… Die Form und die Voraussetzungen. Kann ich gehen, und wenn ja, mit welchem Ziel? Ist auch das Konzert zum Ort der Verifikation geworden (Ich verifiziere ohne Risiko. Das ist quasi die Definition der ganzen Kultur)? Ist es in den letzten zwei Jahrhunderten als ein anderer sozialer Ort erfunden worden, und wenn ja, für wen? Man kann ja auch nur so kommen, mit den Händen in der Tasche, ohne Apriori und ohne Trompete. Vielleicht könnte man im Code der Malerei sagen, dass Jim Hall die Töne von Renoir und Monet dort hat, wo Rowe sich mit Rothko und Twombly vergleichen lässt? Das 19. liegt immer vor dem 20. Jahrhundert, was sich aber auch wiederum auf nichts reimt. Jim Hall spielte im Duo auf der Bühne des Porgy & Bess, während Keith Rowe im Rahmen der AMM auftrat, indes allein und im Project Space der Kunsthalle Wien. Zwei Orte mit Geschichte, Gepflogenheiten und Programm. Dennoch sah ich letzten Sommer Anthony Braxton solo im Porgy & Bess, und dieser Abend schwirrt mir immer noch im Kopf herum. Ist es vielleicht ein Ort der Erinnerung? Ja, sicherlich. Ein multipler Ort auf jeden Fall (Geschichte, Aktualität, Territorialität, ganz verschiedene Stile und ganz verschiedene Nächte). Die grundlegende Frage wird aber von niemandem mehr gestellt: Sollen wir diese zwei Künstler, diese zwei Riesen, die die Geschichte des Jazz und der Improvisation kennzeichnen, sollen wir diese mit ganzen Wagenladungen von mechanischen Begleitern ausgestatteten Individuen gemeinsam assoziieren, dissozieren und hören? Oder sollen wir sie eher getrennt von einander nehmen? Lebendige Musik gibt mir immer ganz direkt zu denken. Das ist wie bei einem Intensitätszeichen, je mehr es improvisiert, desto mehr denkt es, desto mehr induziert und unterstellt es.
Die Ideen folgen einander in Realzeit und nehmen einzig und allein die Richtung der Musik an. Bitteschön, man sagt es nicht oft genug: das Dispositiv des Spiels setzt ein. Ich sage das nur so, denn man möchte meinen, dass Sie sehr genau wissen, wer Hall und Rowe sind. Das ist zwar nicht ganz sicher, aber auch im Nicht-Wissen liegt eine Chance. Im Grunde genommen geht es um die Idee des Allgemeinen, im kritischen Sinn, und um das Mögliche. Die Kritiker predigen Ihnen Werke, die Sie sich gar nicht angehört haben, ohne Lesen oder Hinschauen, und dann reden Sie Ihnen auch noch Künstler ein, die Sie gar nicht kennen. Und ich komme auf Derrida zurück: »Man kann der »anachronistische« Zeitgenosse einer vergangenen oder künftigen Generation sein.« Das ist der Ort, den ich voll und ganz bewohnte, sofern man mich nicht dazu gezwungen hat, einen einzigen zu wählen. Ich muss Ihnen trotzdem ein bisschen etwas von Jim Hall und Keith Rowe erzählen. Die beiden sind Gitarristen, sie haben das Spiel transformiert und damit einen Spielmodus für alle gefunden, der sogar jenseits des Stils liegt. Eine Position des Ethos – ohne Zweifel. Spielen heißt, zum Thema zurückkommen. Heißt, bereit sein, alles zu verlieren, ohne je mit dem Spielen aufzuhören. Ein Laufen lassen … aber Vorsicht … niemals Gehen lassen. Beide führen einen einzigartigen Stil vor, so wie wenn man eine Farbe auf ein Bild schleudert (das ein Entwurf, eine Leinwand oder ein Gemälde sein kann). Beide haben eine radikale Art für sich zu spielen. Aber das ist nicht das Wichtigste. Das Wichtigste – und deshalb verbinde ich die beiden miteinander – ist das Niveau ihres Einsatzes im Spiel (man irrt sich, wenn man bei Clausewitz die Terminologie für das Herz des Individuums sucht!) Geringes Risiko, geringes Spiel. Und je geringer die physische Unterstützung, desto geringer auch das mögliche Risiko. Die lebendige Musik wird niemals ein Konzept oder eine Präsenz sein, die den Platz und die Rolle der Partizipierenden in Frage stellt. Und deshalb partizipieren wir alle. Kommen wir darauf zurück. (Ich möchte mich an dieser Stelle bei den Organisatoren bedanken, die uns all‘ das Tag für Tag möglich machen.). Jim Hall am Dienstag und Keith Rowe am Samstag, das war eine schöne Woche im September.
Riesen des Jazz und der Improvisation
Straßenkarte. Beinahe: Nachtkarte. Schiefer Stil und verwirrte Genres (immer noch besser als verwirrte Stile!) Das Konzert mit all seinen Ritualen und seiner ganzen Welt ...
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