Es muss mindestens vier oder fünf Jahre her sein, dass auf FM4 eine ganz schön durchgeknallte, aber sehr intensive Paraphrase auf Nick Caves Anti-Todesstrafe-Song »The Mercy Seat« zu hören war. Hier hatte einer sich des Themas noch mal mit ähnlicher Empathie wie Cave angenommen, und konnte mit seiner Version dem Original sogar noch unbekannte Nuancen abtrotzen. Die Stimme des Sängers war ungewöhnlich hoch, eher nasal und doch kratzig, und verfügte über ein unmanieriertes Tremolo. Der Todeskampf am elektrischen Stuhl wird in dieser Adaption noch mal glaubwürdig durchlitten und der Ausdruck in der Stimme verriet, dass da einer am Werk war, der emotionale Abgründe nicht nur vom Hörensagen kennt. Weiters konnte man erfahren, dass es sich um einen jungen Exil-Kärntner in Wien handelte, dem schon ein gewisser Ruf als exaltierter Performer vorauseilte.
Hirnlose fliegende Objekte
Neben unregelmäßigen Live-Shows in den abenteuerlichsten Kontexten (so war der Sir über längere Zeit in diversen europäischen Ländern als Entertainment-Geiger in Irish-Pubs unterwegs) entstand in weiterer Folge die CD »Flying Objects, They Don’t Have A Brain«, die zwar von der Kritik registriert, aber noch nicht mit der erhofften Begeisterung aufgenommen wurde. Zu verstörend-destruktiv klang dieser Erstling vordergründig, man meinte eher sich Sorgen um das Seelenheil des Sir Tralala machen zu müssen. Und doch hatte bereits diese CD unter der lärmend-krachigen Hülle eine sehnsüchtige Suche nach Auswegen als Fülle. Das Leben als Musiker/Künstler habe ihn finanziell nicht nur einmal an den Rand des finanziellen Abgrunds getrieben, erzählt der Sir im Interview. Deshalb hatte er bis vor kurzem nicht mal eine eigene Wohnung, sondern steuerte das »Raumschiff Tralala« aus einem kleinen Gassenbüro im neunten Wiener Gemeindebezirk, selbstverständlich ohne funktionierende Heizung. Immerhin, das Wohnungsproblem hat sich mittlerweile lösen lassen.
Bluesrock vor Filzbärten
Ansonsten sei er in einer sehr musikalischen und freigeistigen, politisch eindeutig im linken Lager angesiedelten Familie aufgewachsen (sein Bruder Rudy spielt bei der Wiener Formation Go Die Big City und tourte mit den kanadischen Hidden Cameras). Als Kind lernte er zunächst die unvermeidliche Blockflöte, dann, mit mehr Enthusiasmus, die Violine (mit der inzwischen auch die Journalistenkapelle Neigungsgruppe Sex, Gewalt Und Gute Laune unterstützt wird) und schließlich landete er als Bassgitarrist in Bluesrockbands, mit denen oft Ansammlungen von polternden und filzbärtigen Bikern unterhalten wurden. Gegen 1.000 Auftritte will er schon absolviert haben, angesichts seiner relativen Jugend eine beeindruckende Zahl. Für längere Zeit wurde die Tagesfreizeit des Sir durch den Besuch der Sozialakademie empfindlich eingeschränkt, die Bürde eines formalen Abschlusses wollte er dann aber doch nicht auf sich nehmen. Aber zurück in aktuellere Gefilde.
