Journalistin, Autorin, Songwriterin, Sängerin, Produzentin, Clubbetreiberin, Dokumentarfilmerin, Bloggerin, Regisseurin, Moderatorin, Professorin … Viven Goldman hat in ihrem Leben vieles erreicht. Dass sie jedoch den Titel »Musikerin« tragen würde, hätte sie als junge Journalistin Mitte der 1970er-Jahre nie gedacht. Damals – Goldman hatte gerade angefangen, als Redakteurin für das Underground-Punk-Magazin »Sounds« in London zu schreiben – waren Frauen im Großteil der Musikszene noch undenkbar. Jedenfalls dann, wenn sie sich nicht den patriarchalen Strukturen im Business unterwarfen. Eine Unmöglichkeit, die sich in den Köpfen junger Frauen eingeschrieben hatte – auch in Goldmans.
Ein augenöffnender Konzertbesuch
Bis zu dem Moment, als sie das erste Mal eine Frau auf der Bühne sah. Die Power-Chords-spielend mit ihrer Gitarre abrockte. Eye-opening! Als dieser »Schock«, wie Goldman schreibt, endlich verdaut war, veröffentlichte sie im »Sounds«-Magazin ihre erste Story über »Women in Rock«. Den Artikel beschreibt sie als Startschuss ihrer Reise zum Schreiben des Buches »Revenge of the She-Punks« (»Die Rache der She-Punks«, 2021 auf Deutsch erschienen bei Ventil Verlag). Der Konzertbesuch, bei dem sie zum ersten Mal eine Frau auf der Bühne sah, kann auch als der Beginn ihrer eigenen Musikkarriere betrachtet werden – erst als Sängerin der New-Wave-Band The Flying Lizards, später als Solokünstlerin, Songwriterin und Produzentin. Denn ohne Vorbild wäre womöglich auch für sie eine weibliche Punkerin undenkbar geblieben.
»Als ich das Buch schrieb, überkamen mich Wutgefühle, die ich mein ganzes Leben unterdrückt hatte«, erzählt Goldman auf der Lesung. »Revenge of the She-Punks« meine dennoch keine zerstörerische Rache, sondern vielmehr: dass Frauen denselben Zugang erhalten wie männliche Musiker, ihre eigene Musik machen und so aussehen und klingen können, wie sie möchten – ohne, dass es ihrer musikalischen Karriere schadet. »Identity« heißt der Song, der die Lesung von Goldman einleitet. »Identity« ist auch Titel des ersten Kapitels des Buches, das sich in vier Themenfelder unterteilt: Identität, Geld, Liebe und Protest.
Die weibliche Identitätskrise
In »Identity« singt Poly Styrene, Sängerin der britischen Female-fronted Punk-Rock-Band X-Ray Spex: »Identity is the crisis, can’t you see?« Styrenes Tochter wird Goldman Jahrzehnte nach Veröffentlichung des Songs von den Erfahrungen erzählen, die ihre Mutter zum Liedtext inspirierten: Der Tag, an dem sie im Londoner Punk-Laden Seditionaries eine Verkäuferin auf der Toilette mit aufgeritzten Pulsadern vorfand. Ihre Suche nach Zugehörigkeit als Mixed-race-Kind eines somalischen Vaters und einer britischen Mutter. Der Tribalismus britischer Jugendlicher, die sich durch Kleidung von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzen wollten, nur um innerhalb ihrer eigenen kleinen Gruppe der Konformität anzuhängen.
Die Frage »Wer bin ich?« trieb Goldman zufolge nicht nur Poly Styrene an. Sie vereint Frauen auf der ganzen Welt. Auch das ist ein Versuch, den Goldman in ihrem Buch unternimmt. Bei der Lesung erzählt sie: »Meine Absicht war es, herauszufinden, was uns verbindet, wo wir uns unterscheiden und wie unsere Musik dies zeigt.« Über einen Zeitraum von zwei Jahren sprach sie darüber mit Musiker*innen und schaute dafür auch über den westlichen Tellerrand.
