Angst essen Seele auf : Foto Rainer Werner Fassbinder
Angst essen Seele auf : Foto Rainer Werner Fassbinder

Schlager sind kälter als der Tod

»Jukebox BRD«: Wie Rainer Werner Fassbinder die Musik beim Wort nimmt und dabei das Drängen der Schlager im Unbewussten zum Ausdruck kommt.

»Ich möcht‘ Musik machen können«, war 1969 die Antwort des 24-jährigen Rainer Werner Fassbinder auf die Frage der BR-Reporterin Anita Bauer, was denn sein größter Wunsch wäre (ein gleichnamiger Zündfunk-Sampler erschien dann 1996 zu Fassbinders 50. Geburtstag). Als Peer Raben, Filmkomponist der meisten Fassbinder-Filme, Jahre später von Judith Schnaubelt in einem Zündfunk-Interview darauf angesprochen wurde, sagte er: »Er hat ja dann durch mich Musik machen können.« Aber hat der besessene Kraftwerk-Fan Fassbinder (Kraftwerk liefen teilweise an ganzen Drehtagen in einem durch, bis sie von allen – außer Fassbinder – nur noch gehasst wurden) nicht sowieso in und mit seinen Filmen »Musik machen können«? Immerhin spricht er in einem Interview einmal sogar von dem Vorschlag, »man könnte den Fassbinder ’ne Operette machen lassen«. Schon der Kurzfilm »Das kleine Chaos« (1967) endet lautstark. Nachdem ein Trio von frustrierten Hausierern eine Frau in ihrer Wohnung überfallen und das Ersparte gestohlen hat, hat jeder so seine Vorstellungen von dem, was mit dem Geld gemacht wird. Fassbinder, der einen der Kleinganoven spielt, sagt nur »Ich? Ich geh ins Kino!« Worauf das berühmte »Oh, no!« des Troggs-Klassikers »I Can’t Control Myself» anhebt und der Song uns zwei Botschaften mit auf den Weg gibt: 1. Verbrechen kann sich doch lohnen, 2. Die Sucht nach Kino ist nicht kontrollierbar. Eine ähnliche Szene gibt es auch in Martin Scorseses »Mean Streets« (1973). Nachdem die Nachwuchs-Mobster zwei Jugendliche ausgenommen haben, wird nicht lange überlegt, was mit dem Geld zu machen ist: »Let’s go to the movies« (wo natürlich John Fords »The Searchers« läuft).

Schlager der Ausgeschlossenen
Bei Scorsese stehen die Popsongs jedoch primär für ein soziologisches Feld. Für das, womit Zeit, Geschichte, Realität und Territorien im Film dargestellt und markiert werden. Bei Fassbinder hingegen scheint dem psychologischen Feld (als ein durch Politik und »deutsche« Biografien geprägtes Gebiet) der Vorrang gegeben zu werden. Nicht umsonst stellte Fassbinder einmal fest: »Ja, manchmal scheint es, dass Freud wichtiger ist als Marx.« In beiden Fällen markieren die Songs und Schlager jedoch Grenzlinien, hauptsächlich entlang der Kategorien »race« und »class«. In Fassbinders »Angst essen Seele auf« (mit dem vorangestellten Motto »Das Glück ist nicht immer lustig«), ist es der Zwischenkriegsschlager »Du schwarzer Zigeuner«, der die eh schon komplizierten Verhältnisse (deutsche Pensionistin liebt jungen Afrikaner) noch komplizierter macht. Das auf den ersten Blick schon dem Titel nach als rassistisch zu deutende Lied bekommt bei Fassbinder sogleich einen ganz anderen Dreh. Das begehrte Fremde, Exotische ist ja in beiden Personen ebenso konkret anwesend wie die Unmöglichkeit dieser Liebe. Zudem spricht das Lied ja selber von Verlust und Entwurzelung (»Denn ich will vergessen heut‘, was ich verlor«) und zwar in Form von gemeinsamen, ähnlichen Erfahrungen (»Du schwarzer Zigeuner, du kennst meinen Schmerz«). Das es sich hierbei um ein von Fassbinder in diesem Sinne sehr genau erkanntes Lied von Ausgegrenzten für Ausgegrenzte handelt (auch gibt es von Luigi Bernauer auch eine schwule Schellack-Version), zeigt sich nicht zuletzt in der Person des Textdichters Fritz Löhner-Beda, der u. a. für Lehárs »Land des Lächelns« und Paul Abrahams »Die Blume von Hawaii« die Texte geschrieben hat und als Jude nur knapp vierzehn Tage nach dem Anschluss mit einem der ersten »Prominententransporte« von Wien ins KZ Dachau deportiert wurde. Später schrieb er zusammen mit Hermann Leopoldi »Das Buchenwaldlied« und wurde 1942 in Auschwitz von den Nazis ermordet.

