In der in wenigen Jahrzehnten aus dem Wüstensand gestampften Stadt Doha gibt es ein sogenanntes »Industrieviertel«. Tourist*innen und sonstige Besucher*innen dürfen dies nicht betreten. Die Straßen werden akribisch überwacht, es ist kaum möglich, sich unbeobachtet durch Katar zu bewegen. In dem Industrieviertel leben neben einem riesigen Abwassersee die mit falschen Versprechungen ins Land gelockten Bauarbeiter. Diese »Junggesellen« stellen laut Behörden eine Gefahr dar und sollen keinerlei Kontakt zur katarischen Bevölkerung haben. Deshalb wurden sie aus allen Behausungen der »Familienzonen« der Stadt deportiert und konzentriert in Baracken untergebracht, in denen es keine Duschen gibt und nur wenige WC-Anlagen. Das katarische Regime will nicht, dass sich die 300.000 Bürger*innen mit den fast zwei Millionen Gastarbeitern vermischen oder sonst wie begegnen. Es werden seit der Antike bekannte Herrschaftsstrategien exerziert, die den »Sklaven« erschweren, sich zu organisieren und gegen ihr Schicksal aufzubegehren. Westliche, moralische Erhebung ist weitgehend unangebracht. Der Reichtum Katars fußt auf den Geldern, die die Käufer*innen aus dem Norden zu zahlen bereit sind. Und die fragen seit Jahrzehnten nicht nach Demokratie und Menschenrechten.
Und dennoch ja zum Fußball sagen
Warum tut sich die kleine Herrschaftselite in Katar eigentlich die WM an? Reicht es nicht, reich zu sein? Nun, sie ahnen, dass es mit dem Öl-, Erdgas- und sogar eines Tages Heliumverkauf ein Ende haben wird. Man will international beachtete Attraktionen basteln und Investments ins Land ziehen. Deswegen macht man auf business savvy und weltoffen, aber bitte ohne Menschenrechte und Arbeitnehmer*innenschutz. »Weltoffene Sklavenhalter« soll kein Widerspruch mehr sein, die Hoffnung war und ist, eine Zeitlang wird sich aufgeregt und dann wird fußballgefiebert und gut ist’s. Jetzt wäre die Frage, warum machen so viele im Westen bei dem Unsinn mit? Das hat vielleicht wirklich etwas mit der »Magie des Fußball« zu tun, die jene nie verstehen, die sagen: »Möge die bessere Mannschaft gewinnen.« Der Satz bedeutet meist so viel wie: »Das interessiert mich einen Scheiß.« Denn erst die Parteinahme schafft die Intensität. Das Mitfiebern und die bewiesene Treue.
Wer immer den Sportclub supportet hat, hört nicht auf damit, wenn der in der dritten Liga spielt. Wer Fan ist, geht mit seinem Team durchs Leben. Weiß die Tabelle auswendig, denkt über neue Spieler*innenankäufe in seiner Freizeit nach, die bessere Aufstellung nächsten Samstag und all das. Besonders seltsam wird dies dann bei einer WM, denn hier spielen nicht Teammannschaften, sondern Nationenauswahlen. Plötzlich wandert das eher harmlose Gefühl einer Gruppenidentität über in die Identifikation mit der Nation. Aus Grün-Weiß wird Rot-Weiß-Rot oder Schwarz-Rot-Geil. Die Farben der Länder machen dann eigentümlich »Klick« im Unbewussten. Diesem Effekt hat der Künstler Thomas Metzner in seinem Video »1/2 Zeit« auf den Zahn gefühlt. Abstrakte Farbflächen, die nach Minimalismus aussehen, verwandeln sich für Sekunden in Trikoloren bekannter Provenienz. Ach ja, skug ist eher ein Kunst- als ein Sportmagazin. Auf den Salons präsentieren wir nun regelmäßige kleine, feine Artworks (mal mehr, mal weniger zum Thema passend). Also rund um die WM in Katar drehen sich Nationalgefühl und Fußball, Diskriminierung, Arbeiter*innenrechte und die Frage, was kann Aktivismus dagegen tun. Es gibt wirklich viel zu besprechen beim skug Talk und das werden wir auch in illustrer Runde tun. Wer aller kommt und um was es genau geht, bitte dem Begleitartikel zum Panel entnehmen.
Orangen und Mond
Blood Orange hat irgendwann mal angefangen und sicherlich auch Elliott Smith, die waren ja nicht schon immer da. Aber wie das war, so beim ersten Mal, auf der Bühne? Weiß heute kein Mensch mehr. Wie es bei dem ähnlich talentierten und ganz, ganz großartig tiefsinnige Musik in den Kosmos entlassenden Orange Gone gewesen sein wird, wissen all jene, die es am 7. Dezember 2022 ins rhiz schaffen. skug ist happy over the moon, so einen Newcomer auf den Verbundholzplatten, die die Undergroundwelt bedeuten, begrüßen zu dürfen. Als Orange Gone macht Maximilian Mrak seit 2017 Musik – und wird deshalb folgerichtig als der Sufjan Stevens des Weinviertels bezeichnet. Gerade erschien mit »Our Waltz Beneath the Light« ein neues Album von Orange Gone, das bis 7. Dezember, Geisterstunde, nur ein paar Freund*innen und seiner Mutter bekannt sein wird. Diese (relative) Unbekanntheit darf als wohl größte Frechheit der österreichischen Musikszene seit Lederjacke und Bologna bezeichnet werden. Wie sich das jetzt ändern soll, wer seinetwegen schon geweint hat und warum man sich sowohl Drop als auch Deep-Listening erarbeiten muss, erfahren wir bei der Live-Premiere. Zum Vorträumen geht’s hier:
Marion Ludwig aka Nella Lenoir schafft es durch ihre Musik, den*die Hörer*in auf den Mond zu beamen und gleichzeitig tief in sich hineinschauen zu lassen. Dazu trägt die Wiener Musikerin Rollkragenpullover und goldene Casios und veranlasst zwischen Fassaden und tickenden Uhren, verträumt in die Ruhe zu lauschen. Sie beherrscht den Dialog zwischen innerer, zuvor digital festgehaltener Stimme, zweifelnd-grüblerischem Gesang und dem Takt durch den gebastelten Beat meisterlich. Die ursprünglich aus Freiburg stammende Künstlerin erweckt durch ein fein geknüpftes Netz aus intelligenten Texten und melodischen Synthsounds eine Sehnsucht, die genauso aufdringlich wie geduldig an die Tür des Oberstübchens klopft. My skull might not be bigger than a Vogelhäuschen – but there is a whole universe inside. Hier die ausführliche Werkeinführung:
So viel Diskurs, Videokunst und tiefschürfende Live-Musik. Abschließend wird es dann Zeit für DJ Cristinho, der erstmals in der skug DJ-Line Tanzimpulse auf die Tanzfläche schmettern wird. Übrigens, wir starten diesmal zeitig, also bitte beim Salon skug am 7. Dezember 2022 wirklich um 19:30 Uhr zum skug Talk auftauchen, wer diesen nicht verpassen will. Wir freuen uns auf euch!