Punk, Protest und Revolution
Nach Tschechien zum Beispiel: Bands wie Zuby Nehty – mit deren Song »Sokol« (zu Deutsch: »Falke«) Goldman den zweiten Part der Lesung einleitet – mussten wegen staatlicher Kontrolle unter dem Radar fliegen. In »Sokol« heißt es: »Er steht vor dem Haus … Dann winkt er hoch, komm runter / Ich bin hier eingesperrt / Ich kann nirgendwo hin / Draußen fällt der schwere Schnee / Er kann nirgendwo hingehen«. Bandmitglied Marka Miková verarbeitet darin das schmerzliche wie schöne Freiheitsgefühl von Eltern, deren Kinder gerade das Haus verlassen. Er handelt aber auch – deutlich uneindeutiger – vom Leben in einem autoritären Regime, das die Bewegungsfreiheit seiner Bürger*innen einschränkt. Eine Erfahrung, die auch rebellische Musiker*innen in Tschechien machen mussten: Nach dem Prager Frühling kamen viele von ihnen ins Gefängnis.
»Protest« heißt das Buchkapitel, das sich nicht nur Zuby Nehty widmet, sondern auch Bands wie Fértil Miseria aus Kolumbien. Ihr Song »Visiones de la Muerte«, den Goldman in ihr Buch sowie ihre Compilation aufgenommen hat, zeigt: Punk ist nicht nur, »sich mit den eigenen Kumpeln in die Haare zu kriegen, eine Flucht in einen jugendlichen Dauertraum.« Punk verkörpert für viele Musiker*innen mehr als das, nämlich: Überleben! »Ich höre dich flüstern: Geh nicht weg, stirb nicht! … / Deine Eltern, deine Familie, werden ohne dich / Nicht widerstehen können / Und ich will nicht mehr zurück«, singen Fértil Miseria in »Visiones de la Muerte«. Der Song ist eine Reflexion über die Angst in einer Gesellschaft, in der die Gefahr eines gewaltsamen Todes ständiger Begleiter ist. Fértil Miseria verstanden sich als politische Akteur*innen. Bei Konzerten sammelten sie Spenden für Bedürftige. In ihren Texten riefen sie auf zu Solidarität, Hilfsbereitschaft, menschlichem Bewusstsein.
It’s a spirit!
Auf die Frage aus dem Publikum, was »She-Punks« für Goldman bedeute, antwortet sie: »It’s a spirit! Einen Weg zu finden, wie man etwas, das man sagen will, in die Welt hinausbringt!« Das schlagende Herz der Bewegung sei DIY. Denn indem »Selbermachen« im Mittelpunkt des Punk-Genres stand, bot es von Beginn an einen leichteren, gleichberechtigteren Zugang für Musikerinnen. Unabhängig der Meinungen und Machenschaften männlicher Musikschaffender.
Auch deshalb vereint die neu zusammengestellte Compilation, erschienen beim Hamburger Label Tapete Records, nicht nur klassische Punk-Nummern wie Patti Smiths »Free Money«, »Rip Her to Shreds« von Blondie oder »No-One’s Little Girls« von The Raincoats. In »Buffalo Stance« rappt Neneh Cherry auf HipHop-Beats, in »My Jamaican Guy« von Grace Jones trifft Dub auf Reggae auf karibische Einflüsse. Und der Dancehall-Track »Welcome to the Rebelution« der jamaikanischen Reggae-Künstlerin Tanya Stephens leitet die erste der insgesamt vier LPs sogar ein.
»Ich wollte das Buch schreiben, das ich in meiner Jugend gebraucht hätte«, erzählt Goldman. Den Vorschlag des Verlags, eine ledigliche Auflistung weiblicher Punk-Bands zu verfassen, lehnte sie deshalb ab. Ihr Buch soll zeigen, dass Punk für Frauen weltweit nicht nur ein Genre ist, sondern vielmehr bedeutet: Befreiung, Empowerment, Schwesternschaft. Geschichtsschreibung ist für Goldman das Tool, um Frauen auch über Generationen hinweg zu verbinden: »Herstory«, nennt sie das. Wer sich durch die vier LPs der Compilation »Revenge of the She-Punks« hört, der wird diesen Spirit fühlen. In jedem Track, jedem Songtext, jedem Sound steckt ein kleines Stück Revolution.
Link: https://www.tapeterecords.de/artists/va-revenge-of-the-she-punks