In einer Triangel aus russischem Staat unter der Regierung von Vladimir Putins Jedinaja Rossija, orthodoxer Kirche und nicht zuletzt der aggressiven Investitionspolitik des globalen Kapitalismus erstreckt sich jenes unwegsame Terrain, auf dem sich die russische Kunstszene der Gegenwart zu entwickeln versucht. Die Inhaftierung der drei Pussy Riot-Mitglieder 2012 oder die über Jahre dauernde Verfolgung der Beteiligten an der Ausstellung »Achtung! Religion« im Sacharov Zentrum (2003), das sind die nach außen transportierten Zeichensetzungen massiver inhaltlicher Repression. Hinzu kommt der Thrill des immer noch Exotischen, der Ausstellungen aktueller russischer Kunst in europäischen Institutionen anhaftet, oder das Oligarchen-Klischee, das in Interviews mit Ekaterina Semenikhin, der Begründerin der gleichnamigen Ekaterina Foundation ins Spiel gebracht wird.
Gerade mit ihrem finanziellen Potential aber unternimmt die Ekaterina-Foundation den Versuch, neben verschiedenen Projekten zu Tendenzen westlicher Entwicklungen, wie etwa zu John Cage, Valie Export oder Robert Wilson, auch – neben ziemlich populären Ausstellungen wie zum Thema »Element Wasser in der Kunst« – die russische Avantgarde des 20. und 21. Jahrhunderts aufzuarbeiten. Bei der Verwirklichung derart umfangreicher Rechercheaufgaben kommt die etablierte Kulturstiftung, die mit zahlreichen Museen zusammenarbeitet, nicht darum herum, ihr Netzwerk mit den Szenen zu erweitern. Keine Ausnahmeerscheinung übrigens, wie sich anhand des Wiener Aktionismus und der Aufarbeitung von Fluxus oder Body-Art, ja sogar anhand der Geschichte des New Museum in New York nachzeichnen ließe.
Signifikant für die sogenannte russische Kunst nach 1989 jedoch ist, dass deren Strukturen in Vladimir Dubossarsky and Alexandr Vinogradov: »Inspiration«, 2000, courtesy XLProjects 49 Moskau größtenteils aus alternative spaces heraus entstanden, die später zum Teil in Galerien transformiert wurden. Wegen der Abwesenheit staatlicher Unterstützung hatte dies zur Folge, dass zentrale Momente der Entwicklung zeitgenössischer Kunst grundlegend von privaten Institutionen getragen wurden, welche die Funktion experimenteller Räume hatten. Aus der Dynamik der Kollaboration mit speziellen KünstlerInnen, Gruppen und Szenen formulierten die involvierten KuratorInnen und KünstlerInnen die Charakteristik solcher Kunsträume. Besondere Rücksicht auf Begehren des Marktes oder kommerzielle Erfolge brauchten sie in den Anfangsjahren kaum zu nehmen. Ebenso wie die Öffentlichkeit für aktuelle Kunst kaum vorhanden war, gab es in den Anfangsjahren auch keine nennenswerten SammlerInnen. Von so etwas wie Kunstmarkt, der die lokale Szene berücksichtigt hätte, lässt sich ansatzweise erst seit den letzten zehn Jahren sprechen. Umso mehr ging es um starke kuratorische Statements.
Selbstheroisierung oder kritische Bearbeitung
Natürlich kann diese These leicht in eine ideologisierte Selbstheroisierung münden. Sie eignet sich dennoch als Ausgangspunkt für ein Modell der kritischen Bearbeitung der jüngsten russischen Kunstgeschichte. In zwei aufeinanderfolgenden Teilen wird nun die Atmosphäre der 1990er Jahre und dann des Jahrzehnts danach durch eine Reinszenierung von typischen Ausstellungssituationen jener Zeit, die wiederum als typisch für die Geschichte bestimmter Kunstorte gelten sollen, aufgearbeitet und aus heutiger Sicht zur Debatte gestellt. An diese kritische Recherche angebunden, sind wiederum drei geplante Bücher.