Nicht umsonst nennt Klaus Theweleit Schallplatten »Geschichtsspeicher«, und das sind sie bei Fassbinder, dessen »geradezu unheimliche Sensibilität für die historische Materialität des Populären« auch Thomas Elsaesser anspricht, zweifelsohne. Mehr noch: Während bei Scorsese Popmusik einfach da ist, scheint sie bei Fassbinder immer umkämpft (die Schlager) bzw. erkämpft (Pop). Der durchaus campe Blick auf den Schlager (oder die »Jukebox BRD«) verschweigt nicht dessen fragliche Funktion zur Herausbildung einer »deutschen Identität« (woran dann auch immer gescheitert wird). Gleichzeitig steht Pop hier für das von Deleuze/Guattari abgeleitete »Sprich fremde Sprachen im eigenen Land« der Fehlfarben. Egal ob beim »Schallterror« (Fassbinder) von »In einem Jahr mit 13 Monden« mit u. a. Roxy Music (»A Song For Europe«) und den zu dieser Zeit gerade brandneuen Suicide (»Frankie Teardrop«), den Kraftwerk-Songs (»Chinesisches Roulette«, »Berlin Alexanderplatz«, wo auch Velvet Undergrounds »Candy Says« im Epilog erklingt), einem Amon-Düül-Liveauftritt (»Niklashauser Fart«) oder beim Tanzen zu Elvis (»Rio das Mortes«), Pop verweist hier immer auf etwas anderes (durchaus im Sinne von »etwas Besseres als die Nation« bzw. »Halt’s Maul, Deutschland!«) und markiert jene (utopischen, popistischen) Nicht-Orte, die in der (alten) BRD gerade durch angloamerikanische Musikimporte erst möglich geworden sind. Und über Pop spricht Fassbinder ja auch, wenn er per se über seine Filme spricht: »Meine Ansicht ist immer die gewesen, dass je schöner und gemachter und inszenierter und hingetrimmter Filme sind, umso freier und befreiender sind sie.«

Schlager als Klassenkampf
In »Faustrecht der Freiheit« wird der durch einen Lottogewinn zu Reichtum gekommene Schausteller Franz »Fox« Bieberkopf (Fassbinder) der Lebensgefährte des aus der Oberschicht stammenden Unternehmersohns Eugen. Eine aus Eugens Sicht praktikable Zweckgemeinschaft, da der Familienbetrieb vor dem Bankrott steht und dringend Geld gebraucht wird, das Fox in seiner Naivität auch gerne zur Verfügung stellt. Musik markiert dann auch das, was unter dem Aspekt »class« oder generell unter Macht und Machtbeziehungen (Fassbinder war ja bekanntlich auch Foucault-Leser) als Kultur versus Nicht- bzw. Unkultur verstanden wird. Auch hier ist es ein Schlager (Alexandras »Schwarze Engel«, auch so ein »Minoritäten«-Lied), der die gesellschaftlichen Antagonismen endgültig sichtbar macht. In einer mit seinem Geld gekauften und von Eugen opulent eingerichteten Wohnung findet Fox einen Stapel alter Singles. Scheinbar das einzige, was in diesem Ambiente noch etwas mit ihm zu tun hat. Er fischt eine Single heraus, sagt leicht wehmütig »Das ist eine meiner ersten Platten gewesen. ›Warum malst du nur weiße Engel?‹«, legt sie auf den Plattenteller, hört der Musik zu, wird dabei jedoch von Eugen harsch unterbrochen: »Mir ist diese Art von Musik höchst zuwider. Auch in guter Musik will ich dir gelegentlich ein Nachhilfestündchen geben müssen.« Woraufhin Fox, nun ganz verunsichertes kleines Kind, das sich an einem (diesem!) Lied festhält, sagt: »Gern. Aber irgendwie mag ich solche Musik. Weißt du, das erinnert mich an die Zeit von früher.« Eugen darauf: »Eben. Damals warst du auch noch ein anderer Mensch. Du musst lernen, lernen und nochmals lernen. Kultur musst du lernen.« Am Ende begeht der von allen betrogene Fox Selbstmord.

