Skull Crusher und Scarecrow, Gothic Doom Metal von Children Of A Lesser God, Black Metal von Asmodeus, Blessmon, Python Regus sowie Post (Black) Metal von Ellende. In den 1990ern spielte »die klanglich codierte Abgrenzung der Metalness« zu Techno noch eine wichtige Rolle im Szenediskurs. In den letzten beiden Jahrzehnten kam es im Zuge der Digitalisierung zu einer Dynamisierung der Hörgewohnheiten. Fragen zu »Computer Metal« und »besserem Metal« dank neuer Produktionstechniken bewegten und bewegen die Gemüter, die oftmals zwischen Traditionalismus und Selbstironisierung hin- und hergerissen sind. 2021 coverten die Spaßvögel von Heathen Foray »Steirermen san very good« des Stoakogler Trios. Die Ironisierungen der eigenen Metal-Rituale und von in Kernöl getränkten Steiermark-Klischees scheinen dabei Hand in Hand zu gehen mit einer ehrlichen Verbeugung vor dem konservativen Mainstream der volkstümlichen Musik made in Styria. Wenn visuelle und klangliche Codierung der Ironisierung selbst schon zum Klischee werden, dann kann man das headbangend oder auch nur kopfschüttelnd als kleine Rolle rückwärts zum »Heavy Metal Pepi« der EAV (1984) interpretieren.
Gut 55 Jahre nach den Birminghamer Anfängen geht’s dem Metal global betrachtet alles andere als schlecht. Selbst die »Metal Gods« Judas Priest tourten heuer noch mit durchaus respektablem neuen Album »Invincible Shield« im Gepäck um den Globus. Auch ihr Konzert in der Wiener Stadthalle, bei dem »Breaking The Law« natürlich nicht fehlen durfte, überzeugte. Was die Gegenwart der steirischen Szene betrifft, so zählt Pichler diese immer noch zur langen dritten Phase ihrer Geschichte: »Die analogen Netze und Strukturen der Szene (Jugendzentren, Pubs usw.) blieben bestehen, aber sie vernetzten sich mit den entstehenden Metal-Öffentlichkeiten im Digitalen wie in Foren, auf Webseiten, Filesharing- und Streaming-Plattformen sowie auf Social Media. Gerade die letzteren zwei führten zu einer neuen Dichte des Metal-Diskurses, die eine explosionsartige Intensivierung der Zirkulation des kulturellen Flusses zeitigte. Die Musik sowie das Wissen um Metal als Sub- und Popkultur waren so zugänglich und verfügbar geworden wie nie zuvor.« Erwähnenswert ist weiters, dass sich das seit 2003 veranstaltete Kaltenbach Open Air bei Spital am Semmering als größtes österreichisches Extreme-Metal-Festival etablierte. Und das 1992 gegründete Label Napalm Records, das seinen Hauptsitz immer noch in Eisenerz hat und auf dem auch internationale Szenegrößen veröffentlichen, wuchs zu einem der größten Metal-Labels weltweit heran.
Future Metal & Metal Studies
Wie lautet also Peter Pichlers Fazit zur steirischen Metal-Szene? »Prinzipiell ist die Geschichte des Metal in der Steiermark seit 2000 eine neuartige Szeneära des kulturellen ›Mehr‹: mehr Geschwindigkeit, mehr Information, mehr Wissen, mehr Musik – kurz, die Digitalisierung ist eine Zeit, in der es mehr steirischen Metal in all seinen kulturellen Facetten gibt. So sehr wie nie zuvor geht die individuelle, lokale Form der Metalness hinaus in die Welt; genauso sehr verlangt jedoch die ›große Welt‹ des Metal ihren Platz im Steirischen. Das Ende dieses Prozesses ist noch offen.«
Ebenfalls ein »Mehr« ist in Zukunft von begrüßenswert kritischen Metal Studies im deutschsprachigen Raum zu erwarten. »Breaking The Law?« ist der dritte Band in der von Pichler mitherausgegebenen Reihe »Meta/Metal«. Da sollte also noch so manch schwergewichtige Veröffentlichung folgen. Und wer weiß, vielleicht lässt sich ja eine andere – glücksspielaffinere – Szene mit Motörheads »Ace Of Spades« als Ausgangspunkt rekonstruieren?
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