Der erste Teil von »Reconstructions« brachte Projekte aus Moskauer Kunsträumen wie Regina, Krokin oder der 1993 gegründeten XL Gallery, deren Leiterin Elena Selina diese Ausstellung nun kuratierte. Der Weg zurück führte aber auch in längst geschlossene Kunsträume wie L-Gallery, 1.0 oder Schule. Das alles klingt zunächst relativ strukturiert und geordnet. Doch die KünstlerInnen gaben sich nicht immer so. Neben Tendenzen des auf Sprache und formalen Operationen basierenden Konzeptualismus eines Andrey Monastyrsky lässt die Ausstellung auch den Aktionismus, die Energie des Umstürzlerischen und die Arbeit mit dem rohen Material wieder aufleben, wenn Dimitry Gutov in seiner Raumarbeit »Over the Black Mud« (1994) jetzt in dem von der Straße aus einsehbaren Erdgeschoßraum der Ekaterina Foundation (offenbar einem ehemaligen Geschäftslokal) das Publikum auf Holzpanelen über feuchte Erdmassen führt, um seine kleinen an die Wand gelehnten Bilder, die an die »glorreichen« 1960er Jahre erinnern sollen, zu entdecken. Eine subversive Ironisierung des Kunstraumes und der russischen Kunstgeschichte.
Sukzessive Globalisierung
Natürlich fehlen auch Dokumentationen in Video und Fotografie des früher nackt als beißender Hund performenden Oleg Kulik nicht. Die Gruppe Voina oder Pussy Riot werden im Katalog als zeitgenössische NachfolgerInnen in dessen Tradition gestellt. Heute konzipiert Kulik esoterisch anmutende Fotoarbeiten mit Mensch-Unterwasser-Motiven. Eine seiner Ausstellungen damals in der Regina Galerie hatte er nach Monastyrsky als Ober-Guru der Konzeptkunst benannt und den Galerieraum mit allem möglichen Dreck und Gerümpel von der Straße befüllt: mit Stöcken, mit Logos, Leitplanken und zuletzt mit Erde von einer Baustelle.
Ziemlich beeindruckend und typisch ist eine Intervention mit Ruß an der Wand von Valery Koshlyakov und Yuri Shabelnikov aus der Guelman Galerie (1995). Das Abgebrannte über die alten Strukturen. Auch so prominenter Künstler wie Ilya Kabakov oder Dubossarsky und Vinogradov fehlen nicht. Wie Medien und Sound Einzug hielten, manifestiert sich in einer Fax-Arbeit von Joseph Backstein oder der Installation »Vinyl Bones« im Rahmen einer Gruppenausstellung der XL Gallery (1999); entstanden unter dem Einfluss von Rave und den Zeitrahmen dieses Projekts bereits aufsprengend. Fast könnte man meinen, eine Transformation eines Konzepts von Christian Marclay. Und vielleicht einer der Wendepunkte, wie sich bald zeigen sollte. Diese kritische Sichtung führt vor, wie sehr die ersten Jahre des Aufbruchs noch an die lokalen Konzepte anschlossen und die Situation der im Umbruch befindlichen russischen Gesellschaft reflektierten, während die jüngeren Szenen heute kaum noch in solchen Idiomen verwurzelt sind. Die Frage drängt sich auf, wie weit der Prozess der Internationalisierung Verwestlichung bedeutet in einer Gesellschaft, die nun unter dem Paradigma eines extrem aggressiven Kapitalismus steht. Ein Stück näher in die Gegenwart der neuen ökonomischen Gegensätze und der Globalisierung Moskaus dürfte nun der zweite Teil des Projekts rücken. Die Katalogreihe ist auf drei Bände projektiert. Bereits Band 1 erweist sich als zentrales Werk der aktuellen russischen Kunstgeschichte. Der zweite Ausstellungsteil von »Reconstructions« wird im Jänner 2014 eröffnet.
RECONSTRUCTION. PART II
24. 1.-23. 3. 2014
CULTURAL FOUNDATION EKATERINA Moskau
www.ekaterina-fondation.ru