Leitmotive und Leidensmotive
»Warum läuft Herr R. Amok« endet bekanntlich so. Und es ist erneut ein Lied, das uns bis dorthin begleitet. Kurt Raab will seiner Frau eine Single kaufen und geht dazu in ein Plattengeschäft. Weder Interpret noch Titel sind ihm bekannt, aber er versucht, die Verkäuferinnen auf die richtige Spur zu bringen. Dabei entspinnen sich unglaublich subtile Dialoge. Verkäuferin: »Wer ist das? Ein Sänger oder eine Sängerin?« Raab: »Ich glaub‘, dass ist ein Sänger, aber das kann man ja heute nicht mehr so genau unterscheiden.« Schließlich benennt Raab das irritierende Faszinosum des Lieds: »Es ist ein sehr trauriges Lied. Der singt das mit sehr viel Gefühl und sehr viel Schmelz, und oft hat er auch so Sachen drin, wo er dann ein bisschen stöhnt dabei und drüber geht mit der Stimme.« Das Lied, das »dann ein bisschen stöhnt dabei und drübergeht mit der Stimme«, ist wenig später in Christian Anders‘ »Geh‘ nicht vorbei« gefunden. Nur, das Lied kann seine Funktion nicht erfüllen, die vermeintliche Schnulze offenbart viel eher ihre dunklen Seiten. Schon vor dem Mord an seiner Familie sowie der Nachbarin und dem anschließenden Selbstmord haben Zeilen wie »Komm und verzeih, ich werd‘ mit dir geh’n / wohin dein Weg auch führt» einen bedrohlich-fatalistischen Aspekt. Aber vielleicht läuft das Begehren des Herrn R. schon vor dem Plattenkauf auf Mord und Selbstmord hinaus, womit die Wahl des Liedes die Erwiderung eines Lockrufes gewesen wäre. Das Lied hat etwas zum Klingen gebracht, hat etwas angesprochen, das über die Person/das Subjekt hinausgeht und konfrontiert sie mit dem Realen (da verwundert es gar nicht mehr, wenn Fassbinder in einem Interview erwähnt, auch Lacan zu kennen).

In »Händler der vier Jahreszeiten« übernimmt Rocco Granatas »Buona Notte« die Rolle des Todesschlagers (des Realen). Einst das, zu dem der Obst- und Gemüsehändler Hans Epp (Hans Hirschmüller) und dessen Frau Irmgard (Irm Hermann) »unser Lied« gesagt haben, hat es sich mittlerweile zu einem bitteren Kommentar über die »Cold Hard Facts Of Life« gewandelt. Der Abstieg von Hans (bis zum sich öffentlich Zu-Tode-Saufen) ereignet sich entlang der Liedzeilen »Deine Sehnsucht kann keiner stillen / Wenn die Träume sich auch erfüllen«. Er singt es, nachdem er betrunken seine Frau geschlagen hat und diese von seiner Familie, zu der sie sich geflüchtet hat, zurückholen will – und bekommt einen Herzinfarkt. Er legt nach der Entlassung aus dem Krankenhaus die Single im Schlafzimmer auf (in Fassbinder-Filmen finden sich Plattenspieler meist neben dem Bett, so auch bei »Die bitteren Tränen der Petra von Kant«), bevor es zu ungelenkem Versöhnungssex kommt. Schließlich, nun schon von einer schweren Depression gezeichnet, legt er die Single ein letztes Mal auf und zerbricht sie mitten im Lied. Wie bei »Geh‘ nicht vorbei« funktioniert auch hier das »kleine Lied« (Gilles Deleuze) als Heilpflaster auf der Suche nach dem kleinen Glück nicht mehr. Ganz im Gegenteil, schlägt es erst die Wunde, die es eigentlich heilen sollte.