Große Ambitionen
Vor etwa einem halben Jahr erschien mit »This Kiss Could Tease« auf sea you-records die limitierte Vinyl-only-EP (weißes Vinyl!) als Appetizer für das bereits lang überfällige Album, und das Titelstück, das die Ouvertüre von »Escaping Dystopia« (»ED«) werden sollte, verblüffte zuerst als etwas, mit dem man vom kauzigen Sir sicher nicht gerechnet hatte. Es handelt sich um ein fast zehnminütiges, auf den ersten Blick mindestens größenwahnsinniges Klavieropus, komponiert nach allen Regeln der klassischen Orchesterwerke, in mühevoller, zweijähriger Kleinarbeit am Laptop zusammengestoppelt. Und wie der Sir in diesem Zusammenhang von den Klängen verschiedener Streichtechniken der Geige und dem Aufwand, das alles elektronisch in Form zu bringen, erzählt, ist in seinen Augen das Funkeln des Besessenen zu erkennen, der genau weiß, was er künstlerisch erreichen will, und dafür keinen Aufwand scheut. »This Kiss Could Tease« sei ein Stück, mit dem er sich als ernsthafter Komponist etwas beweisen wollte, und das unbedingt, wie ohnehin das gesamte »ED«-Album, noch mit Orchester auf die Bühne müsse. Festivaleinladungen seien in diesem Fall willkommen. Neben dieser kompositorischen Tour de Force enthält die die EP noch ein älteres Stück aus 1999, den herzzerreißenden Popsong »37°«, und eine wieder mal emotional bedrohlich aufgeladene Version des Lou-Reed-Klassikers »Heroin«, live aus dem Wiener rhiz. Neben der gesamten Komposition und Programmierung besorgt der – im Interview übrigens sehr auskunftsfreudige und zuvorkommende Sir – noch die grafische Gestaltung der Covers, und die Produktion des trashigen Videos zu »pathetic defense« konnte er sich auch nicht verkneifen. Diesen Aktivitäten wird übrigens eine weitere folgen: Für das Musik
forum Viktring wird der einfallsreiche Sir vom 11.-18. Juli 2009 einen Workshop für Songwriting betreuen (schon wieder auf den Spuren von Nick Cave!) und dabei dem einen oder anderen Teilnehmer zeigen, wo der Bartl den Most herholt.
Opus Magnum sucht Orchester
Womit wir endlich beim Opus Magnum angekommen wären, hinter dessen düsterem Cover man auch eine neuseeländische Doom-Metal-Combo vermuten könnte. »Dystopia« im Albumtitel steht für das Gegenteil von Utopia, wohin – im besten Fall – die Flucht aus Dystopia führen soll, wie auch immer die Sir Tralala’sche Utopie im Detail beschaffen sein mag. Zunächst befindet man sich mit »dem buam sei gruam« noch mindestens bis zum Hals in dystopischer, ja klaustrophobischer Stimmung, die sich im folgenden »pathetic defense« in Richtung einer ausgewachsenen Paranoia verschiebt. »hymne wider die macht – die macht ist eine diva« transportiert Systemkritisches in Gestalt eines bizarren Kunstliedes, und »das heidenröslein« (mit gesanglicher Unterstützung von Frau Herz, mit der Hebenstreit auch den monatlichen Club »Popkulturgemüsebeet« im rhiz betreibt) borgt bei Schubert und Goethe, bringt im Gegenzug aber eine fulminante Stromgitarre ins Spiel.
From the dark into the light
Das Titelstück als nächstes reißt die bedrückende Szenerie klar auf und der Hörer spürt förmlich das Gewicht von den Schultern weichen, wenn »Escaping Dystopia« tänzelnd, fast schon leichtfüßig eine kinderliedartige Melodie anstimmt. ?berhaupt kristallisieren sich die Melodien auch nach oftmaligem Hören als erstaunlich abnützungsresistent heraus. An dieser Stelle schließt sich auch ein Kreis, weil ein Motiv aus »This Kiss Could Tease« wieder aufgegriffen wird. Das Pendeln zwischen den Sprachen stört nicht im Geringsten, und mit verstärkter Rotation des Albums ist auch der ausgefeilte Perfektionismus in Komposition und Sounddesign immer deutlicher zu erkennen. Ein wenig erinnert der vordergründig räudig-renitent aufspielende leptosome Maniac an den jungen Inspector Columbo, der in einer Folge in einem Arbeitsvermittlungscenter ermitteln muss, wo deren Angestellte ihm sofort und ungefragt eine Stelle als Nachtportier anbieten. Soll heißen, dass der erste flüchtige Eindruck von Sir Tralala die tief empfundene Ernsthaftigkeit seiner künstlerischen Arbeit konterkariert. Vielleicht steckt ja auch ein wenig Strategie dahinter (was ich aber nicht vermute), wirkt doch schon Sir Tralala als Pseudonym fast wie ein Ablenkungsmanöver.
Wieder in die raue Wirklichkeit entlassen wird man schließlich mit »the night you make me cry«. Und das mit für den Sir sentimentalen Tönen, wobei auch das Ende kein glückliches ist. Das Zwischenmenschliche neigt dann doch in den meisten Fällen zu Tränen des Schmerzes, und nur selten zu denen der Freude. Sir Tralala hat mit »ED« sicher nicht das popmusikalische (Pfauen?)Rad neu erfunden, trotzdem ist das Album mit seinen nur ca. 40 Minuten Laufzeit, seiner inneren Geschlossenheit und Konsequenz ein sensationeller Wurf in seinem Genre.
»Escaping Dystopia« (seayou-records/Trost)