In »Die bitteren Tränen der Petra von Kant« wird Musik schließlich nur noch zu einer Art verzweifelten Selbstinszenierung, die in ihrer Darstellung Hollywood und die Ufa gleichsam kurzschließt, aufgelegt, ist der Soundtrack zu einem Ritual: Zigarette anzünden, Platte starten (The Platter: »Smoke Gets In Your Eyes«), Dress-up, Make-up, Perücke aufsetzen, das Outfit im Spiegel checken und dabei dem eigenen Realen wie dem des Liedes (»When a lovely flame dies / Smoke gets in your eyes«) begegnen, einsam zu zweit tanzen, Abbruch, versunken noch etwas im Lied verharren. Diese Versuche des Aufschubs der unausweichlichen Tragödie mittels melodramatischen Auftritten, die durch die Musik mit etwas sentimentalem Glamour ausstaffiert werden, tragen dabei durchaus masochistische Züge. Klar wird das, als die Walker Brothers mit »In My Room« (einem von E. A. Poe inspirierten Song über die unheimliche Anwesenheit der toten Geliebten, den später auch Marc Almond im Programm hatte) in Erscheinung treten und Margit Carstensen dazu direkt in die Kamera blickt und spricht: »Magst du solche Musik? Das sind Platten aus meiner Jugend. Da kann ich ganz traurig werden, oder ganz lustig, je nachdem.« Es folgt eine Erzählung über den Unfalltod ihres Mannes (»Er glaubte immer, er sei unsterblich. Er war es nicht.«), während Irm Hermann dazu ununterbrochen auf die Schreibmaschine einhämmert und Hanna Schygulla beinahe somnambul dazu tanzt. Gleichsam zerhackt durch das überlaute Schreibmaschinengehämmere, kommt der Song fast nicht durch und prägt dennoch die Szenerie: »All alone in my room« – jede Figur ist hier für sich in Agonie isoliert.

Das Unbewusste der Schlager
Wie sehr Schlager für Fassbinder quasi psychische Realitäten darstellten, zeigt sich nicht zuletzt im 1970 für den Bayerischen Rundfunk geschriebenen Hörspiel »Ganz in Weiß« über Heimzöglinge. Gespickt mit Roy-Black-Schlagern, deren Textzeilen wie »Ich möcht vergessen / was du einmal warst für mich / Und ich vergesse alles / alles, nur nicht dich« gleichsam durch eine Proust-Maschine durchgeschreddert werden, geht es um das Ultimative von Versprechungen (»Bis ans Ende der Welt will ich gehen mit dir«, »Meine Liebe zu dir ist so tief wie das Meer und sie gehört dir allein«), das hier wortwörtlich genommen und mit dem gegen die Wand gefahren wird. Fassbinder nimmt das durch die Schlager (die ja auch seine Lieblingsschlager sind) artikulierte Begehren und dadurch auch seine ProtagonistInnen ernst. Er weiß, was es bedeutet, wenn Schlager zuschlagen und (er)kennt darin deren Unbewusstes. Und zwar aus einer popistischen, campen Sicht. Er stellt das »Black« in Roy Black dem »Weiß« in »Ganz in Weiß« gegenüber, jedoch nicht als Kalauer, sondern als unterschiedliche psychische Realitäten. Als Befindlichkeiten, als Zustände (alle Fassbinder-Figuren sind im Grunde Zustände). Bei Fassbinder liegen alle, liegt alles auf der Couch. In »Ganz in Weiß« gibt es dafür einen exemplarischen Moment. Wir hören kurz Roy Black, wie er »Ich denk an dich, die ganze Zeit / Und alles tut mir leid / Ich seh den Himmel / Und die Menschen und ihr Glück« singt, woraufhin Fassbinder sagt: »Der spricht nicht von Liebe, sondern von Sehnsucht. Der spricht nicht von Zärtlichkeit, sondern von Trauer. Da ist einer tot, ehe er weiß, was er spricht.«

Weiterführende Literatur:
Thomas Elsaesser: »Rainer Werner Fassbinder«
Bertz+Fischer 2012, 528 Seiten, EUR 29,-

Robert Fischer: »Fassbinder über Fassbinder. Die ungekürzten Interviews«
Verlag der Autoren 2004, 400 Seiten, EUR 29,50

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Text
Didi Neidhart

Veröffentlichung
30.07.2012

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